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«Maulkorb-Artikel» (Art. 293 StGB) wird nicht gestrichen, aber angepasst

15.08.2017

Nach jahrelangem Ringen um Art. 293 des Strafgesetzbuches (StGB) hat das Parlament im Juni 2017 beschlossen, den Artikel nicht zu streichen, sondern bloss zu revidieren. Dem Entscheid voraus ging eine jahrelange Debatte mit zahlreichen Gerichtsentscheiden und einer Motion, welche die Abschaffung des sogenannten «Maulkorb-Artikels» forderte (siehe unten Vorgeschichte).

Der neue Art. 293 hält fest: «Wer aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, die durch Gesetz oder durch einen gesetzmässigen Beschluss der Behörde als geheim erklärt worden sind, etwas an die Öffentlichkeit bringt, wird mit Busse bestraft.» Darüber hinaus müssen Gerichte neu eine Abwägung zwischen dem Geheimhaltungsinteresse des Staates und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit vornehmen. Damit wird gegenüber dem bestehenden Artikel die besonders umstrittene Passage gestrichen, wonach die Geheimhaltung durch die Behörde «im Rahmen ihrer Befugnisse» erklärt werden kann. Neu kann die Geheimhaltung nur noch «durch Gesetz oder durch einen gesetzmässigen Beschluss der Behörde» erklärt werden.

Vorgeschichte (2006-2008)

Im Folgenden finden sich ältere Artikel auf humanrights.ch zu diesem Thema aus den Jahren 2006 bis 2008, welche in chronologischer Reihenfolge aufgeführt und voneinander unabhängig sind.

Bundesrat will Strafnorm 293 StGB nicht streichen

(Artikel vom 08.05.2008)

Seit rund zehn Jahren streiten die Politiker/innen über Sinn und Unsinn des Artikels 293 des Strafgesetzbuches (StGB). Dieser bedroht mit Haft oder Busse, wer aus amtlichen Dokumenten Informationen veröffentlicht, die von einer Behörde «im Rahmen ihrer Befugnisse als geheim erklärt worden sind». Der Artikel ist insbesondere Medienschaffenden ein Dorn im Auge, weil er ihre Arbeit behindert. Am 7. Mai 2008 hat der Bundesrat entschieden, dass er entgegen früheren Verlautbarungen, die Strafnorm nicht streichen will. Er stellt jedoch in seiner Antwort auf eine Motion von Jo Lang (Grüne, Zug) eine Revision des Artikels in Aussicht. Der Berufsverband der Journalist/innen Impressum hat den Entscheid umgehend kritisiert.

Folgen für Journalist/innen schwer abschätzbar

Impressum sei enttäuscht über das Zaudern des Bundesrates, schreiben die Verantwortlichen in einem Communiqué. Im Falle von Indiskretionen aus Ämtern, wie sie für die Aufdeckung unhaltbarer Zustände notwendig sei, bedeute Artikel 293 StGB, dass Medienschaffende bestraft werden, da sie durch die Publikation selbst bekannt werden, während ihre Informanten geheim bleiben könnten. Journalist/innen seien durch diesen Artikel einem permanenten Risiko ausgesetzt, da sie ihre Arbeit als «Wachhunde der Demokratie» gar nicht erfüllen könnten, wollten sie bei jedem «geheim»-gestempelten Dokument zuerst abklären, ob der Stempel tatsächlich «im Rahmen der Befugnisse» aufgedrückt worden sei. Bis eine solche Abklärung vorüber sei, sei es auch mit der Aktualität vorbei. 

In seiner Stellungnahme führt der Bundesrat dagegen aus: «Der Meinungsäusserungsfreiheit kommt in unserer Gesellschaft grosse Bedeutung zu, doch dieses Grundrecht gilt nicht absolut.» Er bezieht sich dabei auf einen Entscheid des Menschenrechtsgerichtshofs in Strassburg. Im Urteil vom 10. Dezember 2007 hatte dieser festgehalten, die gestützt auf Artikel 293 StGB erfolgte Verurteilung eines Journalisten zu einer Busse verstosse nicht gegen den Grundsatz der Meinungsfreiheit. Der Bundesrat ist der Ansicht, dieses Urteil zeige, dass sich die Veröffentlichung wesentlicher Geheimnisse durchaus im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ahnden lasse. Gleichzeitig machten die Urteilserwägungen deutlich, dass die bundesgerichtliche Auslegung von Artikel 293 StGB kaum haltbar sei: Die Gerichte müssten den Inhalt der vertraulichen Informationen berücksichtigen und eine Interessensabwägung vornehmen, um festzustellen, ob eine Verurteilung berechtigt sei, schreibt das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) in einer Medienmitteilung.

Fall Stoll: Forderungen der Journalisten bleiben bestehen

(Artikel vom 13.12.2007)

Am 10. Dezember 2007 hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EMRG) in Strassburg entschieden, dass die Schweiz mit der Verurteilung des Journalisten Martin Stoll im Fall Jagmetti nicht gegen die Menschenrechtskonvention verstossen hat. Damit spricht sich Strassburg dafür aus, dass unter gewissen Umständen das Interesse eines Staates, diplomatische Dokumente vertraulich zu behandeln, höher gewichtet werden kann, als das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dies dürfte auf die laufende Untersuchung des Bundesamtes für Justiz (BJ) im Zusammenhang mit Artikel 293 Strafgesetzbuch Einfluss haben. Der Journalistenverband Impressum hält auch nach dem Strassburger Urteil an der Forderung fest, den Tatbestand der «Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen» aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Wie die Chancen dafür stehen, bleibt offen.

«Urteil droht die Bestrebungen zurückzuwerfen» 

Das Urteil von Strassburg im Fall Stoll ist für Journalist/innen in der Schweiz von vitalem Interesse. Bisher laufen diese nämlich Gefahr, dass sie bei der Veröffentlichung von geheimen amtlichen Dokumenten strafrechtlich verfolgt und gebüsst werden. Jürg Sohm schreibt dazu in der Berner Zeitung «Der Bund»: «Unter Strafe gestellt werden mit Artikel 293 nicht etwa Staatsverrat und Preisgabe hochgeheimer militärischer Informationen – diese sind zusätzlich geschützt. Vielmehr geht es beispielsweise um noch nicht publizierte Berichte oder darum, wer in einem Gremium wie abgestimmt hat – Informationen also, die durchaus der Transparenz und Meinungsbildung dienen können. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Strassburg von gestern droht die Bestrebungen um Aufhebung des Strafartikels nun allerdings zurückzuwerfen.»

Der fragliche Artikel im Strafgesetzbuch war seit längerem umstritten. Abklärungen, ob der Strafartikel gestrichen oder restriktiver werden soll, waren im BJ sistiert worden, nachdem klar war, dass der Europäische Gerichtshof nochmals über den Fall beraten würde. Bern erhoffte sich vom Urteil Klarheit über die Frage, ob die Preisgabe diplomatischer Dokumente durch Journalisten überhaupt strafrechtlich geahndet werden dürfen. Diese Frage hat Strassburg nun bejaht.

Streichung wahrscheinlich vom Tisch 

Sohm vermutet im Artikel für den «Bund» aufgrund der Medienmitteilung des BJ, dass «die Streichung des Artikels nicht mehr im Vordergrund stehen dürfte», obwohl die Journalistenverbände und der Presserat dies nachwievor fordern. «Inwiefern der Strafrechtsartikel wie vom Bundesamt für Justiz angedeutet 'restriktiver gefasst' werden könnte, ist offen. BJ-Sprecher Folco Galli konnte dazu auf Anfrage keine Angaben machen.»

Weiterführende Informationen

Freispruch für Journalisten in der Fax-Affäre

(Artikel vom 18.04.2007)

Die drei Schweizer Journalisten, gegen die von einem Schweizer Militärgericht Anklage wegen Veröffentlichung eines geheimen Faxes erhoben worden war, sind freigesprochen worden. In dem Dokument, das im SonntagsBlick veröffentlicht wurde, sind Orte genannt, an denen vermutlich Gefangene von der CIA festgehalten wurden. Ausserdem wurden die Verhörmethoden des US-Auslandsgeheimdienstes genannt. Das Militärgericht sprach die Redaktoren vom Vorwurf des Geheimnisverrats frei. 

RSF befriedigt

Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) zeigt sich «befriedigt» über den Prozessausgang, der ihrer Ansicht nach gar nicht hätte stattfinden dürfen. Comedia, die Gewerkschaft für Medienschaffende, bescheinigt dem Urteil einen «wegweisenden Charakter». Das Urteil breche einer Kette von Verfahren gegen Medienschaffende, die sich kritisch gegenüber der Armee geäussert hätten. Ausserdem sei es aber inakzeptabel, dass Zivilisten vor ein Militärgericht gestellt würden. In diesem Fall seien diejenigen zu bestrafen, die vertuschen und nicht die, die aufdecken. Menschenrechte seien über Eigeninteressen eines Staates zu stellen, heisst es in ihrer Medienmitteilung.

Recht auf freie Meinungsäusserung 

Reporter Ohne Grenzen hatte im Vorfeld die Anklage durch das Militärgericht verurteilt. «Wir bedauern diese Bedrohung der praktischen Arbeit von Journalisten in einer Demokratie wie der Schweiz», sagte Rubina Möhring von der Organisation. Die Schweiz sei schon einmal in einem ähnlichen Fall (Stoll v. Switzerland) vom Europäischen Gericht für Menschenrechte verurteilt, weil sie das Recht auf freie Meinungsäusserung verletzt hatte, führte die Sprecherin weiter aus. «Wir hoffen sehr, dass das Militärgericht ein für die Pressefreiheit vorteilhaftes Urteil fällen wird».

Im Artikel des SonntagsBlick wurde die Existenz von Geheimgefängnissen der USA in Europa bestätigt. Die Journalisten bezogen sich dabei auf ein Fax des ägyptischen Aussenministeriums, das vom Schweizer Geheimdienst abgefangen worden war. Eine weitere Anklage soll gegen jene Person erhoben werden, die das Fax angeblich durchsickern liess.  

Bundesanwaltschaft schränkt Strafverfolgung von Journalisten ein

(Artikel vom 18.10.2006)

Journalisten, die Amtsakten veröffentlichen, müssen in der Schweiz künftig weniger schnell mit einer Strafverfolgung rechnen als bisher. Die Bundesanwaltschaft hat die internen Richtlinien nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg entsprechend angepasst, wie die Agenturen berichten. Im April 2006 hatte die Kleine Kammer des EGMR die Schweiz wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit verurteilt.

Gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren werden demnach nur noch bei Verletzung von materiellen Geheimnissen eröffnet. Zudem muss das Geheimhaltungsinteresse des Staates das öffentliche Interesse an Informationen überwiegen, wie Jeannette Balmer, Sprecherin der Bundesanwaltschaft einen Bericht der NZZ am Sonntag bestätigte.

Fall Jagmetti 

Die Bundesanwaltschaft begründet die Praxisanpassung mit der Verurteilung der Schweiz durch den Gerichtshof für Menschenrechte im April 2006. Damals hatte Strassburg festgehalten, dass die durch das Bundesgericht bestätigte Büssung des Journalisten Martin Stoll die Meinungsäusserungsfreiheit verletze. Dieser hatte im Jahr 1997 in der SonntagsZeitung Auszüge aus einem als vertraulich klassifizierten Dokument des damaligen Schweizer Botschafters Carlo Jagmetti in den USA veröffentlicht. Das Papier enthielt Strategien zur Lösung des Streits um die nachrichtenlosen jüdischen Vermögen. Der Botschafter geriet wegen des verwendeten Vokabulars unter Druck und musste schliesslich zurücktreten.

Grosse Kammer des EGMR prüft den Fall 

Im Juli 2006 hatte die Schweiz erstmals eine Verurteilung durch den EGMR nicht akzeptiert und in dieser Sache den Antrag gestellt, dass der Fall durch die Grosse Kammer neu beurteilt wird. Dieser Schritt erstaunte damals, weil der Bundesrat zuvor erklärt hatte, die Abschaffung des entsprechenden Strafartikels zu prüfen. Unterdessen ist bekannt geworden, dass der Antrag des Justizministeriums in Strassburg angenommen wurde. Das mündliche Verfahren sei auf den 7. Februar 2007 angesetzt, bestätigte der Sprecher des BJ.

  • Indiskretionen von Journalisten: Strafverfolgung gelockert (online nicht mehr verfügbar)
    Basler Zeitung, 15. Oktober 2006
  • Schweiz wehrt sich gegen Urteil
    Tages-Anzeiger, 16. August 2006 (pdf, 1 S.)

Das Urteil des EGMR 

Das Strassburger-Urteil zugunsten des Journalisten Stoll wurde im April 2006 gleichzeitig mit dem ähnlich beurteilten Fall Viktor Dammann veröffentlicht. Der Blick-Journalist hatte im Zusammenhang mit dem Fraumünsterraub eine Angestellte der Zürcher Staatsanwaltschaft ausgefragt und Informationen erhalten. Er wurde wegen Anstiftung zur Verletzung des Amtsgeheimnisses mit 500 Franken gebüsst. Laut den beiden Urteilen des EGMR haben sowohl im Fall Stoll wie im Fall Dammann die Bussen unabhängig von ihrer geringen Höhe eine Art Zensur dargestellt, welche die Betroffenen an künftiger Kritik oder bei weiteren Recherchen hindern könnte. In beiden Fällen sahen die Richter das Interesse der Öffentlichkeit an der Information als gegeben an und schätzten es höher ein als die betroffenen Interessen der Behörden. Sie taxierten die Meinungsäusserungsfreiheit der Journalisten als verletzt durch die Anwendung des Strafgesetzbuch-Artikel 293, welcher die Veröffentlichung geheimer Amtsakten unter Strafe stellt.

Prozess gegen Weltwoche-Journalist U.P. Engeler

Dass die jetzige Rechtslage viel Rechtsunsicherheit und Willkür beinhaltet, zeigt sehr schön der Fall des Weltwoche-Journalisten Urs Paul Engeler, der angeklagt wurde, weil er einen Vorentwurf zur Revision des Staatsschutzgesetzes publik gemacht hatte. Eine Berner Richterin hat Engeler nun freigesprochen, weil das betreffende Dokument gar nicht als «vertraulich» gekennzeichnet gewesen sei, - eine Justizposse, wie Bruno Vanoni vom Tages-Anzeiger treffend kommentiert.

Mehrere Verfahren pro Jahr 

Die Bundesanwaltschaft hat nach eigenen Angaben vom Juni 2006 in den letzten Jahren wegen «der Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen» (StGB Art. 293) jährlich mehrere Verfahren gegen Journalisten eröffnet. Eine Statistik wird darüber laut der Bundesanwaltschaft nicht geführt. Zwar handle es sich um ein Offizialdelikt, «in aller Regel» seien die Verfahren aber auf Grund von Anzeigen aus der Verwaltung initiiert worden. Dabei sei jeweils gleichzeitig wegen Verstosses gegen Amtsgeheimnisverletzung (StGB Art. 320) ermittelt worden. Im Mai 2006 hatte der grösste Journalistenverband der Schweiz impressum in einer Resolution die ersatzlose Streichung des Strafartikels gefordert.

  • Veröffentlichung von Indiskretionen aus der Bundesverwaltung (online nicht mehr verfügbar)
    SDA, 16. August 2006
  • Impressum-Delegierte stimmen für die Pressefreiheit  (online nicht mehr verfügbar)
    Medienmitteilung, 26. Mai 2006