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Verkehrsüberwachung: Bundesgericht bremst automatisierte Datensammlung

22.05.2025

Das Bundesgericht hat mehrere Bestimmungen des 2022 vom Luzerner Kantonsrat verabschiedeten kantonalen Polizeigesetzes für nichtig erklärt, die Massnahmen zur Verkehrsüberwachung und Datenerhebung durch automatisierte Fahrzeugfahndung erlauben. Das Urteil stärkt den Schutz der Privatsphäre und setzt den kantonalen Gesetzgebungen zur polizeilichen Überwachung Grenzen.

In seinem Urteil vom 17. Oktober 2024 hob das Bundesgericht die Luzerner Vorschriften zur automatisierten Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung sowie das Projekt einer landesweiten Plattform für den Austausch von Polizeidaten auf, da diese Maßnahmen einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte darstellen würden. Gegen die Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes des Kantons Luzern (PolG/LU) war eine Beschwerde eingereicht worden, nachdem diese im Oktober 2022 vom Luzerner Grossen Rat angenommen worden waren.

In einem früheren Urteil vom 29. November 2022 hatte das Bundesgericht bereits die automatisierte Fahrzeugfahndung des 2020 verabschiedeten kantonalen Polizeigesetzes des Kantons Solothurn (KapoG/SO)  für nichtig erklärt. Das jüngste Urteil des Bundesgerichts hat Auswirkungen auf andere Kantone: Freiburg hat seinen Entwurf zur Änderung des kantonalen Polizeigesetzes (LPol/FR) zurückgezogen, der ebenfalls die automatisierte Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung einführen wollte. In Bern sind entsprechende Gesetzesbestimmungen noch in Kraft, hingegen wird auch hier das Bundesgericht in Kürze darüber entscheiden, da auch gegen das Berner Polizeigesetz (LPol/BE) Beschwerde eingelegt wurde. humanrights.ch hat sich dieser Beschwerde angeschlossen.

Eine Erweiterung der automatisierten Fahrzeugsuche und Verkehrsüberwachung...

Die Automatisierte Fahrzeugsuche und Verkehrsüberwachung (AFV) ist ein optisches Erkennungssystem, das mithilfe von Kameras auf Straßen die Nummernschilder und ein Bild der Personen in den fahrenden Fahrzeugen erfasst. Diese Daten werden dann mit den Ausschreibungsverzeichnissen und Fahndungsaufträgen der Polizei abgeglichen. Damit wird überprüft, ob verdächtige Fahrzeuge, die aus einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hervorgehen, eine entsprechende Straße befahren haben. Zusätzlich werden die Richtung und die Zeit der Durchfahrt angegeben. Mit diesem System können praktisch unbegrenzt viele Daten gesammelt und analysiert werden.

Die 2022 verabschiedete Luzerner Regelung erlaubte es der Kantonspolizei die erfassten Informationen 100 Tage lang zu speichern, um sie zur Verfolgung von Straftaten oder zur Suche nach vermissten oder gesuchten Personen zu verwenden. Diese zunehmend intensivere polizeiliche Überwachung alarmierte das Bundesgericht. Da es für die AFV keine gesetzlichen Beschränkungen gibt, könnte sie in Zukunft von Systemen unterstützt werden, die die automatisierte Verarbeitung großer Mengen personenbezogener Daten sowie die automatisierte Entscheidungsfindung auf der Grundlage eines Algorithmus ermöglichen. Das Bundesgericht kritisiert auch die zu große Zugänglichkeit der von der AFV gesammelten Daten, die von den Polizeikräften direkt von einem Laptop in ihrem Dienstwagen oder sogar über ihr Mobiltelefon abgerufen werden können. Die automatisierte Fahrzeug- und Verkehrsüberwachungsfahndung ermöglicht zudem einen automatischen Abgleich der gesammelten Daten mit anderen Fahndungsdateien, was dem Grundsatz des polizeilichen Einschreitens aufgrund eines konkreten Verdachts oder eines besonderen Ereignisses zuwiderläuft.

... die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedroht

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ergibt sich aus dem Recht auf Schutz der Privatsphäre, das in der Bundesverfassung garantiert wird (Art. 13 Abs. 2 BV). Dieses Recht besagt, dass "jede Person Anspruch auf Schutz vor Missbrauch der sie betreffenden Daten hat" und gilt für Situationen, die sich sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum abspielen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt in erster Linie vor dem Missbrauch persönlicher Daten, deckt aber auch alle datenbezogenen Aktivitäten des Staates ab (BGE 145 IV 42).

Der Staat kann die Grundrechte einschränken, sofern eine ausreichende gesetzliche Grundlage vorhanden ist, ein öffentliches Interesse besteht und der Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet wird (Art. 36 BV). Wenn der Eingriff in ein Grundrecht schwerwiegend ist, ist eine gesetzliche Grundlage und ein hoher Grad an Präzision erforderlich. Im vorliegenden Fall de Luzerner Polizeigesetzes wurde es verpasst, die Bedingungen für den Einsatz von intelligenter Technologie und automatisierter Gesichtserkennung zu konkretisieren. Das Bundesgericht war der Ansicht, dass die Gesetzgebung erforderliche Genauigkeit nicht erfüllte. Nach Ansicht der Richter stellt der Einsatz intelligenter Analysesysteme, insbesondere die automatisierte Gesichtserkennung, einen schweren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar: Die Kombination von Aufzeichnungen aus der AFV mit anderweitig erhobenen Daten erlaubt die Erstellung von Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen, was Grundrechte verletzen kann. Das Bundesgericht sieht in der umfangreichen Aufzeichnung, Auswertung und Speicherung von Daten einen unverhältnismässigen Eingriff in die Grundrechte. Denn entsprechende Massnahmen gehen in Richtung einer Massenüberwachung, die in einer demokratischen Gesellschaft nicht gerechtfertigt werden kann.

Thurgauer-Urteil als Grundlage

In einem Urteil von 2018 hatte das Bundesgericht die Rechtmässigkeit des Einsatzes der automatisierten Fahrzeugsuche und Verkehrsüberwachung im Kanton Thurgau untersucht und die AFV bereits damals als schweren Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung bezeichnet. Die Richter*innen hatten nämlich festgestellt, dass "die Möglichkeit einer späteren (geheimen) Nutzung durch die Behörden und das damit verbundene Gefühl der Überwachung ("chilling effect" oder "Abschreckungseffekt") die Selbstbestimmung erheblich beeinträchtigen kann" (BGE 146 I 11). Die Bundesrichter*innen hatten die mit dieser Methode gesammelten Beweise gegen einen Fahrzeuglenker ohne Führerausweis als unrechtmäßig eingestuft, weil das Thurgauer Polizeigesetz (PolG/TG) keine ausreichende Rechtsgrundlage für den Einsatz dieser Technologien biete.

Notwendigkeit einer föderalen gesetzlichen Grundlage

Die automatisierte Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung dient der Strafverfolgung. Die Kantone verfügen in diesem Bereich hingegen nur über eine Restkompetenz, die sich auf präventive Überwachungsmassnahmen unabhängig von einem Straftatverdacht beschränkt (BGE 140 I 353); die Überwachung im Zusammenhang mit der Strafverfolgung unterliegt dem Bundesrecht. Die Verwendung der AFV zur Identifizierung von Täter*innen verlangt somit eine gesetzliche Grundlage in der Strafprozessordnung (StPO).

Einige Kantone, darunter Luzern, haben gesetzliche Grundlagen verabschiedet, um am Projekt der Nationalen Polizeifahndungsplattform (POLAP) teilnehmen zu können, das derzeit entwickelt wird. Dieses zielt darauf ab, den Zugang zu den polizeilichen Informationssystemen des Bundes und der Kantone durch ein System zu zentralisieren, das einen direkten Zugriff auf die Daten durch ein automatisches Abrufverfahren vorsieht, ohne dass zuvor ein Amtshilfeersuchen gestellt werden muss, das die durchzuführenden Kontrollen erschwert. Hingegen erinnert das Bundesgericht in den verschiedenen Urteilen zu den Polizeigesetzen daran, dass ein solches Verfahren auf einer ausreichenden Rechtsgrundlage beruhen und verhältnismäßig sein muss. Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) Adrian Lobsiger lehnte die Einrichtung der POLAP-Plattform mit der Begründung ab, dass keine Beschränkung auf schwere Verbrechen vorgesehen war, obwohl dessen Einsatz insbesondere auf die Bekämpfung des Terrorismus und der schweren Kriminalität abzielt. Der Datenschutzbeauftragte ist der Ansicht, dass die zentrale Verarbeitung von Daten über Bagatelldelikte unverhältnismäßig ist.

Automatisierte Gesichtserkennung und die Gefahr der Diskriminierung

Die Identifizierung von Tätern und Täterinnen von Verbrechen und Vergehen spielt eine zentrale Rolle bei der Strafverfolgung, insbesondere im Bereich von Wiederholungsstraftaten. In der Schweiz stützt sich die Polizei bei der Verhinderung und Aufklärung solcher Straftaten auf interkantonale Analysesysteme (PICAR und PICSEL), die als Datenbank mit manuell erfassten Daten dienen. In diesem Zusammenhang sieht das Luzerner Polizeigesetz den Einsatz neuer "intelligenter" algorithmischer Systeme vor, die automatisierte Entscheidungen auf der Grundlage von Algorithmen oder künstlicher Intelligenz ermöglichen. Diese Systeme nutzen insbesondere biometrische Daten wie Fingerabdrücke oder automatisierte Gesichtserkennung. Die Gesetzgebung in Luzern erlaubt es also, sensible Daten einer großen Anzahl von Personen automatisiert auszuwerten, unabhängig vom ursprünglichen Zweck ihrer Erhebung.

Diese Technologien stellen ein großes Risiko für die Menschenrechte dar, da ihnen eine diskriminierende Voreingenommenheit aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Alter oder Geschlecht inhärent ist und sie diese reproduzieren können. Es besteht somit die Gefahr, dass diese Personen zu Unrecht Ziel polizeilicher Maßnahmen werden (Phänomen der "false positives"). In seinem aktuellen Urteil verweist das Bundesgericht unter anderem auf ein Positionspapier von AlgorithmWatch CH zum Schutz vor algorithmischer Diskriminierung.

Der Europäische Datenschutzausschuss (EDSB), der Leitlinien zur Nutzung der Gesichtserkennungstechnologie im Bereich der Strafverfolgung (05/2022) verabschiedet hat, ist der Ansicht, dass die biometrische Fernidentifizierung von Personen in öffentlich zugänglichen Räumen ein hohes Risiko des Eindringens in die Privatsphäre birgt und in einer demokratischen Gesellschaft nicht akzeptabel sein kann, da sie eine Massenüberwachung darstellt. Die Digitale Gesellschaft weist darauf hin, dass der automatisierte Informationsaustausch praktisch unbegrenzten Zugriff auf Polizeidatenbanken in der ganzen Schweiz ermöglicht, wodurch detailliert verfolgt werden kann, wie sich die Menschen bewegen.

Das Bundesgericht schliesst in seinem aktuellen Urteil weder die automatisierte Fahrzeugsuche und Verkehrsüberwachung noch die Gesichtserkennung oder die POLAP-Plattform aus, erklärt Sylvain Métille, ein auf Datenschutz spezialisierter Rechtsanwalt. Er erinnert daran, dass das Bundesgericht in allen drei Fällen verlangt, dass ein Gesetz die Bedingungen und Grenzen genau vorsehen und die Schwere des Eingriffs in die Privatsphäre berücksichtigt werden muss.  Laut dem Automatisierungsatlas von Algorithm Watch CH nimmt die Automatisierung der Überwachung zu. Angesichts der Risiken, die dies für Menschenrechte mit sich bringt, muss dieser Bereich besonders beobachtet werden.