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Keine effektiven Beschwerdemöglichkeiten gegen Disziplinarstrafen im Strafvollzug

17.11.2025

Das Bundesgericht bestätigt die Abweisung einer Beschwerde gegen eine Arreststrafe im Strafvollzug. Zudem bestätigt es die Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege. Obwohl Gefangene den Rechtsanspruch auf eine Beschwerde gegen Sanktionen im Strafvollzug haben, sind sie am kürzeren Hebel.

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts vom 9. Mai 2025 betrifft eine Beschwerde eines Inhaftierten gegen eine während des Strafvollzugs ausgesprochene Disziplinarstrafe. Der Beschwerdeführer befand sich im Jahr 2023 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lenzburg. Nachdem er einen Vollzugsmitarbeiter als «Pfeife» bezeichnet und ihm gedroht hatte, ihn bei nächster Gelegenheit zu würgen, belegte ihn die Anstaltsdirektion mit einer Disziplinarstrafe von fünf Tagen Arrest. Eine allfällige Beschwerde erhielt keine aufschiebende Wirkung, sodass der Arrest noch im Oktober 2023 vollzogen wurde.

Gegen diese Disziplinarverfügung erhob der Betroffene Beschwerde beim Departement für Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau (DVI). Dieses wies die Beschwerde und auch das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab. Ebenso erfolglos blieb die anschliessende Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, welches die Entscheide bestätigte. Daraufhin gelangte der Beschwerdeführer an das Bundesgericht und beantragte die Aufhebung der Disziplinarverfügung sowie die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Bundesgericht prüfte zunächst seine Zuständigkeit und die Eintretensvoraussetzungen. Obwohl die Disziplinarstrafe bereits vollzogen war, verzichtete es auf das Erfordernis des sogenannten aktuellen praktischen Interesses. Begründet wurde dies damit, dass sich vergleichbare Situationen im Strafvollzug wiederholen können und eine gerichtliche Überprüfung solcher kurzfristig vollzogenen Sanktionen sonst kaum möglich wäre. Damit bejahte das Gericht die Zulässigkeit der Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG.

Das Bundesgericht wies sodann die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war, verweigerte die unentgeltliche Rechtspflege und auferlegte dem Beschwerdeführer Gerichtskosten in der Höhe von CHF 1'200.00.

Verweigerung des rechtlichen Gehörs und der unentgeltlichen Rechtspflege

Inhaltlich beschränkte sich das Bundesgericht auf die Prüfung der Rügen, mit denen die Vorinstanz das rechtliche Gehör und die unentgeltliche Rechtspflege behandelt hatte. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, seine Einwände seien in der Disziplinarverfügung nicht berücksichtigt worden, es habe kein Anhörungsprotokoll gegeben und Beweismittel seien nicht erstellt worden. Das Verwaltungsgericht hatte diese Vorwürfe zurückgewiesen und festgehalten, dass der Beschwerdeführer angehört worden sei, der rapportierte Sachverhalt durch mehrere Mitarbeitende bestätigt worden sei und keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Beweiswürdigung bestünden.

Rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV)

Das Bundesgericht erinnerte daran, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV das Recht umfasst, sich vor Erlass eines belastenden Entscheids zu äussern und erhebliche Beweisanträge zu stellen. Eine Behörde darf jedoch auf die Abnahme weiterer Beweise verzichten, wenn sie in sogenannter antizipierter Beweiswürdigung zum Schluss gelangt, dass zusätzliche Beweismittel an der bereits gewonnenen Überzeugung nichts ändern würden. Das Bundesgericht bekräftigte die gefestigte Praxis, wonach eine antizipierte Beweiswürdigung zulässig sei, sofern sie nicht willkürlich erfolgt. Das Gericht prüft solche Rügen lediglich unter dem engen Gesichtspunkt der Willkür. 

Im konkreten Fall sah es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vorinstanz in unhaltbarer Weise von der Beweislage abgewichen wäre oder entlastende Elemente übergangen hätte. Entsprechend nahm die Vorinstanz ohne Willkür an, dass der Sachverhalt aufgrund der Aussagen der Mitarbeitenden hinreichend abgeklärt wäre und keine weiteren Beweise erforderlich wären. Dass kein formelles Anhörungsprotokoll existierte, würde keine Gehörsverletzung begründen, da der Beschwerdeführer angehört worden war und Gelegenheit hatte, sich zur Sache zu äussern.

Hinsichtlich der gerügten mangelhaften Begründung der Disziplinarverfügung hielt das Bundesgericht fest, dass die Behörde nicht verpflichtet sei, sich mit jeder einzelnen Äusserung des Betroffenen auseinanderzusetzen, sondern sich auf die wesentlichen Entscheidgründe beschränken dürfe. Auch insoweit würde keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegen.

Unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsvertretung

Auch hinsichtlich der unentgeltlichen Rechtspflege bestätigte das Bundesgericht die Abweisung durch die Vorinstanzen. Die Beschwerde wäre von vornherein aussichtslos gewesen, weshalb die gesetzlichen Voraussetzungen gemäss Art. 64 Abs. 1 BGG nicht erfüllt wären. Auch eine notwendige Verteidigung kenne das Bundesgerichtsgesetz nicht, sodass der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf die Beiordnung eines Anwalts oder Anwältin habe.

Trotz Beschwerdemöglichkeit am kürzeren Hebel

Das Urteil ist von Bedeutung für den Bereich des Straf- und Massnahmenvollzugs, da es einerseits bekräftigt, dass Disziplinarstrafen trotz bereits erfolgtem Vollzug überprüft werden können, wenn sich vergleichbare Fälle wiederholen. Andererseits verdeutlicht es erneut die Grenzen des rechtlichen Gehörs im Vollzug: Wird der Betroffene angehört und erscheint die Beweislage klar, darf die Behörde in antizipierter Beweiswürdigung auf zusätzliche Beweise verzichten, ohne gegen das Verfassungsrecht zu verstossen. Zudem bestätigt das Urteil, dass ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nur bei nicht aussichtslosen Begehren besteht.

Aus menschenrechtlicher Sicht ist fraglich, dass das Gericht die strukturellen Beweisnachteile inhaftierter Personen nicht thematisiert. Es stützte sich unkritisch auf die Aussagen der JVA-Mitarbeitenden, die naturgemäss ein Interesse daran haben, sich gegenseitig abzusichern. Ferner ist die Praxis der antizipierten Beweiswürdigung in Disziplinarverfahren problematisch, da sie die Möglichkeit einschränkt, neue entlastende Tatsachen vorzubringen. Gerade in Vollzugsinstitutionen, wo der Zugang zu Zeugen und Beweismitteln begrenzt ist, sollte sorgfältig geprüft werden, ob ein Verzicht auf weitere Beweiserhebung wirklich gerechtfertigt ist.

Damit bleibt: Auch wenn Inhaftierte grundsätzlich die Möglichkeit haben, ein Beschwerdeverfahren einzuleiten, sitzen sie in der Praxis oft am kürzeren Hebel.