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2022 - L.M.K. et al. v. SWITZERLAND (CRC)

16.11.2022

Eckdaten zum Fall

  • Burundische Staatsangehörige im Alter von 48, 17, 15, 11, 9 und 6 Jahren
  • Rückkehr in einen Dublinstaat (Kroatien)
  • Kinder wurden in Kroatien unmenschlich behandelt, wurden zwei Tage unterirdisch eingesperrt, erhielten nicht genügend Nahrung, wurden im Camp belästigt, angeschrien und diskriminiert, 2 Kinder wurden von der Polizei geschlagen, erhielten keinen Zugang zu Übersetzung, rechtlicher Vertretung oder med. Behandlung
  • Art. 2(2) CRC, Art. 3 CRC, Art. 6 CRC, Art. 9(1+4) CRC, Art. 12 CRC, Art. 19(2) CRC, Art. 22 CRC, Art. 24 CRC, Art. 26 CRC, Art. 27 CRC, Art. 37(a) CRC, Art. 39 CRC
  • Zuständiger Kanton: Fribourg

Sachverhalt

Die Beschwerdeführenden sind burundische Staatsangehörige. Die Beschwerdeführerin 1 war zum Zeitpunkt der erlassenen Interim Measures vom UNO-Kinderrechtsausschuss ein 15-jähriges Mädchen. Beschwerdeführer 2 ist ihr damals 11-jähriger Bruder. Beschwerdeführer 3 ist der damals 6-jährige Bruder und Beschwerdeführer 4 ist der damals 17-jährige Bruder. Beschwerdeführerin 5 ist die damals 9-jährige Schwester. Die 48-jährige Mutter der fünf Kinder wurde als unterstützende Beschwerdeführerin im Rahmen der Kinderrechtsbeschwerde aufgeführt.

Die Beschwerdeführenden flohen aus Burundi und versuchten via Kroatien in die Europäische Union (EU) zu gelangen. Die Beschwerdeführenden wurden jedoch drei Mal Opfer von Push-backs an der kroatischen Grenze. Als sie Kroatien endlich erreichten, wurden sie von der kroatischen Polizei entdeckt, welche mit ihren Feuerwaffen in die Luft schossen, um die Beschwerdeführenden zu verängstigen und sie dazu zu zwingen, in einen Lastwagen einzusteigen. Der Lastwagen war bereits überfüllt mit anderen Personen. Im Lastwagen war es sehr dunkel und aufgrund des schnellen Fahrens mussten sich der Beschwerdeführer 3 und die Mutter übergeben. Anschliessend wurden die Beschwerdeführenden zusammen mit den anderen Personen in einen unterirdischen Keller eingesperrt. Aufgrund des fehlenden Zugangs zu Übersetzung und rechtlicher Vertretung hatten sie keine Informationen bezüglich der Prozedur oder des Grundes ihrer Haft. Während ihrer Haft erhielten sie bis auf ein kleines Stückchen Brot kein Essen. Zugang zu Wasser erhielten sie auch keinen und mussten das Hahnenwasser der Toilette trinken. Die Beschwerdeführenden mussten ausserdem auf dem Boden schlafen und all ihre Besitztümer inkl. Handys wurden ihnen weggenommen. Am nächsten Tag wurde die Mutter von ihren Kindern getrennt und in einen anderen Raum gebracht, um ein Dokument zu unterschreiben, welches sie aufgrund der fehlenden Übersetzung nicht verstand. Sie wurde von den Behörden eingeschüchtert und belästigt, bis sie das Dokument unterschrieb.

Nach zwei Tagen Haft wurden die Beschwerdeführenden von der Polizei spät in der Nacht an den Bahnhof gefahren, um den Zug zu ihrem Camp zu nehmen. Dieser fuhr aufgrund der späten Uhrzeit jedoch nicht mehr und die Beschwerdeführenden waren gezwungen, auf dem Boden am Bahnhof zu übernachten. Am nächsten Tag, als sie im Camp ankamen, wurden sie aufgrund ihrer Hautfarbe mehrfach und wiederholt von den Behörden im Camp belästigt, angeschrien und diskriminiert. Aufgrund dieser unmenschlichen Behandlung, dem fehlenden Zugang zu medizinischer Behandlung, Übersetzung und rechtlicher Vertretung flohen die Beschwerdeführenden. Während ihrer Flucht wurden die Beschwerdeführenden von der Polizei aufgegriffen und verhaftet. Die Beschwerdeführenden 1 und 2 wurden von den Beschwerdeführenden 3, 4 und 5 sowie der Mutter getrennt und in separaten Autos weggebracht. Den Beschwerdeführenden 1 und 2 wurde befohlen, auf den Boden zu knien und die Hände in die Luft zu halten. Die Beschwerdeführenden 3, 4 und 5 sowie die Mutter konnten vom Auto fliehen, rannten in den Wald und versteckten sich dort. Da die Mutter die Ausweise von den Beschwerdeführenden 1 und 2 bei sich hatte, konnten diese ihre Dokumente nicht vorweisen, weshalb die Polizei die Beschwerdeführenden 1 und 2 schlug und anschrie. Schliesslich wurden sie entlassen und alle Beschwerdeführenden fanden in den slowenischen Wäldern wieder zueinander, woraufhin sie schliesslich in die Schweiz flüchteten.

In der Schweiz ersuchten die Beschwerdeführenden um Asyl. Obwohl die Beschwerdeführenden von der schweren Misshandlung in Kroatien berichteten, unternahm das Staatssekretariat für Migration (SEM) keine weiteren Schritte, um die medizinische Situation der Beschwerdeführenden abzuklären. Den Beschwerdeführenden 2, 3 und 5 wurde ferner kein rechtliches Gehör gewährt. Das Rückübernahmegesuch des SEMs wurde von Kroatien akzeptiert. Deshalb erliess das SEM einen Nichteintretensentscheid. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVGer) abgewiesen. In der Zwischenzeit wurde den Beschwerdeführenden 1 und 2 eine schwere posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Dem Beschwerdeführer 4 wurde eine moderate PTBS diagnostiziert.

AsyLex brachte diesen Fall vor den UNO-Kinderrechtsausschuss und erhielt kurze Zeit später sogenannte Interim Measures, welche von der Schweiz fordern, den Vollzug der Rückführung während des Verfahrens vor dem Ausschuss auszusetzen.

Argumente SEM / BVGer

Das SEM argumentierte, dass das kroatische Asylsystem keine systemischen Mängel aufweise, welche ein Risiko von unmenschlicher Behandlung darstellen würde. Push-backs würde nur jene betreffen, die illegal in Kroatien einreisten. Gemäss SEM waren die beschriebenen Ereignisse in Kroatien ferner nicht genügend mit konkreten Beweisen substantiiert, weshalb sie die Ereignisse als zweifelhaft einstuften. Die medizinische Situation der Beschwerdeführenden würde ferner nicht darauf hindeuten, dass eine Rückführung nach Kroatien unzumutbar wäre und ausserdem habe Kroatien eine ausreichende medizinische Infrastruktur, so das SEM. 

Das BVGer schloss sich der Argumentation des SEM weitgehend an. Es betonte zudem, dass das rechtliche Gehör der Kinder durch das gewährte rechtliche Gehör der Mutter, in dessen Rahmen sie zu den Interessen der Kinder befragt wurde, ausreichend gewährleistet wurde. Gemäss dem BVGer gebe Art. 12 KRK ihnen zudem kein uneingeschränktes Recht auf rechtliches Gehör, und beispielsweise ein schriftliches Statement der gesetzlichen Vertretung sei ausreichend. Ferner sei Kroatien ein Unterzeichnerstaat der KRK und es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kinder in Kroatien so schlecht behandelt würden, dass eine Verletzung von Art. 4 der EU-Charta, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention oder Art. 3 der Anti-Folter-Konvention ersichtlich sei.

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
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Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

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