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Die Rechte von Sexarbeitenden werden durch Kriminalisierung der Kundschaft beeinträchtigt

20.10.2025

In den letzten Monaten ist das «nordische» Modell – das insbesondere darauf abzielt, die Kundschaft von Sexarbeitenden zu bestrafen – in der politischen Debatte in der Schweiz wieder aufgetaucht. Die bisherigen Erfahrungen und verschiedene Studien zeigen jedoch, dass das Verbot des Kaufs sexueller Dienstleistungen die Situation der Sexarbeitenden verschlechtert und ihre Rechte schwächt.

Gastkommentar von Carine Maradan, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei ProCoRe

Im Rahmen des «nordischen» Modells dürfen Sexarbeitenden sexuelle Dienstleistungen anbieten, aber ihre Kundschaft und alle Personen, die sie unterstützen (Wohnungseigentümer*innen, Kolleg*innen, Partner*innen usw.), werden bestraft. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass das Verbot des Kaufs sexueller Dienstleistungen die Prostitution nicht verschwinden lässt. Es gewährleistet auch keinen besseren Schutz der Sexarbeitenden, sondern verschlechtert im Gegenteil ihre Situation, setzt sie Menschenrechtsverletzungen aus und erschwert ihnen den Zugang zur Justiz.

Auf internationaler Ebene lehnen Menschenrechtsorganisationen dieses Modell ab. In der Schweiz wurde 2024 eine Koalition aus 12 Verbänden und Kollektiven von Sexarbeitenden gegründet, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeitenden nachhaltig zu verbessern und gleichzeitig Gewalt und Ausbeutung zu bekämpfen. Sie setzt sich ein für einen menschenrechtsbasierten Ansatz, die Entkriminalisierung der Sexarbeit und den Einbezug von Sexarbeitenden in Entscheidungen, die sie betreffen.

Sexarbeit: Der rechtliche Rahmen in der Schweiz

In der Schweiz ist heterosexuelle Prostitution zwischen volljährigen Personen seit 1942 legal. Sie wird durch die Wirtschaftsfreiheit geschützt (Art. 27 BV). 1992 wurden im Rahmen der Strafrechtsrevision die Bedingungen festgelegt, unter denen Sexualität – ob gegen Entgelt oder nicht – ausgeübt werden darf: Alle beteiligten Personen müssen freiwillig und einvernehmlich handeln, und ihre körperliche und geistige Unversehrtheit muss gewahrt bleiben. In seinem Urteil vom 8. Januar 2021 hat das Bundesgericht den Charakter der «Sittenwidrigkeit» von Verträgen im Sexgewerbe aufgehoben. Vertragliche Vereinbarungen zwischen Sexarbeitenden und ihren Kund*innen sind nun zulässig. Folglich können Sexarbeitende rechtliche Schritte einleiten, um die Begleichung ausstehender Honorare zu erwirken.

Das Gesetz unterscheidet klar zwischen Sexarbeit und Menschenhandel, der als Straftat und Verletzung der Menschenrechte gilt (Art. 182 StGB). Die Anwendung von Zwang ist strafbar, ebenso wie das Ausnutzen der Entscheidungsfreiheit eines Opfers, beispielsweise durch Falschaussagen über die Arbeitsbedingungen, durch Missbrauch eines Machtverhältnisses oder einer «Notlage». Während Sexarbeit legal ist, wird die «Förderung der Prostitution» strafrechtlich verfolgt (Art. 195 StGB). Unter diesem Straftatbestand fällt es, eine Person zur Prostitution zu drängen, sie in der Prostitution zu halten, sie zu überwachen oder auszubeuten.

Die für die Regulierung der Sexarbeit zuständigen Kantone und Städte haben seit den 2000er Jahren begonnen, Gesetze und Verordnungen zu Prostitution zu erlassen. So werden beispielsweise die Zonen festgelegt, in denen Strassenprostitution erlaubt ist – in der Regel mit dem Ziel, die örtliche Ausdehnung begrenzen. Die Bedingungen für die Eröffnung und den Betrieb eines Salons sind geregelt und formalisiert. In einigen Kantonen müssen sich Sexarbeitenden vorab bei der Polizei registrieren lassen, um legal arbeiten zu können. In anderen Kantonen dürfen sie nicht in Wohnungen arbeiten.

Dieses komplexe System, das sich je nach Ort unterscheidet, stellt für Sexarbeitenden, die in der Regel sehr mobil sind, eine echte Herausforderung dar. Einige arbeiten unwissentlich illegal. Sie müssen hohe Geldstrafen zahlen und werden häufig von der Polizei kontrolliert. Die kantonalen und kommunalen Vorschriften führen zu einer Art Kriminalisierung der Sexarbeit «durch die Hintertüre».

Für Sexarbeitenden schwer durchsetzbare Rechte

Zusätzlich zu diesen administrativen Hindernissen berichten viele Sexarbeitende, dass sie aufgrund der Stigmatisierung ihres Berufs zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie stehen unter Stress und trauen sich aus Angst vor Verurteilung nicht, über ihre Tätigkeit zu sprechen. Nach negativen Erfahrungen mit Gesundheitspersonal oder Behörden ist ihr Vertrauen in diese Institutionen erschüttert. Der Zugang zu Gesundheitsangeboten kann auch durch andere Faktoren behindert werden, wie mangelnde Sprachkenntnisse, fehlende finanzielle Mittel oder Informationen und sogar das Fehlen einer Aufenthaltsgenehmigung oder Krankenversicherung.

Zusätzlich zur Phobie gegen Sexarbeitende («Putophobie ») sind diese Opfer vielfältiger Diskriminierungen. Da derzeit die Mehrheit der Sexarbeitenden Frauen mit Migrationsgeschichte sind, die oft in prekären Verhältnissen leben, sind sie mit Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Klassismus konfrontiert. Trans- und homosexuelle Menschen sind zudem mit Transphobie und Homophobie konfrontiert.

Diese verschiedenen Probleme tragen zur Prekarisierung von Sexarbeitenden bei. Sie erhöhen das Risiko von Gewalt und Ausbeutung, das in der Sexarbeit wie auch in anderen Wirtschaftsbereichen (Bauwesen, Pflege, Gastronomie usw.) besteht.

Kontraproduktiven Folgen des «nordischen» Modells

Das «nordische» Modell wird oft als Lösung für Gewalt und Ausbeutung präsentiert, hat jedoch nicht die von seinen Befürworter*innen erhofften Auswirkungen auf den Alltag der Sexarbeitenden. Im Juni 2023 zeigte ein Artikel in der Zeitschrift «The Lancet», dass das Verbot des Kaufs sexueller Dienstleistungen das Risiko von Gewalt gegen Sexarbeitende erhöht. Andere Studien bestätigen die Beobachtungen von Organisationen, die vor Ort tätig sind: Dieses Modell verschlechtert die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeitenden. Schweden war 1999 das erste Land, das diese Gesetzgebung umsetzte, gefolgt von Norwegen, Island, Finnland, Frankreich, Nordirland, Kanada und Israel. Seit der Einführung des neuen Gesetzes in Frankreich im Jahr 2016 berichten laut einer Studie von Médecins du Monde 63 % der Sexarbeitenden von einer Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen (Isolation, Stress usw.). 38 % gaben an, dass es schwieriger geworden sei, die Verwendung von Kondomen zu verlangen. Die Verbreitung von Syphilis hat zugenommen und die polizeilichen Repressionen wurden verschärft. Sexarbeitende haben Angst, ausgewiesen zu werden, ihre Wohnung zu verlieren oder der Zuhälterei beschuldigt zu werden.

Im Jahr 2023 setzte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein starkes Zeichen, indem er die Klage von 261 Sexarbeitenden gegen das nach nordischem Vorbild ausgearbeitete französische Gesetz annahm. Sein Urteil bleibt jedoch zwiespältig: Der Gerichtshof erkennt die von den Beschwerdeführenden beschriebenen negativen Auswirkungen dieser Gesetzgebung an, ohne jedoch eindeutig zu bestätigen, dass sie direkt auf die Kriminalisierung der Kunden zurückzuführen sind, da Gewalt und Risiken bereits vor der Einführung des Gesetzes im Jahr 2016 bestanden hatten.

Trotz dieser Feststellungen und der Tatsache, dass sich der Bundesrat stets gegen die Einführung des «nordischen» Modells ausgesprochen hat (Bericht 2014–2015, Stellungnahme von Beat Jans im März 2025), möchten mehrere Politiker*innen dieses Modell in der Schweiz wieder auf die Tagesordnung setzen (Interpellation, Stellungnahme).

Menschenrechte auf dem Spiel

Menschenrechtsorganisationen und mehrere Organe der Vereinten Nationen sprechen sich klar gegen solche politischen Initiativen aus und argumentieren, dass die Kriminalisierung der Sexarbeit – zu der auch das «nordische Modell» gehört – eine Verletzung der Menschenrechte darstellt. In einem Bericht über Sexarbeit empfehlen mehrere UNO-Expert*innen den Staaten, ihre geltenden Gesetze zu überarbeiten, um Sexarbeit zu entkriminalisieren.

In der Schweiz schließen sich Vereinigungen zur Verteidigung der Sexarbeitenden und die Koalition für die Rechte der Sexarbeitenden diesen Empfehlungen an. Jahrzehntelange Erfahrung in der Beratung und Sozialarbeit vor Ort zeigen, dass Lösungen zur Verbesserung des Schutzes von Sexarbeitenden anderswo zu finden sind. Sie liegen in der Schaffung legaler und sicherer Migrationswege sowie in der Entstigmatisierung und Entkriminalisierung der Sexarbeit. Eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen ist nur durch die Stärkung der Rechte von Sexarbeitenden möglich. Kollektive von Sexarbeitenden vertreten seit Jahren dieselbe Position. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ihre Stimme und ihr Fachwissen endlich in dieser Debatte berücksichtigt werden.

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