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Nothilfe - Wie lange noch?

24.08.2015

Anfang Juli 2015 hat sich in der Notunterkunft Ibach (Stadt Luzern) ein Mann das Leben genommen. Er kam vor 12 Jahren in die Schweiz und lebte nach einem abgewiesenen Asylgesuch die meiste Zeit von der Nothilfe. Die Perspektivlosigkeit seines Daseins war von den Behörden gewollt und offenbar ein Grund für seinen Suizid. Nun sind die Kantone und der Bund gefordert, das System radikal zu überdenken.

«Menschenverachtend und krank machend»

Der betreffende Mann lebte über ein Jahrzehnt in der Schweiz. Nachdem sein Asylgesuch abgewiesen worden war und er nicht in sein Heimatland zurückkehren konnte oder wollte, blieb ihm nur das Leben in der Nothilfe. Denn rechtskräftig weggewiesene und damit ausreisepflichtige Asylsuchende haben keinen Anspruch mehr auf Sozialhilfe für Asylsuchende, sondern nur auf die in Art. 12 der Bundesverfassung gesicherte Hilfe in Notlagen. Diese umfasst Unterkunft, Nahrung, Kleidung, die Möglichkeit zur Körperpflege sowie die medizinische Notversorgung.

Die Aktion «Kollektiv ohne Grenzen» macht die Situation in der Nothilfe und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit für den Selbstmord des Mannes verantwortlich. In ihrem vom Luzerner Asylnetz mitunterzeichneten Brief an den Regierungsrat beschreibt das Kollektiv die Situation für Nothilfebezüger/innen als menschenverachtend und krank machend. Wer so vegetiere, lebe in absoluter Perspektivlosigkeit. Die Folgen davon seien Depressionen und psychosomatische Beschwerden.

Ibach: Leben am Rande der Gesellschaft

Im Brief wird kritisiert, dass Nothilfebeziehenden die soziale Teilhabe verwehrt werde und sie sich in einer Parallelgesellschaft befänden. Die unwürdige Wohnsituation sei ein Bestandteil der gesamten Nothilfe-Misere. Demnach leben in der luzernischen Notunterkunft, die sich im Stadtluzerner Industriequartier Ibach zwischen Strichplatz und Kehrichtverbrennungsanlage befindet, eine alleinerziehende Mutter mit einem 3-jährigen Kind und zwei alleinerziehende Väter mit ihren schulpflichtigen Kindern.

Für Personen deren Asylgesuch abgewiesen wurde, besteht keine Möglichkeit zu arbeiten. Auch fehlt es an Unterstützung für Aktivitäten. Sie erhalten täglich lediglich einen Betrag zwischen 4.30 und 12 Franken zum Überleben. Dieser Betrag wird teilweise nicht bar ausbezahlt, sondern erfolgt in Form von Gutscheinen oder Sachleistungen. Laut dem Asylnetz Luzern erhalten Nothilfebezüger/innen in Luzern pro Tag einen Coop-Gutschein im Wert von zehn Franken.

Ein Problem ist zudem die Angst der Nothilfebezüger/innen vor der Polizei und Sicherheitsbeauftragten. Die Behörden dürfen auf der Grundlage von Art. 74 Abs. 1 des Ausländergesetzes Rayonverbote aussprechen, wenn sie die öffentliche Ordnung gefährdet sehen. Menschen in der Nothilfe werden dadurch ein- oder ausgegrenzt. Oft erhalten sie keine Ausweispapiere und laufen Gefahr, regelmässig von der Polizei wegen illegalen Aufenthalts verhaftet zu werden. Nicht zuletzt herrscht innerhalb der Unterkünfte oft ein rigoroses Kontrollsystem, das kaum ein Privatleben zulässt.

Luzerner Regierung soll reagieren

Das «Kollektiv ohne Grenzen» will, dass Nothilfebeziehende am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. So sollen sie beim Deutsch lernen unterstützt werden und arbeiten dürfen. Das Kollektiv verlangt, dass sie eine realistische Möglichkeit erhalten, erleichtert zu einer Aufenthaltsbewilligung zu kommen. Des Weiteren sollen Behörden und Ämter ihnen mit Respekt gegenübertreten und die Menschenwürde achten.

Mit dem Brief wird der Regierungsrat des Kantons Luzern unter anderem dazu aufgefordert, den Todesfall ernst zu nehmen und die notwendigen Massnahmen zu treffen, um die «offensichtlichen Missstände» zu beheben. Im offiziellen Antwortschreiben des Regierungsrates datiert vom 1. September 2015 kommt leider kein Verständnis für die Forderungen des Kollektivs zum Ausdruck. 

Trotz Kritik: Minimalleistungen seit 11 Jahren

Das Nothilfesystem gilt für abgewiesene Asylsuchende und Asylsuchende mit Nichteintretensentscheid. Im vergangenen Jahr haben gemäss Bund 10‘744 Personen Nothilfe bezogen. Dadurch sollen die Asylsuchenden zur Ausreise gedrängt werden. Dieses Ziel wird jedoch nicht in allen Fällen erreicht, etwa wenn Asylsuchende nicht ausreisen können oder wollen. Für sie wird die Nothilfe zur Dauersituation. Zu den Betroffenen gehören auch Familien mit Kindern.

Seit der Einführung des Nothilfe-Regimes für Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid im Jahre 2004 warnen Menschenrechtsorganisationen vor den unmenschlichen Auswirkungen der Minimalversorgung. Dennoch ist das Regime vier Jahre später (2008) auf alle abgewiesenen Asylsuchenden ausgeweitet worden. Zeitweise war gar die Ausdehnung der Nothilfe auf alle Asylsuchenden ein Thema in den eidgenössischen Räten.

Die Zivilgesellschaft bemühte sich derweil aufzuzeigen, wie die Nothilfe grundlegende Rechte von Flüchtlingen verletzt. Kritik kam auch von der UNO und dem Europarat, etwa weil das System dem Grundsatz der Rechtsgleichheit widerspricht oder weil den Bezügern/-innen nicht in allen Kantonen ein ausreichender Lebensstandard und medizinische Versorgung gewährt wurden. Nicht zuletzt hat das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte SKMR in seiner Grundlagenstudie hilfreiche Empfehlungen verfasst. Doch die Behörden haben bis heute in ungenügender Weise auf all diese Empfehlungen reagiert. 

Kommentar: Nothilfe - eine Sackgasse für alle

Der traurige Fall Ibach macht es deutlich: Die Schweiz nimmt in Kauf, dass sich die Leistungsverweigerung auf die Würde und Gesundheit der Nothilfebezüger/innen niederschlägt. Diese Personen sind konfrontiert mit minimalsten Leistungen zum Überleben und maximaler Kontrolle des Privatlebens durch Dritte. Sie sind in der Regel sozial isoliert. Diese schlechte Behandlung ist nach Ansicht von humanrights.ch mindestens in einzelnen Fällen derart schwerwiegend, dass von einer Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlichen Behandlung) gesprochen werden muss. Das Nothilfe-Regime demütigt die betroffenen Individuen, was dazu führt, dass ihre psychische und physische Widerstandsfähigkeit zermürbt werden.

Die Praxis von Bund und Kantonen verletzt grundlegendste Rechte der Betroffenen. Deshalb fordert humanrights.ch, dass das Nothilfe-System sofort gestoppt und schweizweit überdacht wird. Zumindest sind die Behörden angehalten, die Leistungen zu erhöhen, mehr Rücksicht auf die persönliche Situation der Betroffenen zu nehmen und insbesondere dafür zu sorgen, dass die Bedingungen der Unterbringung sowie die Kontrollpraxis nicht gegen Art. 8 EMRK (Schutz der Privatsphäre) verstossen.

Dokumentation

Weiterführende Informationen