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Transplantationsgesetz: eine menschenrechtliche Perspektive

12.05.2022

Am 15. Mai stimmen die Schweizer Stimmbürger*innen über eine Änderung im Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz) ab. Der Gesetzesentwurf, gegen den am 15. März 2022 das Referendum zustande kam, enthält eine sogenannte «erweiterte Widerspruchslösung». Wer nach dem Tod keine Organe spenden möchte, soll dies neu festhalten müssen. Die Angehörigen der verstorbenen Person müssen in den Entscheidungsprozess für eine Organspende jedoch miteinbezogen werden. Dies stellt einen Paradigmenwechsel dar: In der Schweiz gilt bis anhin die «erweiterte Zustimmungslösung», wonach einer verstorbenen Person Organe, Gewebe oder Zellen nur entnommen werden dürfen, wenn sie vor ihrem Tod eingewilligt hat.

Die Änderungen im Transplantationsgesetz wurden durch eine im März 2019 eingereichte Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» angeregt. Diese forderte ebenfalls die Einführung einer «Widerspruchslösung», jedoch ohne die Rechte der Angehörigen explizit zu verankern. Der Bundesrat stellte der Initiative im September 2019 den indirekten Gegenvorschlag mit der «erweiterten Widerspruchslösung» gegenüber, welcher im Oktober 2021 vom Parlament angenommen wurde. Das Initiativkomitee hat angekündigt, seine Initiative bei in Kraft treten des indirekten Gegenvorschlages zurückzuziehen.

Mangel an Organen

In der Schweiz ist die Wartezeit für eine Organspende lang. Im Jahr 2021 standen 1’434 Personen auf der Warteliste für ein Spender*innenorgan, wobei 72 während der Wartezeit verstorben sind. Organtransplantationen können Leben retten oder die Lebensqualität der Empfänger*innen entscheidend verbessern. Aus diesem Grund ist es von grosser Bedeutung, dass alle Organe, die Menschen nach ihrem Tod spenden können und wollen, auch tatsächlich transplantiert werden.

Gemäss der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften ist in der Mehrheit der Fälle, in welchen eine Organspende nach dem Tod medizinisch möglich wäre, der Wille der verstorbenen Person nicht bekannt. Im Jahr 2021 befanden sich lediglich 130’000 Personen im Register von Swisstransplant – der vom Bund beauftragten Stiftung, welche die Warteliste der Organempfänger*innen verwaltet und für die gesetzeskonforme Verteilung der Organe zuständig ist. Es wird jedoch geschätzt, dass die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung eine Spende der eigenen Organe befürwortet – gemäss zweier Studien zwischen 53 und 80 Prozent. Ist der Wille einer verstorbenen Person nicht bekannt, neigt laut dem Generaldirektor des Universitätsklinikums des Kantons Waadt jedoch die Hälfte der Angehörigen im Zweifelsfall dazu, eine Organspende abzulehnen. Die psychische Belastung, die mit der Ankündigung eines oft plötzlichen oder unfallbedingten Todes einhergeht und die Tatsache, anstelle der verstorbenen Person entscheiden zu müssen, stellen für die Angehörigen eine grosse Belastung dar.

Trotzdem bleib die Organspenderate in der Schweiz weit hinter derjenigen der meisten westeuropäischen Länder zurück, welche grösstenteils eine Widerspruchslösung – welche nun auch in der Schweiz zur Debatte steht – anwenden. Es besteht also eine positive Korrelation zwischen diesem Modell und der Spender*innenquote. Ein Kausalzusammenhang konnte bisher jedoch nicht nachgewiesen werden. In Polen und Luxemburg ist die Organspenderate trotz der Einführung der Widerspruchslösung niedriger als in der Schweiz. In anderen Ländern wie Australien und den USA ist die Spender*innenrate mit der Einführung der Zustimmungslösung – Organspende nur bei Einwilligung – gar gestiegen. Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) vertritt aus diesem Grund in einer Stellungnahme die Ansicht, dass ein Modellwechsel nur dann in Betracht gezogen werden sollte, wenn tatsächlich nachgewiesen werden kann, dass dieser zu einer Erhöhung der Spender*innenzahlen oder einer anderen Verbesserung des Transplantationssystems führt.

Der Mangel an legal verfügbaren Organen führt nicht zuletzt zu Organhandel und Transplantationstourismus. Gemäss dem Global Financial Integrity Report 2017 kommt es jedes Jahr zu fast 12’000 illegalen Transplantationen weltweit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont: Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage führt dazu, dass Patient*innen versuchen, sich illegal ein Organ zu beschaffen – oft anhand von Reisen in Länder mit mangelhaften Transplantationsgesetzen. Aus diesem Grund verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2020 eine Resolution, anhand welcher die Mitgliedstaaten ermutigt wurden, im Transplantationsbereich die Selbstversorgung anzustreben. Namentlich sollen sie Massnahmen ergreifen, um die Zahl der Organspender*innen zu erhöhen. Die Erhöhung der Anzahl verfügbarer Organe ist gemäss der Medizinethikerin Samia Hurst von zentraler Bedeutung, da die stagnierenden oder sogar wachsenden Wartelisten für Organspenden den illegalen Handel ankurbeln. Aufgrund der bestehenden illegalen Praktiken hat auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates ihre Vertragsstaaten in einer Resolution aus dem Jahr 2020 dazu aufgerufen, die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage von Organspenden zu schliessen, das Bewusstsein der potentiellen Spender*innen für den Bedarf mittels nationaler Kampagnen zu schärfen und die Bevölkerung zur Organspende zu ermutigen

Ein Paradigmawechsel

In der Schweiz gilt aktuell die erweiterte Zustimmungslösung: Einer verstorbenen Person dürfen Organe, Gewebe oder Zellen nur entnommen werden, wenn sie vor ihrem Tod eingewilligt hat. Die Zustimmung für eine Organspende kann entweder schriftlich festgehalten werden – durch einen Organspendeausweis, einen Eintrag im nationalen Organspenderegister sowie mittels einer Patient*innenverfügung – oder sie kann mündlich den Angehörigen oder einer Vertrauensperson mitgeteilt werden. Wenn keine Ablehnung, Zustimmung oder sonstige Erklärung vermerkt oder auf andere Weise unmittelbar erkennbar ist, werden die Angehörigen befragt, ob sie Kenntnis von der Existenz einer solchen Erklärung haben. Bleibt der Wille der verstorbenen Person unbekannt, entscheiden die Angehörigen gemäss dem mutmasslichen Willen über die Organspende.

Demgegenüber beruht die Widerspruchslösung auf dem Grundsatz, dass jede Person eine Organspenderin ist, sofern sie sich nicht ausdrücklich dagegen ausspricht. Solange sie keine anderweitige Entscheidung getroffen hat, wird ihre Einwilligung vorausgesetzt. Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK hat sich bereits im Jahr 2012 gegen dieses Modell ausgesprochen. Sie ist der Ansicht, dass das Schweigen der potenziellen Spender*innen nicht zwangsläufig einer Zustimmung gleichkommt. Zudem gefährde die Widerspruchslösung die Persönlichkeitsrechte, denn sie könne dazu führen, dass Personen ohne das erforderliche Einverständnis ihre Organe entnommen werden.

Die erweiterte Widerspruchslösung, über welche die Schweizer Stimmbevölkerung am 15. Mai abstimmt, sieht deshalb eine Konsultation der Angehörigen vor: Wenn keine Ablehnung, Einwilligung oder andere Erklärung zur Spendebereitschaft der verstorbenen Person vorliegen, können die Angehörigen die Entnahme unter Beachtung des mutmasslichen Willens der verstorbenen Person (Art. 8 Abs. 2 Gesetzesentwurf) aufgrund ihres Widerspruchsrechts (Art. 8c Abs. 4 Gesetzesentwurf) immer noch ablehnen. Darüber hinaus werden keine Organe entnommen, wenn die Angehörigen nicht erreichbar sind (Art. 8 Abs. 3 Gesetzentwurf). Mit Einführung der erweiterten Widerspruchslösung stellen die vorgeschlagenen Änderungen im Transplantationsgesetz einen Paradigmawechsel dar.

Erhebung des Spendewillens

Ob Zustimmungs- oder Widerspruchslösung, der Wille für oder gegen eine Organtransplantation muss auf irgendeine Art und Weise festgehalten werden. Heute existieren dazu weltweit unterschiedliche Konzepte und Meldesysteme: Spender*innenregister, Register für Personen, welche ihre Organe nicht spenden wollen, eine Kombination aus beidem oder andere Dokumente und Hilfsmittel, anhand welcher Personen ihren Willen zur Organspende kommunizieren können – so etwa mit Spender*innenausweisen, einem Vermerk auf dem Fahrausweis, anhand von Einträgen auf Internetportalen, in nationalen Registern oder bei der Gemeindeverwaltung, wobei die Koppelung der Willenserklärung an einen Verwaltungsakt die Hürden für einen Meinungswechsel erhöht.

Die zur Abstimmung stehende Gesetzesvorlage sieht vor, dass der Bund ein zentrales Organ- und Gewebespenderegister einrichtet, um den Willen der Personen datenschutzkonform festzuhalten (Art. 54, Abs. 2bis des Gesetzesentwurfs). Künftig könnte damit jede Person angeben, ob und welche Organe sie nach ihrem Tod spenden will oder nicht. Die Angaben könnten jederzeit geändert werden (SAMW, S.3) und es besteht keine Pflicht zur Registrierung. Die Einrichtung einer gut geschützten Datenbank ist von grosser Bedeutung, da eine Untersuchung im Computersystem von Swisstransplant jüngst die Befürchtung aufkommen liess, dass es zu Datenfälschungen gekommen ist.

Die Führung eines zentralen Registers entspricht auch den Forderungen der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin. Die NEK bevorzugt ein nationales Register, da so nur zugriffsberechtigte Personen und nur dann auf die Informationen zugreifen können, wenn sich die Frage nach einer Organspende konkret stellt. Zudem darf keine Person dazu verpflichtet werden, sich über ihre Bereitschaft zur Organ- und Gewebespende zu erklären. Wenn eine Person sich grundsätzlich nicht äussern will, dürfen zur Wahrung der Entscheidungsfreiheit keine Sanktionen oder Nachteile drohen. Ein ähnlicher Vorschlag wurde auch von einer Minderheit der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, welche mit der Prüfung des Gesetzesentwurfs beauftragt war, ausgearbeitet: Demnach sollte der Bund alle in der Schweiz wohnhaften Personen dazu auffordern, zur Organspende Stellung zu beziehen und ihre Meinung in einem Register zusammenstellen.

Die Organspende im nationalen Recht

Im Jahr 1999 wurde per Volksabstimmung die Verfassungsbestimmung über die Transplantationsmedizin (Art. 119a BV) angenommen. Darauf basiert das im Jahr 2004 erlassene Transplantationsgesetz, welches in Artikel 8 die aktuell geltende erweiterte Zustimmungslösung festhält. Das Transplantationsgesetz umfasst sechs Ausführungsverordnungen, so unter anderem die Transplantationsverordnung, die Organzuteilungsverordnung oder die Transplantationsgebührenverordnung.

Während die Rechtslage heute eindeutig ist, hat sich das Bundesgericht zu einem früheren Zeitpunkt bereits mit Alternativen zur Zustimmungslösung auseinandergesetzt. Der Kanton Genf führte im Jahr 1996 ein Gesetz mit Widerspruchslösung ein, woraufhin beim Bundesgericht eine Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte einging. In seinem Urteil kam es zum Schluss, dass die Widerspruchslösung aufgrund des öffentlichen Interesses an der Erhöhung der Organspender*innezahl eine verhältnismässige Lösung darstellt und keine Verletzung der Grundrechte bedeutet. Das Gericht befand, dass das gesetzlich vorgesehene Widerspruchsrecht des Beschwerdeführers oder seiner Angehörigen eine hinreichend klare gesetzliche Grundlage darstellt (E. 6 und 7). Zudem beruhe die Regelung auf einem legitimen öffentlichen Interesse (E. 8) und entspreche dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit – sofern die Bevölkerung angemessen aufgeklärt und die Pflicht zur Information der Angehörigen eingehalten werde (E. 9).

Die internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Auf internationaler Ebene bestehen unterschiedliche für die Schweiz massgebenden Vereinbarungen, welche die Transplantationsmedizin zum Gegenstand haben. Dazu gehören das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin und das dazugehörige Zusatzprotokoll, die Richtlinie der Weltgesundheitsorganisation zur Transplantation von menschlichen Zellen, Geweben und Organen sowie das Übereinkommen des Europarats gegen Handel mit menschlichen Organen. Die internationalen Vereinbarungen und Vertragsorgane haben sich bis heute nicht auf ein spezifisches Modell der Zustimmung oder des Widerspruchs festgelegt.

Das von der Schweiz im Jahr 2008 ratifizierte Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin äussert sich nicht zur Organspende nach dem Tod und sieht lediglich vor, dass eine Intervention im Gesundheitsbereich erst dann erfolgen darf, wenn die betroffene Person ihre informierte Zustimmung erteilt hat (Art. 5) – entweder schriftlich oder bei einer amtlichen Stelle (Art. 19 Abs. 2). Das Zusatzprotokoll über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin, welches von der Schweiz im Jahr 2010 ratifiziert wurde, lässt es den Vertragsstaaten frei im nationalen Recht festzulegen, unter welchen Bedingungen Organe, Gewebe oder Zellen bei einer verstorbenen Person entnommen werden dürfen. Es legt lediglich fest, dass die Frage der Zustimmung gesetzlich vorgesehen sein muss und dass gegen den Willen einer verstorbenen Person keine Organe, Gewebe oder Zellen entnommen werden dürfen (Art. 17). Das nationale Recht muss zudem bei Zweifeln über den Willen der verstorbenen Person ein Verfahren vorsehen (Erläuternder Bericht, S. 18).

Die erste Richtlinie der Weltgesundheitsorganisation zur Transplantation von menschlichen Zellen, Geweben und Organen macht die Entnahme von Organen Verstorbener für eine Transplantation davon abhängig, dass alle im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Zustimmungen vorliegen.

Das Übereinkommen des Europarats gegen den Handel mit menschlichen Organen verbietet schliesslich die Entnahme menschlicher Organe von verstorbenen Personen, sofern die Entnahme nicht nach innerstaatlichem Recht erlaubt ist. Die Schweiz hat dieses Übereinkommen im Jahr 2020 ratifiziert, womit sie Straftaten im Zusammenhang mit Organhandel auch dann strafrechtlich verfolgen muss, wenn sie im Ausland begangen werden; sofern sie von Schweizer Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz verübt worden sind (Art. 10 Abs. 1). Sie hat zum Zwecke von Ermittlungen und Verfahren zudem in grösstmöglichem Umfang mit den anderen Vertragsstaaten zusammenzuarbeiten (Art. 17 Abs. 1).

Auch von Seiten der verschiedenen Vertragsorgane gibt es bis heute keine Positionierung hinsichtlich der Zustimmungs- oder Widerspruchlösung. So hat sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bis anhin nie explizit zur Frage der Vereinbarkeit dieser Modelle mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geäussert. Demgegenüber hat er sich bereits mit den Rechten der Angehörigen auseinandergesetzt: Aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) fliesst das Recht der Angehörigen einer verstorbenen Person, sich für oder gegen die Entnahme von Organen oder Gewebe zu entscheiden (Elberte gegen Lettland). Wird dieser Anspruch im nationalen Recht eingeschränkt – etwa durch die Einführung der Widerspruchslösung – so muss die gesetzliche Regelung klar ein Vorgehen zum Einbezug der nächsten Angehörigen enthalten.

Recht auf persönliche Freiheit und Recht auf Leben: Eine Abwägung

Bei der Organspende sind unterschiedliche grund- und menschenrechtliche Ansprüche der verstorbenen Person und ihrer nächsten Angehörigen betroffen. Eine zentrale Bedeutung kommt dem Grundrecht auf persönliche Freiheit zu.

Das Recht auf persönliche Freiheit ist in der Bundesverfassung (Art. 10 Abs. 2 BV) und in mehreren von der Schweiz ratifizierten internationalen Verträgen festgehalten. So etwa in der Europäischen Menschenrechtskonvention – im Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) – oder dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II), welcher medizinische oder wissenschaftliche Versuche an Personen verbietet, wenn keine freie Zustimmung vorliegt (Art. 7). Das Recht auf persönliche Freiheit ist nicht auf die Lebenszeit eines Menschen beschränkt, sondern wirkt über den Tod hinaus und garantiert jeder Person das Recht, über den Verbleib ihrer sterblichen Überreste nach dem Tod zu bestimmen (BGE 111 Ia 231 Erw. 3b). Bestandteil des Rechts auf Persönliche Freiheit ist das Recht auf Selbstbestimmung, die Achtung der psychischen und körperlichen Integrität sowie der Schutz der emotionalen Beziehung der Angehörigen zur verstorbenen Person.

Die zur Debatte stehende erweiterte Widerspruchslösung, bei der im Todesfall Organe, Gewebe oder Zellen entnommen werden dürfen, wenn kein Widerspruch der verstorbenen Person vorliegt, stellt eindeutig ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht dar. Indem sie alle in der Schweiz lebenden Personen faktisch dazu verpflichtet, sich mit der Frage nach der Organspende auseinanderzusetzen und einen allfälligen Widerspruch festzuhalten, tangiert sie ebenso die psychische Integrität. Eine konsequente Umsetzung der Widerspruchslösung bedingt im Grundsatz ausserdem, dass die nächsten Angehörigen lediglich dann einer Entnahme widersprechen können, wenn Indizien vorliegen, dass sich die betroffene Person zu Lebzeiten dagegen ausgesprochen hätte – womit das Modell auch in die Rechte der nächsten Angehörigen eingreift. Schliesslich wird mit der Umsetzung der Widerspruchslösung eine vermutete Zustimmung in die für eine Transplantation unerlässlichen medizinischen Massnahmen vorausgesetzt, wodurch ein Eingriff in die körperliche Integrität vorliegt.

Das Recht auf persönliche Freiheit gilt jedoch nicht absolut und kann nach Massgabe von Artikel 36 der Bundesverfassung eingeschränkt werden. Die Wahrung der persönlichen Freiheit ist in der Diskussion um die Organspende zudem gegen die privaten Interessen und das Recht auf Leben jener Menschen abzuwägen, die auf eine Transplantation angewiesen sind. Denn der Staat trägt ebenso die Pflicht, das Leben und die Gesundheit potenzieller Organempfänger*innen zu schützen. Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) ist das Recht jedes Menschen auf das für ihn erreichbare Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit verankert (Art. 12). In diesem Rahmen hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um medizinische Leistungen und ärztliche Betreuung im Krankheitsfall für alle sicherzustellen (Art. 12 Abs. 2 Ziff. d). Darüber hinaus erlaubt die Europäische Menschenrechtskonvention staatliche Eingriffe in das Recht auf Achtung des Privatlebens zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Personen. Die Rettung von Menschenleben und die Linderung des Leidens von Patient*innen stellen damit grundlegende öffentliche Interessen dar, zu deren Wahrung bestimmte Freiheiten eingeschränkt werden können.

Auch gemäss dem bundesgerichtlichen Urteil zur Widerspruchlösung im Kanton Genf aus dem Jahre 1997 kann die Widerspruchslösung grundrechtskonform ausgestaltet werden. Voraussetzung ist aber, dass den Rechten der Spender*innen in jedem Fall Vorrang gegenüber den Rechten der Organempfänger*innen zukommt. Zudem muss die Bevölkerung regelmässig und in verständlicher Art und Weise über die gesetzlichen Grundlagen und die Möglichkeit des Widerspruchs informiert werden. Zuletzt sind auch die Angehörigen über ihr subsidiäres Recht zu widersprechen zu unterrichten.

Sicherstellung der Aufklärung der gesamten Bevölkerung

Die Einführung der Widerspruchslösung unter Wahrung der Grund- und Menschenrechte ist grundsätzlich möglich; das bestätigte auch die bundesrichterliche Rechtsprechung. Um einen Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit zu rechtfertigen, ist jedoch die Aufklärung der Öffentlichkeit entscheidend. Das bestätigen auch die Richtlinie der Weltgesundheitsorganisation zur Transplantation von menschlichen Zellen, Geweben und Organen (S. 2), die UNO-Resolution zur Stärkung und Förderung wirksamer Massnahmen und internationaler Zusammenarbeit im Bereich der Organspende und -transplantation (Art. 3 Abs. b und c) sowie das Zusatzprotokoll über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (Art. 8). Des Weiteren sind zur grundrechtskonformen Ausgestaltung der Widerspruchslösung die Rechte der Angehörigen zu berücksichtigen. Gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte setzt dies voraus, dass ein Vorgehen zum Einbezug der nächsten Angehörigen im Gesetz festgeschrieben sein muss.

Indem die Gesetzesvorlage eine Konsultation der nächsten Angehörigen voraussetzt (Art. 8c Abs. 4) ist ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) gewährleistet. Der Forderung nach Aufklärung trägt der Gegenentwurf Rechnung, indem er vorsieht, dass die Öffentlichkeit regelmässig über die Möglichkeit des Widerspruchs, der Zustimmung oder andere Äusserungen zur Spendenbereitschaft sowie die Möglichkeit der Widerrufung informiert wird. Zudem soll ebenso auf die mit einem fehlenden Widerspruch verbundenen Konsequenzen hingewiesen werden (Art. 61 Abs. 2 und 3 des Gesetzesentwurfs). Entscheidend ist jedoch die Ausgestaltung solcher Informationskampagnen in der Praxis. Der Bund muss dabei insbesondere beachten, dass er die Bevölkerung umfassend und verständlich informiert und die Informationen auch für Fremdsprachige und Menschen mit Behinderungen oder Sprachschwierigkeiten zugänglich macht. Es lässt sich schwer abschätzen, inwiefern die geplanten Informationskampagnen des Bundes alle Menschen in der Schweiz erreichen werden – dies wäre für eine grundrechtskonforme Umsetzung der erweiterten Widerspruchslösung jedoch zwingend.

An dieser Stelle ist deshalb auf ein von der Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK vorgeschlagenes Modell zu verwiesen, welches im Juni 2019 von einer Abgeordnetengruppe des Deutschen Bundestags erarbeitet worden ist. Gemäss der sogenannten «Erklärungsregelung» sollen Bürger*innen bei der Erstellung eines neuen Ausweises dazu aufgefordert werden, sich mit dem Thema der Organspende auseinanderzusetzen und sich dazu zu äussern (Verpflichtung zur Erklärung). Dazu erhalten sie Aufklärungsunterlagen und werden auf weitere Informations- und Beratungsmöglichkeiten hingewiesen. Zudem sollen sie direkt vor Ort die Möglichkeit haben, eine Erklärung zur Organspende in einem Online-Register einzutragen. Unabhängig vom Kontakt mit den Behörden kann eine Erklärung auch eigenständig in das Online-Register eintragen werden. Hat eine Person keine Erklärung dokumentiert, würde in der «Erklärungsregelung» grundsätzlich die für eine Organspende erforderliche Zustimmung fehlen. Analog könnte bei der Umsetzung der erweiterten Widerspruchslösung die Bindung der Aufklärung an einen Verwaltungsakt die geforderte umfassende Information über die Organspende besser gewährleisten. Da dies jedoch in der Gesetzesvorlage nicht vorgesehen ist, bleibt abzuwarten, wie der Bund die Öffentlichkeit bei Annahme der Vorlage über den Paradigmawechsel informiert. Es ist deswegen umso wichtiger, dass die Wahrnehmung der Informationspflicht durch den Bund von den zuständigen Akteur*innen kritisch begleitet und evaluiert wird.