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Auslandschweizerin hat keinen Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen

14.01.2019

(Sachverhalt mehrheitlich von Schutzfaktor M übernommen)

Die Invalidenversicherung darf die Zahlung einer ausserordentlichen Rente an eine bei ihrer Mutter im Ausland wohnende, volljährige Schweizerin verweigern. Es liegt weder eine Verletzung des Rechts auf Familienleben noch eine Diskriminierung vor.

Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil vom 11. Dezember 2018 (Nr. 65550/13). Die Beschwerdeführerinnen, eine Frau mit einer Hörbehinderung und ihre Mutter, hatten argumentiert, dass die Tochter aufgrund ihrer Abhängigkeit von einer ausserordentlichen Invalidenrente gezwungen werde, in der Schweiz zu leben. Dadurch werde ihnen die Ausübung eines gemeinsamen Familienlebens in Brasilien verunmöglicht. 

Die Richter/innen des EGMR halten in ihrem Entscheid fest, dass die ausserordentliche Invalidenversicherung zum Ziel habe, den Begünstigten ein möglichst selbständiges Leben zu ermöglichen. Die Aufhebung der Leistungen aufgrund des Lebensmittelpunkts im Ausland falle somit nicht in den Anwendungsbereich des Rechts auf Privat- und Familienleben. Was die Ungleichbehandlung von ausserordentlichen und ordentlichen Renten betreffe, sei diese gesetzlich vorgesehen und durch das Solidaritätsprinzip gerechtfertigt.

Sachverhalt

Bei den Beschwerdeführerinnen handelt es sich um A.M.B., 56 Jahre, und ihre 79-jährige Mutter und Vormund C.A.M. Beide sind schweizerische Staatsangehörige und wohnen in Armaçao Dos Buzios in Brasilien. A.M.B. ist seit Geburt gehörlos und bezog ab dem Jahr 1980 eine ausserordentliche Rente der schweizerischen Invalidenversicherung und ab 1997 eine Hilflosenentschädigung bei mittlerer Hilflosigkeit.

Beide Leistungen wurden 2010 aufgehoben, da A.M.B. mit ihrer zwischenzeitlich von ihrem Vater geschiedenen Mutter und deren neuem Ehemann in Brasilien lebte. Der Verwaltungsentscheid wurde letztinstanzlich vom Bundesgericht bestätigt (BGE 139 I 155). Die Aufhebung der ausserordentlichen Rente und der Hilflosenentschädigung falle nicht in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Beide Leistungen hätten nicht den Zweck, das Familienleben zu begünstigen oder auf persönliche oder familiäre Beziehungen einzuwirken, weshalb sich die Frage nach einer Diskriminierung im Sinne von Artikel 14 EMRK nicht stelle.

Da bisher kein Sozialversicherungsabkommen mit Brasilien in Kraft getreten ist, richten sich die Leistungsansprüche von A.M.B. nach schweizerischem Landesrecht. Danach haben invalide Versicherte Anspruch auf eine ordentliche Invalidenrente, die bei Eintritt der Invalidität und damit einhergehender Erwerbsunfähigkeit während mindestens drei Jahren Beiträge an die Invalidenversicherung geleistet haben; die Beitragspflicht beginnt grundsätzlich mit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit beziehungsweise dem 20. Altersjahr. Versicherte, die nicht während eines vollen Jahres der Beitragspflicht unterstellt waren, haben Anspruch auf eine ausserordentliche Rente. Dazu gehören auch Personen, die mit einem so schwerwiegenden Gebrechen geboren werden, dass sie nie am Arbeitsprozess teilnehmen können, wie dies beiA.M.B. der Fall ist. Im Gegensatz zur ordentlichen Rente werden die ausserordentliche Rente und die Hilflosenentschädigung nur ausgerichtet, wenn die Person ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat.

Die Beschwerdeführerinnen berufen sich auf Artikel 8 EMRK und rügen, dass die strittige Entscheidung ihre Gesundheit sowie ihr Privat- und Familienleben beeinträchtige. Nach Artikel 8 EMRK führen die Antragstellerinnen an, dass die familiäre Bindung zwischen ihnen sehr eng sei und dass A.M.B. bei Einstellung der fraglichen Leistungen verpflichtet wäre, in die Schweiz zurückzukehren. Dort müsste sie weit weg von ihrer Familie leben oder ihre Mutter müsste ihren Mann in Brasilien zurücklassen, um ihr dorthin zu folgen. In Verbindung mit Artikel 8 EMRK machen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Artikel 14 EMRK geltend. Aufgrund der Art ihres Gebrechens könne A.M.B. die Voraussetzungen einer ordentlichen Rente nicht erfüllen und werde gegenüber von Personen, die Beiträge bezahlt haben, benachteiligt.

Urteil der kleinen Kammer

Der EGMR entschied mit sechs zu einer Stimme, dass es im Fall A.M.B. und C.A.M. gegen die Schweiz weder das Verbot der Diskriminierung noch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt werden.

Die Invalidenrente und die Hilflosenentschädigung wurden aufgehoben, weil die im schweizerischen Sozialversicherungsrecht vorgesehene Bedingung des Wohnsitzes in der Schweiz nicht mehr erfüllt ist. Das ist unbestritten. Die Beschwerdeführerinnen machten aber geltend, dass die Leistungen ausnahmsweise weiter ausgerichtet werden sollten, damit Tochter und Mutter beieinander in Brasilien leben können. Bereits das Bundesgericht begründete jedoch – und der EGMR schützt diese Begründung - Zweck der ausserordentlichen Invalidenversicherung sei es, dem oder der volljährigen Begünstigten zu ermöglichen, so weit wie möglich ein selbständiges Leben zu führen, ohne von der Hilfe und Unterstützung von Familienmitgliedern abhängig zu sein. Zweck sei weder die Förderung des Familienlebens noch der Eingriff in persönliche oder familiäre Verhältnisse. Folglich liege keine Verletzung von Artikel 8 EMRK vor.

Der EGMR räumte zwar ein, dass Anspruchsberechtigte einer ordentlichen bzw. einer ausserordentlichen Rente ungleich behandelt werden. Allerdings kam er zum Schluss, dass keine Diskriminierung im Sinne von Artikel 14 EMRK in Verbindung mit Artikel 8 EMRK vorliege, weil ein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Solidaritätsprinzips im Sozialversicherungssystem bestehe. Dieses kann gemäss der Schweizerischen Regierung nur gewährt werden, wenn die ausserordentliche Rente bestimmten Bedingungen wie dem Wohnsitz in der Schweiz unterliegt. Somit sei eine Ungleichbehandlung aufgrund des Versicherungsschemas gerechtfertigt, auch wenn die fehlende Beitragszahlung nicht selbstverschuldet ist.

In der Vergangenheit stützte sich der EGMR auf das erste Zusatzprotokoll zur EMRK vom 20. März 1952, wenn er die Verweigerung von bestimmten Sozialversicherungsleistungen durch andere Mitgliedstaaten in Bezug auf die von der EMRK gewährleisteten Rechte zu überprüfen hatte. Das war beispielsweise im Urteil Moskal gegen Polen vom 15. September 2009 (Nr. 10373/05) der Fall. Das erste Zusatzprotokoll schützt unter anderem das Recht auf Eigentum. Die Schweiz hat das Zusatzprotokolle nicht ratifiziert. Es wäre an der Politik, diese Situation zu ändern.