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Scavuzzo-Hager et al. gegen die Schweiz

Verletzung der verfahrensrechtlichen Verpflichtungen von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben)
Urteil vom 7. Februar 2006 (in Französisch, pdf 27 S.)

Zusammenfassung:

Die erstmalige Verurteilung der Schweiz wegen einer Verletzung von Art. 2 EMRK geht auf eine Festnahme mit Todesfolge durch die Tessiner Kantonspolizei zurück. Im Juli 1994 wurde X. beobachtet, wie er auf einem Baugerüst herumkletterte. Während eine Bewohnerin des eingerüsteten Hauses X. durchs Fenster in die Wohnung liess, rief eine andere Bewohnerin die Polizei. X. willigte zunächst ein, mit der Polizei mitzugehen, entkam dann jedoch durch das wegen der Hitze geöffnete Autofenster. Ein Polizist setzte ihm nach, vermochte aber den sich stark wehrenden X. nicht alleine festzuhalten; ein zweiter Polizist sowie ein Mieter des betreffenden Gebäudes eilten ebenfalls zu Hilfe. Plötzlich verlor X. das Bewusstsein. Die Polizisten informierten umgehend die Sanitätspolizei sowie den Notarzt und brachten X. in Seitenlage. X. konnte von den Rettungsdiensten erfolgreich wiederbelebt werden, doch verlor er auf dem Weg ins Spital erneut das Bewusstsein und verstarb drei Tage später im Spital.

In der Folge eröffnete der Staatsanwalt eine Untersuchung, in deren Rahmen die beiden Polizisten, welche X. festgenommen hatten, die Mutter von X. sowie drei Mieter vernahmen. Zwei der Mieter sagten aus, dass X. von den Polizisten nicht geschlagen worden sei, als er bereits am Boden gelegen habe. Zudem sei X. in einem erbärmlichen physischen Zustand gewesen. Daraufhin erstellte die Polizei einen Bericht, in dem der Tod von X. als natürlicher Tod bezeichnet wurde. Der Bericht des kantonalen pathologischen Institutes kam zum Schluss, dass der Tod auf übermässigen Drogenkonsum zurückzuführen sei. Daraufhin wurde das Verfahren eingestellt, da der Tod von X. nicht Dritten zugerechnet werden könne.

In der Folge reichten die Eltern und der Bruder von X. – die Beschwerdeführer im Strassburger Verfahren – eine Schadenersatz- und Entschädigungsklage gegen den Kanton Tessin ein. Ein beim Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich in Auftrag gegebenes Gutachten kam zum Schluss, dass X. an multiplem Organversagen als Folge einer drogenbedingten Hyperthermie und Nierenversagens gestorben sei. Das Gutachten teilte indes nicht die Ansicht des kantonalen pathologischen Institutes, wonach der Tod auf übermässigen Drogenkonsum zurückzuführen sei. Vielmehr führte das Gutachten aus, dass die Bewusstlosigkeit von X. auf die körperliche Anstrengung eines geschwächten Körpers zurückzuführen sei. Dabei erwähnte das Gutachten in der Literatur beschriebene Fälle, in denen Personen im Rahmen einer Festnahme gestorben seien, insbesondere wenn sie mit dem Bauch auf den Boden gedrückt und ihre Hände auf dem Rücken zusammengehalten werden. Gleichzeitig führte das Gutachten aber auch aus, dass die beiden Polizisten wohl kaum das Leben von X. hätten retten und auch den labilen gesundheitlichen Zustand von X. nicht hätten erkennen können.

Da die Schadenersatz- und Entschädigungsklage abgewiesen wurde, reichten die Beschwerdeführer beim EGMR eine auf Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Verbot von Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung) und Art. 6 EMRK (Fairness des Verfahrens) gestützte Individualbeschwerde ein.

Der EGMR prüfte zunächst die Vereinbarkeit der Handlungen der Polizisten mit Art. 2 EMRK. Er betonte, dass es sich vorliegend um eine unabsichtliche Tötung im Zusammenhang mit einer Festnahme handle und somit Art. 2 Abs. 2 lit. b EMRK anwendbar sei. Zur Beurteilung der Konventionskonformität der Gewaltanwendung müsse einerseits die Kausalität zwischen der von den Polizisten angewendeten Gewalt und dem Tod von X. untersucht werden; andererseits sei zu untersuchen, ob die Polizisten die aus dem Recht auf Leben fliessende positive Verpflichtung verletzt hätten, indem sie nicht versucht hatten, X. zu reanimieren. Zur Frage der Kausalität stellte der EGMR mit Erstaunen fest, dass die Frage während der Untersuchung überhaupt nicht geprüft worden war, ob die Gewaltanwendung – die an und für sich nicht übermässig gewesen zu sein scheint – angesichts des Gesundheitszustandes von X. den Tod nicht hervorgerufen oder zumindest beschleunigt hatte. Aufgrund der dem EGMR zur Verfügung stehenden Informationen konnte der EGMR nicht zum Schluss kommen, dass Art. 2 diesbezüglich verletzt worden sei. Art. 2 EMRK betrachtete der EGMR auch nicht dadurch verletzt, dass die beiden Polizisten nicht umgehend mit Reanimationsmassnahmen begonnen hätten. Sie hätten X. vielmehr in Seitenlage gebracht und ohne Verzögerung die Sanitätspolizei alarmiert.

Hingegen erkannte der EGMR eine Verletzung der aus Art. 2 EMRK fliessenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen: aus dem Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK entspringt auch die Verpflichtung, dass eine effektive Untersuchung eines Todesfalles durchgeführt wird, wenn der Tod einer Person durch Gewaltanwendung – insbesondere von Seiten staatlicher Organe – hervorgerufen wurde. Diese Verpflichtung besteht auch dann, wenn nicht nachgewiesen ist, dass der Tod durch ein staatliches Organ verursacht wurde. Die Untersuchung muss zum einen erlauben, die gesamten Umstände des Sachverhaltes zu klären und zum anderen die Verantwortlichen zu identifizieren und bestrafen. Da im vorliegenden Fall die Kausalität zwischen der polizeilichen Intervention und dem Tod von X. nicht Gegenstand einer eingehenden Untersuchung gewesen war und die Untersuchung von den beiden am Vorfall beteiligten Polizisten geleitet wurde, erachtete der EGMR die verfahrensrechtliche Verpflichtung aus Art. 2 EMRK als verletzt.