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Sicherheitsfanatiker und Krawallmacher bedrohen das Recht auf friedlichen Protest

11.07.2013

Die Rechte von Personen, die an grossen Versammlungen und Manifestationen teilnehmen, stehen in der Schweiz unter Druck. Die Forderung nach Schutz der Teilnehmer/innen ist unpopulär, obwohl Massenversammlungen im öffentlichen Raum zahlreich und gut besucht sind. Vergessen die Behörden angesichts von Radaumachern möglicherweise zu leichtfertig, wie wichtig Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit für eine Demokratie sind? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, wie ein aktuell vor dem Berner Obergericht zur Behandlung stehender Fall exemplarisch zeigt.

Aktuelles politisches Klima

Die Gesetze für Massenkundgebungen sind mancherorts in einer grundrechtsgefährdenden Weise verschärft worden. Ein Beispiel dafür ist etwa Genf, wo die Stimmbevölkerung im März 2012 einer deutlichen Verschärfung des entsprechenden Gesetzes zugestimmt hat. Dieses Gesetz hat zur Folge, dass die in der Verfassung garantierten Rechte, wie die Versammlungsfreiheit, eingeschränkt werden. Für jede Versammlung im öffentlichen Raum müssen Organisatoren in Genf eine Bewilligung bei den Behörden einholen. Unbewilligte Demonstrationen werden nicht toleriert. Darüber hinaus müssen die Organisatoren während einer Kundgebung selber einen eigenen Sicherheitsdienst stellen. Bei allfälligen Ausschreitungen werden die Organisatoren unabhängig von ihrer Verantwortung für die entstandenen Kosten zur Kasse gebeten. Diese umstrittenen Regelungen im Genfer Gesetz über Kundgebungen im öffentlichen Raum hat das Bundesgericht per Entscheid vom 10. Juli 2013 gutgeheissen. Eine weitere Bestimmung, wonach Organisatoren von Demonstrationen im Fall von Ausschreitungen künftig keine Bewilligung mehr erhalten, hat das Gericht hingegen aufgehoben, weil sie nach Ansicht des Bundesgerichts die Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV) in Verbindung mit der Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) zu stark beeinträchtigt.

In andern Städten sind die rechtlichen Vorgaben weniger streng, die Polizei greift jedoch hart durch: Nach den Ausschreitungen mit massiven Sachbeschädigungen bei der Tanz-dich-frei-Veranstaltung in der Berner Innenstadt im Mai 2013 stellte die Staatsanwaltschaft Teilnehmende an den Internetpranger, damit deren Identität mit Hilfe der Öffentlichkeit geklärt wird. Ausserdem sind Beobachter aufgerufen worden, eigene Bilder, die Hinweise auf Straftaten geben, der Polizei zu übergeben. Wer sich die Bilder im Netz ansieht, weiss nicht, was den gesuchten Personen vorgeworfen wird. Es bestehen auch Bedenken, weil die Bilder möglicherweise länger im Internet kursieren, als dies die Staatsanwaltschaft beabsichtigt. Die Vorgehensweise der Untersuchungsbehörden ist ein weitgehender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Die Staatsanwaltschaft stellt sich auf den Standpunkt, die Bildfahndung sei gerechtfertigt, denn Sachbeschädigungen im Rahmen von öffentlichen Versammlungen seien von Amtes wegen zu verfolgen.

Überreaktion oder notwendiges Vorgehen?

Zur gängigen Praxis gehört mittlerweile auch, dass Demonstrationen in Schweizer Städten mittels Grossaufgebot der Polizei schon präventiv im Keim erstickt werden. So hat die Stadtpolizei Zürich zuletzt am Abstimmungssonntag vom 9. Juni 2013 in Zürich eine friedliche Spontankundgebung, die sich gegen eine rigide Asylpolitik richtete, aufgelöst. Einige wenige Demonstrierende hatten sich über die Warnung der Polizei, ein Demonstrationsumzug werde nicht toleriert, hinweg gesetzt. Darauf reagierte die Polizei mit Wasserwerfern, Pfefferspray, Leerschüssen sowie Gummischrot, um die Demonstrierenden einzuschüchtern und von ihrem Vorhaben abzubringen (siehe WOZ Nr. 24/2013 vom 13.06.2013). Die Versammlung löste sich daraufhin auf.

Der Fall, der die Berner Gerichte beschäftigt

Durch die Polizei aufgelöst wurde im Januar 2012 auch die Wipe-out-WEF-Demonstration. Der Fall kam am 20. Juni 2013 vor Berner Obergericht. Im Vorfeld der unbewilligten Veranstaltung gegen das World Economic Forum (WEF) berichteten Medien, dass über das Internet für den Anlass zu Gewalt aufgerufen werde. Ein massives Aufgebot an Polizei verhinderte schliesslich, dass es überhaupt zu einem Umzug kam. Rund 150 maskierte Demonstrierende standen im Bollwerk einer Vielzahl an Polizisten gegenüber. Neben den üblichen Transparenten und Schlachtrufen setzten die Demonstrierenden Rauchpetarden in Brand und warfen eine Pyro-Fackel (die keinen Schaden anrichtete) Richtung Polizei. Die Polizei rief die Demonstrierenden auf, sich zu entfernen und nahm schliesslich alle, die dem Aufruf keine Folge leisteten, zur Personenkontrolle fest. Dabei stellten die Sicherheitskräfte weitere Pyros, Pfeffersprays, Schutzbrillen, Helme, Holzstöcke und Handschuhe sicher, was die Behörden schliesslich als Indizien für eine nicht friedliche Absicht der Versammlung werteten.

Landfriedensbruch?

Der Fall, den das Berner Obergericht nun beurteilen musste, betrifft einen Mann, der sich im eingekesselten Teil der Demonstration befand, der Aufforderung sich zu entfernen mutmasslich nicht nachkam und einen Pfefferspray auf sich trug. In erster Instanz sprach ihn das Regionalgericht wegen versuchtem Landfriedensbruch schuldig. Der Angeklagte zog den Entscheid weiter. Gemäss Angaben von AntiRep vom 20. Juni 2013 hat das Obergericht den Mann nun wegen vollendetem Landfriedensbruch schuldig gesprochen.

Der Straftatbestand Landfriedensbruch (Art. 260 StGB) stellt die Teilnahme an einer «öffentlichen Zusammenrottung, bei der mit vereinten Kräften gegen Menschen oder Sachen Gewalttätigkeiten begangen werden», unter Strafe. Eine Verurteilung wegen Landfriedensbruch auszusprechen, ohne dass es überhaupt zu Gewalttätigkeiten gekommen ist, ist eher fragwürdig. Mindestens sollte in der Urteilsbegründung ersichtlich sein, welche Erwägungen das Gericht im Hinblick auf den Grundrechtsschutz (Art. 22 BV) vorgenommen hat. Man kann sich sonst kaum des Eindrucks erwehren, dass ein solches Urteil vor allem das Ziel verfolgt, politische Aktivisten/-innen und Andersdenkende einzuschüchtern. Die Begründung des Urteils durch das Obergericht darf mit Spannung erwartet werden.

Der Angeklagte will das Urteil gemäss Presseberichten ans Bundesgericht weiterziehen. Die Auswirkung des Urteils vom Obergericht ist nicht gering: Nach dem Schuldspruch wird nun rund 130 weiteren Personen, die während der erwähnten Demonstration durch die Polizei festgehalten wurden, ein Strafbefehl zugeschickt.

Verschiedene Bedürfnisse auf engem Raum

Grundsätzlich stehen sich bei solchen öffentlichen Versammlungen Sicherheitsbedürfnisse und wichtige Grundrechte wie Versammlungsfreiheit (Art. 22  BV, Art. 11 EMRK) und Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) gegenüber. Demonstrationen, Veranstaltungen und auch Fanmärsche beanspruchen den öffentlichen Raum in den Städten häufig zu einer Zeit, in der dieser schon anderweitig stark beansprucht ist. Das Sicherheitsdispositiv kostet den Steuerzahler zudem viel Geld. Die Bedürfnisse von Konsumenten/-innen, Ladenbesitzenden, Verkehrsteilnehmenden oder Ausflüglern stehen also auf der einen Seite.

Die andere Seite machen Anliegen von Personen aus, die unzufrieden sind, Sympathien oder Antipathien kundtun wollen, zu politischen Änderungen aufrufen oder für eine andere Forderung mit Protest eintreten. Meistens geht es dabei um Anliegen, die auf anderem Wege öffentlich nicht kommuniziert werden können, etwa weil der Zugang zu den grossen Medien fehlt. Nicht selten sind es Minderheiten, die sich versammeln im öffentlichen Raum, weil sie sich nicht adäquat vertreten sehen, sei es durch die politischen Parteien oder in den Medien. Versammlungen tragen in diesem Sinne auch zur Bildung der öffentlichen Meinung bei.

«Es gibt in den vergangenen Jahren einen Trend, den Raum für die Zivilgesellschaft zu beschränken», sagt der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf friedliches  Versammeln, Maina Kiai, mit Bezug auf seine internationale Erfahrung. Ein gewisses Ungleichgewicht zugunsten der Sicherheit ist derzeit auch in der Schweiz klar wahrnehmbar. Die Gründe dafür sind vielfältig, alle Akteure stehen in der Verantwortung. Nicht zuletzt haben gewaltbereite Gruppen wie der «Schwarze Block» immer wieder friedliche Anlässe benutzt, um Krawall zu machen, die Sicherheitskräfte herauszufordern und Gewalt zu schüren. Dieses Vorgehen fällt nicht unter den Schutz des Grundrechts. Es ist zu verurteilen, denn es schadet der Forderung nach einem Anspruch auf friedlichen Protest.

Wann ist eine Versammlung nicht mehr friedlich?

Das Grundrecht schützt nach gängiger Lehrmeinung jede Form des Zusammenkommens von Menschen, welches den Zweck verfolgt, untereinander oder gegen aussen Meinungen mitzuteilen oder ihnen Ausdruck zu geben. Diese Versammlungen können spontan sein; sie müssen nicht ortsgebunden sein. Der kommunikative Zweck einer Versammlung ist dabei wichtig. Kommerzielle Veranstaltungen sind nicht durch die Versammlungsfreiheit geschützt, Demonstrationen, Mahnwachen, Schweigemärsche und ähnliches dagegen schon.

In  den Schutzbereich der Grund- und Menschenrechte fällt ausdrücklich nur friedliches Demonstrieren (Art. 22 BV, Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO-Pakt II). Nicht jeder Aufruf zu Gewalt ermächtigt allerdings die Ordnungskräfte, harte Gegenmassnahmen zu ergreifen. Häufig sind Versammlungen so angelegt, dass sie provozieren und den ruhigen Lauf des Alltags stören, um auf ein Anliegen aufmerksam zu machen. Dies allein reicht nicht, um den grundrechtlichen Schutz zu verlieren.

Der Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates (EGMR) unterscheidet zwischen Versammlungen, deren Ziel in der Begehung von Straftaten besteht, und anderen, bei denen Gewalttaten blosse Nebenerscheinungen sind. Letztere stehen unter Schutz, selbst wenn einige Teilnehmer gewalttätig werden (EGMR-Urteil Stankov gg. Bulgarien). Ausschlaggebend sei die Intention des Anlasses oder die Frage, wie friedlich das Ziel eines Protestes ist, formuliert der UNO-Experte Kiai. Einen beschränkten Schutz durch das Grundrecht geniessen etwa Veranstaltungen, in denen unmittelbar zu Hass oder Gewalt gegen Dritte aufgerufen wird.

Unter welchen Bedingungen ist ein Verbot möglich?

Strenge Anforderungen stellt der EGMR an ein Verbot von Versammlungen. Es muss ein konkretes und vorhersehbares Risiko bestehen, dass Gewalt ausgeübt oder dazu angestiftet wird. Grundsätzlich ist die Anordnung von Auflagen einem Verbot vorzuziehen (EGMR-Urteil Stankov gg. Bulgarien). Als Indiz für ein konkretes Risiko gilt etwa, wenn Demo-Teilnehmer/innen Waffen oder Baseballschlägern mittragen.

Nicht unproblematisch ist angesichts der internationalen Vorgaben die Praxis des Bundesgerichts. Dieses hat das Verbot einer Versammlung gegen das WEF im Jahre 2001 allein aufgrund der Beobachtung, dass sich die Globalisierungsgegner in letzter Zeit vermehrt gewalttätig gezeigt hätten oder im Internet zu einer gewaltsamen Demonstration aufgerufen worden sei, als zulässig beurteilt (BGE 127 I 164).

Demonstrationen sind wichtig für die Demokratie

Für Demokratien sei die Möglichkeit, sich für ein Anliegen öffentlich zu versammeln und friedlich zu protestieren, äusserst wichtig, meinte UNO-Sonderberichterstatter Kiai im Januar 2013 in Bern - damals noch stark unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings. Es gebe schliesslich keinen besseren und direkteren Weg für Menschen, sich an ihre Regierung zu richten. An die Adresse der Schweiz mahnte Kiai: Man dürfe nicht vergessen, dass die Schweiz eine Vorbildfunktion habe. Wenn die Schweiz etwa leichtfertig Demonstrationen verbiete, dann gebe dies repressiveren Staaten einen guten Grund, dasselbe zu tun. In diesem Sinne sind strenge gesetzliche Auflagen für Demonstrationen, wie sie Genf kennt, ein schlechtes Zeichen für die ganze Welt.

Dokumentation und Quellen

Weiterführende Informationen