28.10.2025
Am 28. Oktober 2025 veröffentlicht das Netzwerk Istanbul Konvention seinen Parallelbericht und bewertet die staatliche Umsetzung mit der Gesamtnote 3,0. Acht Jahre nach der Ratifizierung bleibt der Schutz vor Geschlechtsbezogener Gewalt in der Schweiz weiterhin ungenügend, trotz punktueller Fortschritte. Besonders eklatant sind Lücken in der Finanzierung, föderalistischen Fragmentierung und im Einbezug von Intersektionalität.
Medienmitteilung des Netzwerks Istanbul Konvention
Der heute veröffentlichte Parallelbericht des Netzwerks Istanbul Konvention zieht eine ernüchternde Bilanz: Die Schweiz erfüllt weiterhin ihre zentralen Verpflichtungen zum Schutz vor Geschlechtsbezogener Gewalt nicht. Während der Bundesrat in seinem zweiten Staatenbericht vom 26. September Fortschritte hervorhebt, zeigt die Zivilgesellschaft, dass ungenügende finanzielle Ressourcen, ein Flickenteppich kantonaler Zuständigkeiten und ein fehlender intersektionaler Ansatz nach wie vor eine wirksame Gewaltprävention und den Schutz Betroffener verhindern.
«Die Bewertung 3,0 ist das Resultat einer Politik, die unseren Schutz und unsere Sicherheit nicht ernst nimmt. Unser Parallelbericht ist ein dringender Appell zum Handeln. Denn ohne eine nachhaltige Gesamtstrategie mit klaren Zuständigkeiten bleibt die Istanbul Konvention ein leeres Versprechen auf dem Papier.» Julia Meier, Verantwortliche Politische Arbeit, Brava – ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz
Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück in Gleichstellung und Gewaltschutz
Die markante Zunahme Geschlechtsbezogener Gewalt im Jahr 2025 ist alarmierend und verdeutlicht den strukturellen Rückstand der bestehenden Massnahmen zum effektiven Schutz betroffener Personen. Trotz einiger Fortschritte auf gesetzlicher Ebene geraten feministische und queere Anliegen zunehmend unter Druck und rechtspopulistische Stimmen gewinnen an Einfluss. Ohne eine verbindliche nationale Strategie bleiben diese Ansätze fragmentarisch und wenig wirksam.
Mangelnde Ressourcen und föderale Ungleichheit
Das Netzwerk Istanbul Konvention bemängelt insbesondere, dass die Bundesebene bis heute keine verbindliche Gesamtstrategie geschaffen hat. Die Umsetzung der Istanbul Konvention bleibt auf verschiedene Instrumente und Akteur_innen zersplittert und die kantonalen Unterschiede sind enorm. Dies führt dazu, dass Betroffene einer bürokratischen Willkür ausgesetzt sind und je nach Wohnort stark ungleiche Zugänge zu Schutz und Unterstützung haben. Eine barrierefreie Schutzunterkunft, eine Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt oder inklusive Sexualbildung bleiben aktuell eine Glückssache.
«Um die wichtige Arbeit der Frauenhäuser langfristig zu sichern, braucht es eine objektorientierte Finanzierung mit festen Sockelbeiträgen in allen Kantonen. So können alle Kosten gedeckt und Planungssicherheit gewährleistet werden, denn der Schutz vor Gewalt darf nicht vom Wohnkanton abhängen.» – Blertë Berisha, Co- Geschäftsleitung, DAO (Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein)
Was sich bei den Frauenhäusern zeigt, steht stellvertretend für ein grundsätzliches Problem im Schutzsystem. Es fehlen verbindliche Finanzierungsmechanismen, um Beratungsstellen, Präventionsprogramme und spezialisierte Angebote langfristig zu sichern und zu entlasten. Fehlende Ressourcen hemmen alle vier Säulen (Prävention, Schutz, Strafverfolgung und koordinierte Politik) der Istanbul Konvention.
Intersektionale Umsetzung als Voraussetzung für Gerechtigkeit
Besonders intersektionale Perspektiven, die Rassismus, Behinderung, Migration, Sucht, Alter und Armut mitdenken, bleiben in der Schweizer Politik weitgehend unbeachtet. Das Netzwerk Istanbul Konvention betont, dass Intersektionalität nicht heisst, einzelne Zielgruppen gesondert zu adressieren, sondern alle Massnahmen so zu gestalten, dass unterschiedliche Lebensrealitäten von Beginn an berücksichtigt werden.
«Wenn ich gesehen habe, wie das Personal täglich mit Geflüchteten umgegangen ist, habe ich mich nicht getraut, ihnen von meinem Fall geschlechtsspezifischer Gewalt zu erzählen. Es gibt keine Vertraulichkeit – Informationen werden in Form von Klatsch durch Dritte weitergegeben.» – Zitat aus dem Projekt “Stimmen geflüchteter Frauen”, Brava – ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz
«Gewaltbetroffene Migrant_innen, Asylsuchende und Sans-Papiers haben in der Schweiz kaum Zugang zu psychologischer oder psychosozialer Unterstützung. Fehlende Therapieplätze, Sprachbarrieren, Kosten oder die Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen verhindern, dass besonders vulnerable Personen Hilfe erhalten.» – Georgiana Ursprung, Fachwissen und Advocacy, FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration
«Menschen mit Behinderungen werden in der Gewaltprävention und im Schutzsystem systematisch übersehen. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck struktureller Ausgrenzung auf allen Ebenen. Wer Gewalt wirklich beenden will, muss zwingend ungleiche Machtverhältnisse abbauen und Strategien gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen entwickeln.» – Netzwerk Charta Prävention
«Kinder sind eigenständige Betroffene mit klaren Rechten. Es muss dringend sichergestellt werden, dass diese Rechte überall in der Schweiz gleichermassen gelten. Dazu gehört vor allem eine gesetzliche Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung, besserer Schutz im digitalen Raum und eine Prävention, die alle Kinder erreicht.» – Regula Bernhard Hug, Direktorin, Kinderschutz Schweiz
Die Beispiele der Fachstellen und Betroffenen machen deutlich, dass Angebote barrierefrei und diskriminierungssensibel gestaltet sein müssen, Fachpersonen intersektional geschult werden und Datenanalysen die Mehrfachbetroffenheit sichtbar machen müssen. Nur so kann strukturelle Gewalt wirksam abgebaut werden.
Die Istanbul Konvention ist ein zentrales Instrument zur Bekämpfung und Prävention von Geschlechtsbezogener, Häuslicher und Sexualisierter Gewalt. Ihre konsequente Umsetzung muss oberste Priorität haben.
Entsprechend den Verpflichtungen der Konvention fordern wir dringend:
- eine umfassende nationale Gesamtstrategie (Art. 7 IK)
- genügend personelle und finanzielle Ressourcen (Art. 8 IK)
- einen intersektionalen Ansatz (Art. 4 Abs. 3 IK)
- verbindliche Koordination und Einbezug der Zivilgesellschaft (Art. 9 IK)
Der gesamte Bericht des Netzwerks Istanbul Konvention inkl. Vertiefungsberichte diverser NGOs findet sich hier.

