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Überbelegung in Champ-Dollon: Bundesgerichtsurteile und alarmierende medizinische Studie

26.04.2016

Im Genfer Gefängnis Champ-Dollon besteht seit vielen Jahren eine schwere und dauernde Überbelegung. Nun hat das Bundesgericht mit dem Entscheid vom 21.03.2016 in einem weiteren Fall festgestellt, dass die Haftbedingungen im grössten Genfer Gefängnis gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen. Es hat die Beschwerde eines Strafgefangenen teilweise gutgeheissen, der während 136 Tagen weniger als vier Quadratmeter für sich beanspruchen konnte. Bereits im Februar 2014 und Oktober 2015 rügten die Lausanner Richter die miserablen Haftbedingungen in Champ-Dollon und im April 2017 hiess das Bundesgericht erneut eine Beschwerde eines Insassen von Champ-Dollon gut.

Nach dieser Serie von Urteilen des Bundesgerichts, stehen die Genfer Behörden mehr denn je in der Pflicht, die materiellen Haftbedingungen zu verbessern und das Platzproblem durch bauliche und/oder institutionelle Massnahmen zu lösen.

Starker Anstieg der Suizidversuche

In den letzten Jahren beobachteten die Genfer Gefängnisärzte einen starken Anstieg der Selbstmordversuche in Champ-Dollon. Mit statistischen Methoden analysierten sie die in einer Datenbank erfassten Vorfälle. Im Jahr 2013 beispielsweise erreichte die Überbelegung in der Haftanstalt mit 200 Prozent offenbar eine kritische Marke. Denn gleichzeitig stieg die Zahl der Selbstmordversuche durch Strangulation um ein Vielfaches. Im Jahr 2014, als die Auslastung bereits 240 Prozent betrug, waren es zehn Mal mehr als in den Jahren vor 2013.

Für Hans Wolff, Mitautor der Studie und Chefarzt sämtlicher Genfer Gefängnisse, ist dieser Anstieg alarmierend. Weitere mögliche Faktoren, welche die dramatische Entwicklung allenfalls erklären könnten, wurden geprüft: die Zusammensetzung der Häftlinge, die Nationalitäten, das Altersprofil, die psychiatrischen Krankheiten. Aber die Forscher konnten in keinem dieser Faktoren entsprechende Veränderungen finden. Somit kamen sie zum Schluss, dass der Hauptfaktor der gestiegenen Suizidversuche mit grosser Wahrscheinlichkeit die massive Überbelegung ist.

Das Bundesgerichtsurteil von 2014

«Wenn Haftbedingungen in einem Punkt nicht den europäischen Empfehlungen für Haftanstalten entsprechen, dann hat dies nicht zwingend zur Folge, dass man in die Kategorie der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung fällt.» Mit diesem Argument gewann der Genfer Staatsanwalt im August 2013 seinen Rekurs vor dem Genfer Obergericht gegen mehrere Insassen von Champ-Dollon, die ihre sofortige Freilassung gefordert hatten, weil sie fanden, ihre Haftbedingungen würden gegen die Minimalstandards von Art. 3 EMRK verstossen.

Und tatsächlich hatte das Bundesgericht von insgesamt vier weiter gezogenen Rekursen vorerst nur zwei für teilweise gerechtfertigt gehalten, weil in diesen zwei Fällen verschiedene Faktoren zusammen kamen. Zum einen hat das Bundesgericht berücksichtigt, wie viel Raum den Insassen in ihren Zellen effektiv zur Verfügung stand. Zum andern betrachtete das Gericht die gesamte Haftdauer und schliesslich bezog es auch die in der Zelle verbrachten Stunden pro Tag in die Erwägungen mit ein.

In den beiden erfolgreichen Beschwerdefällen sassen die Insassen während dreier Monate zu sechst in einer Zelle von 23 m2 und dies täglich 23 Stunden lang. Diese gesamten Haftumstände verletzen gemäss Bundesgericht die Menschenwürde im Sinn von Artikel 3 EMRK und sind inakzeptabel, weil sie dem Verbot einer herabsetzenden oder unmenschlichen Strafe widersprechen.

Das Urteil von 2014 fiel zeitlich zusammen mit einer Serie von schweren Massenschlägereien zwischen Insassen von Champ-Dollon, einem Symptom von nie dagewesener Brutalität für die unzumutbaren Haftbedingungen. Während der Unruhen wurden 26 Insassen und 8 Wärter verletzt, einige davon schwer. Champ-Dollon ist berüchtigt für seine knappen Platzverhältnisse. Seit vielen Jahren ist das grösste Genfer Gefängnis massiv überbelegt. Im Mai 2013 lebten 830 Personen in der Haftanstalt, die eigentlich für lediglich 370 Haftplätze eingerichtet wäre. Bemerkenswert ist dabei, dass davon 35 Prozent in Untersuchungs- oder Administrativhaft sitzen. Das heisst, diese Insassen haben entweder gar keine Straftat begangen (Sans Papiers) oder haben als unschuldig zu gelten, solange keine Verurteilung vorliegt.

Zwei neue Urteile 2015

Das Urteil des Bundesgerichts vom 26. Februar 2014 markierte eine Kehrtwendung. Erstmals hatte das Bundesgericht eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Zusammenhang mit Hafteinrichtungen in der Schweiz festgestellt. Insbesondere für den Kanton Genf waren die Folgen des Urteils beträchtlich. Man hätte erwartet, dass die Genfer Behörden reagieren und Voraussetzungen schaffen, damit sich die Haftbedingungen bessern, etwa durch einen Ausbau der Infrastruktur oder, indem die Anzahl von inhaftierten Personen verringert wird. Doch mehr als ein Jahr später waren diese Erwartungen noch immer nicht erfüllt, wie das Bundesgericht bestätigte. 

Ende September 2015 wurden die Genfer Behörden gleich zweifach verurteilt. Das Bundesgericht hatte einer Beschwerde von zwei Häftlingen stattgegeben, nachdem ein Genfer Gericht befand, die Haftbedingungen der beiden Insassen seien nicht verletzt worden, obwohl ihnen weniger als 4 m2 pro Person zur Verfügung standen.  

Im Fall des ersten Häftlings kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Haftbedingungen während der 328 Tage nicht den Minimalstandards entsprachen. Der Häftling war mit zwei weiteren Insassen in einer Zelle von 10 m2 untergebracht. Das Genfer Gericht war der Ansicht, dass der Häftling mit dem Verzicht auf eine Arbeit auch bewusst darauf verzichtete, seine Haftbedingungen zu verbessern. Im Gegensatz dazu befand das Bundesgericht, dass die Möglichkeit, im Rahmen einer Arbeit die  Zelle zu verlassen, noch nicht genügt, um die Anforderungen an die Haftbedingungen gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu erfüllen.

Der zweite Fall ist umso gravierender, da die Haftbedingungen während 507 Tagen verletzt wurden. Hier kam das Bundesgericht zum Schluss, dass kurze Pausen nicht genügten, um den langen Aufenthalt in überbelegten Zellen tolerierbar zu machen. In beiden Fällen sprach das Bundesgericht den Beschwerdeführern eine Entschädigung von 3‘000 SFr. zu.

  • ATF 1B_239/2015
    Bundesgerichtsentscheid vom 29. September 2015 (französisch)
  • ATF 1B_152/2015
    Bundesgerichtsentscheid vom 29. September 2015 (französisch)

Weitere Urteile: 2016 und 2017

Mit Entscheid vom 21. März 2016 stellt das Bundesgericht in einem weiteren Fall fest, dass die Haftbedingungen im Gefängnis Champ-Dollon der Menschenrechtskonvention widersprachen. Es hat die Beschwerde eines Strafgefangenen teilweise gutgeheissen. In seiner Beschwerde an das Bundesgericht bestritt der Inhaftierte eine besondere Schwere seiner Taten und beantragte eine Reduktion seiner Strafe von vier auf drei Jahre. Zudem stellte er den Antrag, das Strafmass wegen der ungenügenden Haftbedingungen um fünfeinhalb Monate zu senken.

Die erste Nacht im Gefängnis Champ-Dollon verbrachte der Verurteilte im April 2014 mit zwei weiteren Inhaftierten in einer rund zehn Quadratmeter grossen Zelle. In der Folge wurde der Mann in eine Zelle verlegt, in der kaum bessere räumliche Verhältnisse herrschten. Diese Situation blieb bis im September 2014 bestehen. Der Mann konnte während insgesamt 136 Hafttagen weniger als vier Quadratmeter für sich beanspruchen.

Nun hat das Bundesgericht den Fall an die Genfer Justiz zurückgewiesen. Sie muss über die Konsequenzen entscheiden, die der Verstoss gegen die Menschenrechte des Inhaftierten hat.

Im April 2017 hiessen die Lausanner Richter erneut eine Beschwerde eines Strafgefangenen von Champ-Dollon gut. Der Gefängnisinsasse klagte aufgrund seiner Haftbedingungen. Er litt unter mangelndem Platz. Das Bundesgericht korrigierte mit seinem Urteil den Entscheid der Genfer Justiz, welche die Klage des Strafgefangenen abgelehnt hatte.

Wie weiter?

Diese Gerichtsentscheide ebnen den Weg für Schadenersatzklagen von weiteren Personen, die in Haft unter ähnlichen Bedingungen leiden. Sind entsprechende Klagen auch weiterhin erfolgreich, handelt es sich um eine beachtliche finanzielle Herausforderung für den Kanton. Es ist zu hoffen, dass die Aussicht auf finanzielle Folgen bei den Verantwortlichen endlich den nötigen Druck erzeugt, um die dringend notwendigen Massnahmen zur Verbesserung der Situation in Champ-Dollon zu ergreifen.

Die vorliegenden Bundesgerichts-Urteile dürften über die Grenzen des Kantons Genf hinaus Beachtung finden und etwa für den Kanton Waadt, der mit ähnlichen Problemen kämpft, ebenfalls Konsequenzen haben. Auch die dortigen Gerichte sahen sich bereits mit Schadenersatzklagen von Häftlingen konfrontiert. Im November 2013 waren die Beschwerden zweier Gefangener vor dem Appellationsgericht gescheitert. Sie beanstandeten ihre Verlegung auf eine Polizeiwache, wo sie in einer Zelle untergebracht waren, die nur für kurze Aufenthalte eingerichtet ist. Auch hier kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Haftbedingungen gegen die EMRK verstossen haben (hier finden Sie unseren Artikel dazu).

Ist das Ende der Überbelegung in Sichtweite?

Bereits 2005 hatte die Genfer Liga für Menschenrechte die hohe Belegungsrate des Genfer Gefängnisses Champ-Dollon, damals 162 Prozent, bemängelt. In den vergangenen zehn Jahren hat die Genfer Regierung mehrere Projekte entworfen, um die Situation zu verbessern. Laut Genfer Sicherheitsbehörden hätten sich die Haftbedingungen in Champ-Dollon verbessert. So seien heute nicht mehr 900 (= 240% Belegung im Jahr 2014), sondern nur noch 670 Häftlinge in Champ-Dollon eingesperrt. Ausserdem werde die Zahl der regulären Betten von 380 auf 400 erhöht. Auch könnten demnächst weitere Häftlinge in andere Gefängnisse verlegt werden. Damit sei der Stress deutlich gesunken. Zudem sollten mit den Neubauten von insgesamt drei Anstalten bis 2020 genügend Plätze vorhanden sein, damit die Genfer Gefängnisse nicht mehr regelmässig überbelegt seien. Eine gewisse Entspannung der Lage kann auch der Gefängnisarzt Wolff feststellen. Die Zahl der Selbstmordversuche sei im 2015 von 89 auf 34 Fälle gesunken. Aber, das Problem sei immer noch nicht gelöst, denn die Belegung in Champ-Dollon würde immer noch bei 170 Prozent liegen.

Massnahmen dringend notwendig

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hatte im Juni 2012 Champ-Dollon besucht. Im Bericht über diese Visite kritisierte die NKVF neben der Überbelegung weitere zahlreiche Aspekte des Vollzugs im Genfer Gefängnis, etwa die gesundheitsgefährdenden Zustände auf den Gängen, im Spazierhof, in den Duschen und Küchen sowie die langen Wartezeiten für den Zugang zu einem Psychiater. Die NKVF verlangte von den Genfer Behörden und der Gefängnisleitung diese Missstände schnellstens zu beheben. Siehe hierzu den Artikel Drastische Überbelegung der Gefängnisse in der Romandie.

Die NKVF war nicht die einzige Institution, die die Regierung aufforderte, Massnahmen zu ergreifen. Im kantonalen Parlament formierte sich vor längerer Zeit eine Kommission, die sich über die Zustände in Champ-Dollon vor Ort informierte und im Januar 2013 mit 53 Insassen/-innen Gespräche führte. Nach diesen Anhörungen forderten die Kommissionsmitglieder ebenfalls, dass die Regierung dringend Lösungen für die Haftbedingungen in Champ-Dollon finden muss. Die kantonale Sektion der Demokratischen Juristen/-innen ihrerseits verlangt seit Jahren, dass schnelle und entscheidende Massnahmen ergriffen werden. Sie rief den Kanton auf, die Gefängnisse zu entlasten und plädierte für alternative Lösungen zur Inhaftierung, wie die Verkürzung der Untersuchungshaft und die Entkriminalisierung von weniger schwerwiegenden Verstössen gegen das Gesetz.

In der Tat ist die Handhabung der Untersuchungshaft in Genf seit einem Entscheid von Pierre Maudet, dem freisinnigen Vorsteher des kantonalen Sicherheitsdepartements, im Jahre 2012 systematisch strenger als anderswo, ohne dass der Kanton seine Infrastruktur erweitert hätte.

Kommentar von humanrights.ch

Wiederkehrende Unruhen im Genfer Gefängnis und ihre traurigen menschlichen Konsequenzen sind umso unverständlicher und inakzeptabler als die Alarmglocken in den vergangenen Jahren nicht aufhörten zu läuten. Zahlreich waren die Interventionen von dritter Seite (Liga für Menschenrechte 2005, die Besucherkommission des kantonalen Parlaments mehrfach und schliesslich die NKVF): alle habe sie die Dringlichkeit der Situation gezeigt und sofortiges Handeln gefordert. Die Genfer Abgeordnete Catherine Baud (Grüne) brachte es im Februar 2014 auf den Punkt: «Die Anzahl Wärter, auch wenn sie etwas erhöht wurde, steht mit der Anzahl Insassen in keinem Verhältnis. Das Machtverhältnis ist gekippt und dieser Umstand wird zur Bedrohung fürs Personal. Es kann jeder Zeit eine Meuterei geben. Alle Zellen sind überbelegt. In einer Zelle für drei Personen leben sechs, dies während 23 von 24 Stunden täglich. Bei Problemen unter den Häftlingen gibt es keine Ausweichmöglichkeit.»

Das Ausmass der Schwierigkeiten in Champ-Dollon sowie der Mangel an Einsicht und Handlungsbereitschaft der Behörden haben wohl die Urteile des Bundesgerichts beeinflusst. Oder wollte das Bundesgericht eine zweite Verurteilung der Schweiz in Strassburg für die Verletzung von Art. 3 EMRK, die zudem erneut den Kanton Genf betroffen hätte, verhindern? Tatsächlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vor einiger Zeit entschieden, dass eine Überbelegung nicht zwingend einer Verletzung der Konvention gleich kommt, wenn andere Massnahmen ergriffen werden, die es den Insassen erlauben, eine gewisse Intimität zu wahren. Durchaus denkbar also, dass sich der EGMR kritisch mit den Beschwerden aus Champ-Dollon befasst hätte, wenn er dazu Gelegenheit erhalten hätte.

Die Judikative hat mit ihrer wiederholten Intervention jedenfalls eine starke und vernehmliche Botschaft ausgesendet. Es bleibt zu hoffen, dass die Verbindung von gerichtlichen und finanziellen Forderungen sowie die Entscheide des höchsten Schweizer Gerichts, welche alle mit Schadenersatzklagen verbunden sind, die Genfer Verantwortlichen endlich zwingen, die politisch motivierte und offensichtlich nicht praktizierbare Haftpolitik zu überdenken. Ein Schritt in diese Richtung war der Entscheid, Sans-Papiers nicht länger bloss aufgrund des illegalen Aufenthalts zu inhaftieren (hier finden Sie unseren Artikel dazu).

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