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Stimm- & Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen

10.03.2021

Seit dem 29. November letzten Jahres sind Menschen mit Behinderungen im Kanton Genf vollwertige Bürger*innen – sämtliche Einschränkungen ihres Stimm- und Wahlrechts wurden abgeschafft. Dieser bemerkenswerte Fortschritt für die Anerkennung der Gleichstellung und der Würde dieser Menschen hat Signalwirkung für die ganze Schweiz.

Kommentar von Thierry Tanquerel, Honorarprofessor der Universität Genf

Eine Person, die wegen Urteilsunfähigkeit unter einer zivilrechtlichen Schutzmassnahme wie der umfassenden Beistandschaft steht, verliert heute auf Bundesebene und in fast allen Kantonen ihre politischen Rechte. Diese Urteilunfähigkeit kann aus einer geistigen Behinderung oder psychischen Störung resultieren, die schon immer vorhanden war, oder mit zunehmendem Alter auftritt. Sie wird danach beurteilt, ob eine Beistandschaft für die Verwaltung privater Angelegenheiten notwendig ist. Entgegen dieser Annahme ist es durchaus möglich, dass eine Person nicht in der Lage ist ihr Vermögen zu verwalten, jedoch die Fähigkeit besitzt, sich eine politische Meinung zu bilden und diese zum Ausdruck zu bringen.

Vor diesem Hintergrund ist es diskriminierend und unnötig, Menschen mit Behinderungen wie auch älteren Menschen pauschal ihre demokratischen Rechte zu entziehen, nur weil sie bei der Verwaltung privater Angelegenheiten Hilfe benötigen. Eine Person, die aufgrund einer geistigen oder psychischen Behinderung nicht in der Lage sein sollte zu erkennen, was eine Abstimmung oder eine Wahl ist, wird ihr Stimm- und Wahlrecht ohnehin nicht wahrnehmen. Es macht keinen Sinn, ihnen das per se vorenthalten zu wollen. Wenn eine Person aber trotz ihrer Behinderungen in der Lage ist politische Rechte auszuüben, ist es diskriminierend sie daran zu hindern. Die aktuellen gesetzlichen Regelungen stehen damit im Widerspruch zur UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK), welche die Schweiz als Vertragsstaat dazu verpflichtet, allen Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte zu garantieren (Art. 29 BRK).

Es gibt zwei gängige Einwände gegen die Gewährung der vollumfänglichen politischen Rechte für Menschen mit Behinderungen:

- Oft wir argumentiert, dass die jeweiligen politischen Themen und Fragen vollumfänglich verstanden werden müssen, um wählen oder abstimmen zu können. Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht darf jedoch nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine Person über staatsbürgerliche Kenntnisse verfügt oder welchen intellektuellen Quotienten sie besitzt. Mit dieser Argumentation jenen Menschen die politischen Rechten zu verweigern, die bei der Handhabung ihrer privaten Angelegenheiten auf Unterstützung angewiesen sind, ist einmal mehr diskriminierend und untergräbt die Würde der Betroffenen.

- Es wird immer wieder behauptet, dass Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte entzogen werden, um sie vor Stimmenfang zu schützen. Das ist in dreifacher Hinsicht nicht zu rechtfertigen: Erstens werden damit die Angehörigen und Fachleute, welche sich um Menschen mit Behinderungen kümmern, unter Generalverdacht gestellt und gelten als potenzielle Betrüger*innen. Zweitens besteht in jedem Abhängigkeitsverhältnis das Risiko von Stimmenfang. Trotzdem werden etwa die politischen Rechte von Menschen mit Sehbehinderungen und von Menschen die in einem Krankenhaus oder in einem Alters- und Pflegeheim wohnen, und das zu Recht, nie in Frage gestellt. Drittens müssten, wenn wirklich das Risiko für einen Betrug besteht, die Täter*innen und nicht die Opfer bestraft werden.

Indem der Kanton Genf am 29. November letzten Jahres 1'200 Bürger*innen unter voller Beistandschaft ihre politischen Rechte einräumte, verschuf er einem allgemeinen Stimm- und Wahlrecht Geltung und anerkannte Menschen mit Behinderungen als vollwertige Bürger*innen. Die Debatte muss nun in den anderen Kantonen sowie auf Bundesebene aufgegriffen werden. Um die diskriminierende und inkonsistente Natur des heutigen Systems aufzuzeigen, welches nach wie vor eine Vielzahl von Menschen von den politischen Rechten ausschliesst, bedarf es eines grossen Erklärungsaufwandes.

Die Abstimmung in Genf war nicht der Höhepunkt, sondern der Beginn eines langen Prozesses. Nun ist Aufklärung und Ausdauer gefordert, um endlich die vollständige politische Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu realisieren.