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Anti-Folterkommission fordert obligatorische Krankenversicherung für Gefangene

13.12.2019

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter ortet dringlichen Handlungsbedarf bei der Gesundheitsversorgung in Schweizer Justizvollzugseinrichtungen. Sie kritisiert namentlich den erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung für ausländische Gefangene ohne Krankenversicherung.
           

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) besuchte von Januar 2018 bis Mai 2019 dreizehn Justizvollzugseinrichtungen in der gesamten Schweiz, um die Gesundheitsversorgung anhand menschenrechtlicher Standards zu untersuchen. In ihrem Bericht erkannte die Kommission zahlreiche Defizite, namentlich bei der medizinischen Gleichbehandlung aller Gefangenen. Weiter kritisiert die Kommission die sehr heterogene Umsetzung von menschenrechtlichen und bundesgesetzlichen Vorgaben und spricht sich für eine Harmonisierung aus.

Der Bericht ist für Praktiker/innen auch deshalb lesenswert, weil er die wichtigsten menschenrechtlichen und nationalen Vorgaben sowie die aktuellste Rechtsprechung zur Gesundheitsversorgung im Freiheitsentzug übersichtlich zusammenfasst. Die NKVF stützt sich in ihrem Bericht auf ein Rechtsgutachten des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte.

Obligatorische Krankenversicherung für alle Gefangenen

Die Kommission erachtet es als dem Gleichheitsgebot zuwiderlaufend, dass ausländische Gefangene ohne Krankenversicherung einen erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Diese müssten selber für medizinische Kosten aufkommen oder es werde vorgängig eine Kostengutsprache von den zuständigen Behörden eingeholt, was zu zeitlichen Verzögerungen bei der medizinischen Behandlung führen kann.

Die NKVF betont, dass inhaftierte Personen unabhängig von ihrem rechtlichen Status uneingeschränkten und grundsätzlich kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten müssten. Sie empfiehlt, die obligatorische Krankenversicherungspflicht für alle inhaftierten Personen einzuführen und eine schweizweit harmonisierte Kostenbeteiligung für alle inhaftierten Personen anzustreben.

Den diskriminierenden Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen ohne festen Wohnsitz und Krankenkasse in der Schweiz kritisierte die Organisation «Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter» (ACAT) bereits 2016 in einer Petition an den Bundesrat. Gemäss Hans Wolff, Mitglied des Ethikkomitees der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), werde insbesondere in den Kantonen der Deutschschweiz oftmals nur Nothilfe gewährt. Genaue Zahlen gebe es dazu nicht. Er rechne aber mit mehreren hundert Fällen, bei denen eine notwendige medizinische Behandlung nicht gestattet wurde. Wolff kritisiert diese Praxis scharf und spricht von einer «menschenunwürdigen Behandlung». In ihrer Stellungnahme von 2019 betont die SAMW, dass medizinische Leistungen in Haft äquivalent sein müssen zu denjenigen der Allgemeinbevölkerung in Freiheit. Und dass es hierbei keine Rolle spielen darf, ob die inhaftierte Person dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) unterstellt ist oder nicht.

Fehlende Unabhängigkeit der Gesundheitsdienste in der Deutschschweiz

Von besonderer Relevanz ist zudem die Forderung der Kommission nach einer fachlichen und materiellen Unabhängigkeit der Gesundheitsversorgung, welche namentlich in den Nelson Mandela Regeln (Regel 25) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen (Ziff. 40.2) verankert ist.

Vor diesem Hintergrund sei es problematisch, dass die Gesundheitsdienste in der Deutschschweiz regelmässig den jeweiligen Anstaltsleitungen unterstellt sind. Dies könne die medizinische Versorgung durch andere Erwägungen beeinflussen.

Gemäss der Beratungsstelle für Menschen im Freiheitsentzug können hier neben Kostenüberlegungen etwa auch Überlegungen zur Durchsetzung der Anstaltsdisziplin eine Rolle spielen. Gefangene schildern dabei, dass sie das medizinische Fachpersonal als verlängerten Arm der Vollzugsinstitution wahrnehmen. Dies könne alltägliche Fragen im Strafvollzug betreffen, wie beispielsweise, ob ein fiebriger Gefangener für die Arbeit krankgeschrieben wird oder stattdessen bei Aufrechterhaltung der Arbeitspflicht fiebersenkende Medikamente verabreicht erhält. Oder ob eine Physiotherapie trotz Mehraufwand für die Anstalt gewährt wird oder nicht.

Besonders problematisch ist laut der Beratungsstelle ausserdem die fehlende Unabhängigkeit des Gesundheitsdienstes im Bereich von stationären Massnahmen nach Artikel 59 des Schweizerischen Strafgesetzbuches: Die Gefangenen stehen hier in einem verstärkten Abhängigkeitsverhältnis zu den Ärzten/-innen und Psychiatern/-innen. Eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung sei essenziell für die erfolgreiche Durchführung einer Massnahme. Die Unabhängigkeit der Gesundheitsdienste gegenüber der jeweiligen Anstaltsleitung müsse demnach nicht nur funktionell und materiell garantiert sein, sondern auch so ausgestaltet werden, dass die Gefangenen diese auch tatsächlich so wahrnehmen.

Die Kommission empfiehlt, die Gesundheitsversorgung von Gefangenen nicht den Anstaltsleitungen, sondern – der Praxis in den Westschweizer Kantonen entsprechend – dem öffentlichen Gesundheitsdienst zu unterstellen Diese Regelung könne Entscheidungen im Rahmen der Gesundheitsversorgung nach fachlichen Kriterien erleichtern.

Mangelhafter Zugang zu psychiatrischer Versorgung

Die NKVF hebt in ihrem Bericht zahlreiche weitere Problembereiche hervor und sieht dringlichen Handlungsbedarf. Sie bemängelt etwa die gängige Praxis, dass das Justizpersonal und nicht medizinische Fachpersonen die Abgabe der Medikamente durchführt und überwacht. Die Kommission ist der grundsätzlichen Auffassung, dass die Vorbereitung und die Abgabe rezeptpflichtiger Medikamente nur über das medizinische Fachpersonal erfolgen sollten.

Nicht zuletzt aufgrund der sehr langen Wartezeiten wäre weiter ein grundlegender Ausbau der psychiatrischen Versorgungsmöglichkeiten notwendig. Die Kommission empfiehlt zudem eine Verbesserung der zahnärztlichen Gesundheitsversorgung. Diese beschränkt sich aktuell primär auf Notfälle und wird teilweise unzulässigerweise von der Kostenbeteiligung der Inhaftierten abhängig gemacht.

Die geschlechterspezifischen Bedürfnisse weiblicher Inhaftierter werden in kleineren Einrichtungen schliesslich kaum berücksichtigt. In einigen Einrichtungen (i.a. Regionalgefängnis Biel, Strafanstalt Gmünden) müssen Frauen für Hygieneartikel bzw. Schwangerschaftstests selber aufkommen.

In Bezug auf Massnahmen zur Prävention von Infektionskrankheiten und anderen sexuell oder durch Blut übertragbaren Krankheiten besteht ein Informationsdefizit. Die Kommission empfiehlt den Einrichtungen, allen Gefangenen systematisch mindestens eine Broschüre von Santé Prison Suisse «Gesundheitsversorgung im Freiheitsentzug» abzugeben und zusätzlich während des Aufenthalts eine mündliche Beratung durch das medizinische Fachpersonal anzubieten.

Zugang zu Gesundheitsversorgung ist menschenrechtlich geschützt

Die Kommission stützt sich in ihrem Bericht neben den nationalen Vorgaben auf die einschlägigen menschenrechtlichen Vorgaben zur Gesundheitsversorgung im Freiheitsentzug. Hierzu gehören primär der UNO-Pakt I, der UNO-Pakt II sowie die Europäische Menschenrechtskonvention. Diese werden durch die Allgemeinen Bemerkungen der UN-Menschenrechtsorgane und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte konkretisiert. Besonders relevant sind zudem die Nelson-Mandela-Regeln sowie die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze.

Aus diesen Rechtsgrundlagen sowie aus den allgemeinen Vollzugsprinzipien im nationalen Recht ergeben sich verschiedene Grundsätze zur Gesundheitsversorgung. Hierzu gehört namentlich, dass die Gesundheitsversorgung nichtdiskriminierend gewährt und auch für besonders verletzliche Personen verfügbar, zugänglich, annehmbar und qualitativ hochstehend sein muss. Auch für ausländische Gefangene muss eine den Schweizer Staatsbürgern/-innen gleichwertige medizinische Versorgung gewährleistet werden. Das Fürsorgeprinzip besagt zudem, dass der Freiheitsentzug nicht zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands Gefangener führen darf. Ebenfalls muss die Unabhängigkeit der medizinischen Versorgung gewährleistet sein.

Von besonderer Relevanz ist zudem das Äquivalenzprinzip, wonach die Gesundheitsversorgung innerhalb und ausserhalb des Freiheitsentzugs gleichwertig sein muss. Dies kann gemäss dem Bericht der Kommission beispielsweise auch die Gewährung einer Physiotherapie beinhalten oder die Möglichkeit der gefangenen Person, bei Bedarf eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen. Ebenso sollten Personen in Untersuchungshaft die Möglichkeit zur Behandlung auf eigene Kosten durch die eigene Ärztin oder den eigenen Arzt erhalten.

Weitere relevante Rechtsgrundlagen