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Rassismuskritische Erziehung beginnt mit einer vorgelebten Haltung

21.03.2023

Zum heutigen internationalen Tag gegen Rassismus sprechen wir mit der Expertin Ify Odenigbo über die Wichtigkeit einer frühkindlichen rassismuskritischen Erziehung. Wir bewegen uns alle in rassistischen Strukturen und erlernen bereits im Kindesalter bewusste und unbewusste Ausschlussmechanismen. Dies kann sich in rassistischem Handeln äussern. So machen betroffene Kinder alltägliche Rassismuserfahrungen in der Familie, auf dem Spielplatz, in der Kita, dem Kindergarten oder der Schule. Eltern, Bezugspersonen, Lehrpersonen und Bildungsinstitutionen tragen die Verantwortung, mit den Kindern über Rassismus zu sprechen und ein Verständnis für rassistische Strukturen, Denken und Verhalten frühzeitig aufzubauen.

humanrights.ch organisiert mit Ify Odenigbo einen Workshop für Familien im Rahmen der Aktionswoche gegen Rassismus am 24. März 2023 im Familientreff Liebefeld.

Interview mit der Ärztin und Aktivistin Ify Odenigbo. Sie setzt sich mit dem Verein Ijeoma Parenting für Empowerment und Heilung von Schwarzen Menschen und Menschen mit Rassismuserfahrungen ein und bietet regelmässig Empowermenttreffen für von Rassismus betroffene Familien an.

Was sind für dich die Eckpfeiler einer rassismuskritischen Erziehung und warum ist diese wichtig?

Das ist schon gleich eine schwierige Einstiegsfrage. Doch ich denke, dass der erste Schritt bei uns erwachsenen Menschen liegt: Wir sollten Rassismus als System anerkennen. Das bedeutet, dass wir uns mit der Geschichte und Erscheinungsformen von Rassismus auseinandersetzen und uns Wissen aneignen müssen. Wir sollten uns unsere eigene Rolle im System eingestehen: sind wir selber von Rassismus betroffen? Oder profitieren wir in einer Weise davon? Aus dieser Position heraus ergeben sich für uns unterschiedliche Handlungsoptionen, Notwendigkeiten und Möglichkeiten im Umgang mit Rassismus. Wichtig ist auch, dass wir uns darin üben, mit den unangenehmen Gefühlen, die mit dem Thema einhergehen, umzugehen. Und dass wir Geduld mit uns selbst haben, uns Fehler eingestehen können und Verantwortung dafür übernehmen können. Wir müssen die rassismuskritische Begleitung der Kinder nicht perfekt können, alles darüber wissen oder es direkt perfekt machen, bevor wir mit unseren Kindern darüber sprechen und ihnen eine rassismussensiblen Haltung vorleben. Wir können auch gemeinsam mit unseren Kindern im Thema wachsen, mit ihnen aus unseren Fehlern lernen und von und mit ihnen Dinge neu lernen. Wir sollten jedoch anfangen, eine rassismuskritische Begleitung zu leben. Heute schon.

Wie können Rassismuserfahrungen die frühkindliche Entwicklung beeinflussen?

In der Gesellschaft, in der wir leben, wird es im Leben von betroffenen Menschen Rassismuserfahrungen geben – ob aktiv oder passiv. Auch Kinder erleben bereits Rassismus zum Beispiel in Form von Ausgrenzungen, Andersbehandlungen oder auch von direkten Beschimpfungen und Übergriffen. Diese Erfahrungen können eine Stressantwort des Körpers auslösen, eine wiederholte und anhaltende Aktivierung des Stresssystems kann wiederum die psychische und physische Gesundheit beeinflussen. Das heisst, die Folgen können von verändertem Identitätsgefühl, Ängsten, Selbstwertverlust bis zu chronischen Erkrankungen reichen. Eine dauerhafte Auseinandersetzung mit Rassismus kann sich auch auf die Lernleistungen der Kinder in der Schule auswirken. Die Auswirkungen von Rassismus können die Menschen ein Leben lang begleiten. Rassismus ist Gewalt und wie jede Gewaltform können rassistische Erfahrungen die Entwicklung der Menschen auf verschiedenen Ebenen beeinflussen.

Welche Rollen und Pflichten haben Eltern und andere Bezugspersonen und Institutionen (wie Lehrpersonen, Schule, Kindertagesstätte usw.) in der rassismuskritischen Erziehung der Kinder?

Rassismus geht alle Menschen etwas an, denn Rassismus ist in unserem Alltag vorhanden. Welche Rollen, Pflichten, Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten sich daraus ergeben, ist jedoch auch davon abhängig, in welcher Rolle die einzelne Person ist und wie die gesellschaftliche Positionierung dieser Person ist. Als Beispiel wird die Schwarze Schülerin gegenüber der weissen Lehrkraft andere Möglichkeiten, Einschränkungen oder Befürchtungen haben, um sich gegen rassistische Äusserungen zur Wehr zu setzen, als der weisse Vater des Schwarzen Kindes in der Kindertagesstätte. Ganz allgemein kann ich jedoch für die Institutionen sagen, dass es eine Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus geben muss. Auch sollte bereits in der Ausbildung der Lehrpersonen Wissen zu und eine aktive Auseinandersetzung mit Rassismus gefördert werden und - ganz wichtig - danach fortgesetzt werden. Auch hier gilt: die Anerkennung, dass die Schule kein rassismusfreier Ort ist, steht zu Beginn der Veränderung.

Wie kann kindgerecht vermittelt werden, dass nicht alle Kinder die gleichen Erfahrungen machen, es rassismusbetroffene Kinder gibt und Rassismus nicht nur zwischen Menschen passiert, sondern eine strukturelle Dimension hat?

Das ist je nach Entwicklungsstand des Kindes unterschiedlich umsetzbar und beginnt schon im Kleinkindalter sehr nonverbal mit einer entsprechenden Auswahl an Kinderbüchern und/oder Spielsachen. Je älter die Kinder werden, desto mehr kann auch direkter und expliziter mit ihnen darüber geredet werden. Zum Beispiel beim Vorlesen, bei einer gemeinsam erlebten/beobachteten Situation oder bei einer Frage der Kinder. Es gibt viele Gelegenheiten, die wir als Lernmomente nutzen können. Die strukturelle Dimension ist konkret zum Beispiel über die Idee eines Wettrennens zu veranschaulichen, wobei nicht alle die gleiche Startposition haben. Dabei stellen die unterschiedlichen Startpositionen die unterschiedlichen Privilegierungen und Deprivilegierungen dar, mit denen Menschen durchs Leben gehen. Aus dieser Vorstellung heraus können unterschiedliche Fragen gemeinsam erarbeitet werden und so die strukturelle Ebene erarbeitet und aufgezeigt werden.

Warum ist es wichtig, dass mit Kindern nicht nur über Diversität und Rassismus gesprochen wird, sondern den Kindern auch Praktiken vorgelebt werden, die Diversität und Rassismus ernst nehmen?

Weil Kinder im Alltag vieles über Beobachtung und Nachahmung lernen. Vieles nehmen sie aus ihrer Umgebung auf, ohne dass wir explizit und direkt mit ihnen darüber sprechen. Dies ist sehr prägend und oftmals unbewusst.

Welche Bedeutung hat Empowerment von rassismusbetroffenen Kindern in ihrer Entwicklung?

Empowerment ist die Selbstermächtigung und die Selbstbestimmung von benachteiligten Menschen innerhalb einer Gesellschaft. Empowerte Menschen verfügen über eine Erweiterung ihrer Selbstwirksamkeit. Sie haben gelernt, rassistische Strukturen zu erkennen und als solche einzuordnen, sie können Verantwortung für sich übernehmen und sehen für sich und ihr Leben auch andere Gestaltungsmöglichkeiten, als ihnen im Rahmen der stereotypischen Zuordnungen oftmals zugeschrieben wird. Empowerment bedeutet für Kinder eine Stärkung ihrer Ich-Entwicklung, eine stabile emotionale und psychische Entwicklung. Wir führen übrigens auch Empowermenttreffen für Familien mit BIPOC-Kindern durch, das nächste Treffen findet Anfang April in Bern statt.

Was wünschst du dir zum internationalen Tag gegen Rassismus?

Ich wünsche mir, dass das Bewusstsein der Existenz von Rassismus gefördert wird und antirassistische Handlungen und Aktionen das ganze Jahr andauern. Denn antirassistisch sein ist keine Eintagsfliege, wir brauchen 365 Tage gegen Rassismus.

Eine Auswahl an antirassistischen Kinder- und Jugendbüchern und begleitende Bücher zum Thema für Erwachsene finden Sie hier: