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Rechtsquellen der Menschenrechte in der Schweiz

30.09.2020

Die Grundrechte

Ihren ersten formellen Auftritt hatten die Menschenrechte in der Schweiz als Grundrechte in der helvetischen Verfassung, welche der Schweiz 1798 von der französischen Besatzungsmacht diktiert wurde. Über die Verfassung von Malmaison von 1801 bis hin zur ersten Bundesverfassung vom 12. September 1848 wurde der Grundrechtsschutz kontinuierlich ausgebaut.

Mitte des 20. Jahrhunderts machte sich das Alter der Bundesverfassung, welche 1874 zuletzt neu aufgesetzt worden war, zusehends bemerkbar. Mit der Gründung der Vereinten Nationen (UNO) hatte sich das Verständnis des Menschenrechtsschutzes nach dem zweiten Weltkrieg grundlegend verändert. Bis anhin waren Menschenrechte lediglich als «Grundrechte» in den Verfassungen der einzelnen Länder verankert und fast ausschliesslich Angelegenheit jedes einzelnen Staates. Nachdem die UNO der Staatengemeinschaft  in Hinblick auf die Gräueltaten des Krieges  explizit den Auftrag gab, die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundrechte für alle zu fördern, entwickelten sich diese sprunghaft weiter. Die Bundesverfassung von 1848 konnte damit nicht mithalten und es bestand zusehends Konsens über den Bedarf einer Revision.

Das Bundesgericht anerkennt aus diesem Grund auch bereits seit 1959 ungeschriebene Grund- und Menschenrechte, welche noch nicht formell in der Verfassung festgehalten sind. Erst mit der Revision der Bundesverfassung von 1999 entstand der Grundrechtskatalog in seiner heutigen Form, welcher unter dem Titel «Grundrechte, Bürgerrechte und Sozialziele» mit den klassischen Freiheitsrechten, der Rechtsgleichheit und weiterer rechtsstaatliche Garantien sowie den sozialen Grundrechten unterschiedlichste Menschenrechte verbrieft.

Menschenrechtsschutz im föderalistischen System

Die Bundesverfassung ist nicht die einzige Rechtsquelle in der Schweiz, welche einen Grundrechtskatalog enthält. Jeder Kanton besitzt eine eigene Verfassung, welche meist mit einem eigenen Grundrechtskatalog ausgestattet ist. Während die Bundesverfassung zum Schutz der Grundrechte lediglich den Mindeststandart etabliert, steht es den Kantonen frei ihren Grundrechtsschutz weiter auszubauen. Etwa sieht die Verfassung des Kantons Waadt ein Anspruch auf staatliche Beihilfe an die erste Berufsausbildung vor und die Genfer Kantonsverfassung garantiert ein Recht auf Unterkunft. Ersteres ist in der Schweizerischen Bundesverfassung nicht enthalten, während Letzteres auf Bundesebene lediglich ein Sozialziel darstellt und damit vor Gericht nicht eingeklagt werden kann.

Weil es auf kantonaler Ebene oft keine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, haben kantonale Grundrechte keine grosse praktische Bedeutung. Jedoch kann gegen eine Verletzung kantonaler verfassungsmässiger Rechte Beschwerde am Bundesgericht eingereicht werden. (Art. 95 lit. c BGB). In der Praxis leisten die Kantone zudem meist Pionierarbeit zur Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes in der Schweiz. So können kantonale Grundrechte und die dazugehörige Rechtsprechung die Debatte auf nationaler Ebene befeuern und den Grundrechtsschutz gesamtschweizerisch mitgestalten. Etwa nahmen die Kantone in der Debatte um das Frauenstimmrecht eine Vorreiterrolle ein. Bevor die Frauen auf Bundesebene abstimmen und wählen durften, hatten etliche Kantone mit der vorzeitigen Einführung kantonaler Stimm- und Wahlrechte die Gleichstellungsdebatte beschleunigt.

Die Menschenrechte auf Gesetzesebene

Die in den Verfassungen verbrieften Rechte richten sich, bis auf wenige Ausnahmen, an die Behörden. Sie schreiben vor wie sich der Staat zu verhalten hat und legen die Grenzen des staatlichen Handelns fest. Die Grundrechte schützen demnach das Individuum vor Übergriffen von Seiten des Staates oder geben ihm Anrecht auf gewisse staatliche Dienstleistungen - unter Privatpersonen begründen sie im Prinzip keine einklagbaren Ansprüche.

Aus diesem Grund verpflichtet Artikel 35 der Bundesverfassung den Staat dazu, die Grundrechte in der gesamten Rechtsordnung zur Geltung zu bringen. So existieren eine Vielzahl von Ausführungsgesetzen ausserhalb der Schweizerischen Bundesverfassung, welche menschenrechtliche Ansprüche festhalten und damit sicherstellen, dass Menschenrechte in allen Rechtsbereichen, den unterschiedlichen Verwaltungsebenen und zwischen Privatpersonen Geltung haben.

Am Beispiel des Diskriminierungsschutzes lässt sich dieses System praktisch erläutern. Die Bundesverfassung enthält in Artikel 8 Absatz 2 ein allgemeines Diskriminierungsverbot. Darüber hinaus verankert Absatz 3 die Gleichstellung der Geschlechter und enthält, ebenso wie Absatz 4 für Menschen mit Behinderungen, einen Gesetzgebungsauftrag

  • Zur Umsetzung des verfassungsmässigen Gleichstellungsgrundsatzes trat 1996 das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (GIG) in Kraft. Es zielt auf die effektive Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben in privaten wie auch öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen ab. Das GIG findet für Private unmittelbar Anwendung. Es erlaubt es Frauen und Männern, sich gegen Diskriminierung im Erwerbsleben zur Wehr zu setzen und das verfassungsrechtlich verankerte Lohngleichheitsgebot geltend zu machen.

  • Das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen trat 2004 in Kraft und erleichtert Menschen mit Behinderungen die selbständige Teilnahme am öffentlichen Leben. Neben Förderungsmassnahmen umfasst das Gesetz ein Benachteiligungsverbot und ein Diskriminierungsverbot bei privaten Dienstleistungen, welches für Private unmittelbar Anwendung findet.

  • Die Strafnorm gegen Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB) schützt rassische, ethnische und religiöse Gruppen vor Hass und Diskriminierung. Seit einem Volksentscheid vom Februar 2020 umfasst ihr Schutzbereich auch das Merkmal der sexuellen Orientierung. Als Offizialdelikt kann ein (vermeintlicher) Verstoss gegen die Strafnorm von jeder Person bei der nächsten Polizeistelle oder bei einem Untersuchungsrichter gemeldet werden. Die Behörden sind zur Prüfung des Sachverhaltes verpflichtet und müssen bei Bedarf eine Strafverfolgung einleiten.

  • Das Privatrecht kennt keine explizite Regel gegen Diskriminierung. Jedoch gewähren einzelne Bestimmungen zumindest einen gewissen Diskriminierungsschutz. Etwa verbietet Artikel 28 des Zivilgesetzbuches (ZGB) widerrechtliche Persönlichkeitsverletzungen und Artikel 2 ZGB verpflichtet zum Handeln nach Treu und Glauben. Gemeinsam schützen die Normen vor einer diskriminierenden Nichtanstellung. Weiter ergibt sich im Arbeitsrecht etwa ein allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 328 OR i.V.m. Art. 27 ZGB) oder der Schutz vor einer diskriminierenden Kündigung (Art. 336 Abs. 1 lit. a und b OR).

Internationale Menschenrechte in der Schweizer Rechtsordnung

Die nationale Gesetzgebung wird durch internationale Verträge zum Schutz der Menschenrechte ergänzt. Bekannteste Vertreter dieser Abkommen sind die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), der Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) sowie der Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II).

Das Verhältnis zwischen dem Völkerrecht und dem Schweizer Recht ist monistisch ausgestaltet. Gemäss Bundesgericht wird demnach ein «von der Bundesversammlung genehmigter Staatsvertrag (…) mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden für die Schweiz verbindlich und zum Bestandteil des Landesrechts» (BGE 105 II 49, 57 f.). Es ist demnach möglich, sich vor einem Schweizer Gericht direkt auf Menschenrechtsverträge zu berufen, um in ihnen enthaltene Ansprüche geltend zu machen.

Diese Regel kennt jedoch auch Ausnahmen. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) wird vom Bundesgericht als nicht justiziabel klassifiziert. Das heisst, analog zu den Sozialzielen der Bundesverfassung, dass dem UNO-Pakt I gemäss Schweizer Rechtsprechung nur programmatischer Charakter zukommt. Die Schweiz fühlt sich zwar durchaus verpflichtet die Menschenrechte des Vertrags zu realisieren. Jedoch verweigert das Bundesgericht Einzelpersonen die Möglichkeit, ein im UNO-Pakt I enthaltenes Recht vor einem Schweizer Gericht einzuklagen. Der UNO-Ausschuss für Sozialrechte, welcher die Umsetzung des UNO-Pakt I in den Vertragsstaaten überwacht, hat die Schweiz wiederholt für diese Auffassung des Vertrages gerügt.

Den Gegensatz zum monistischen System bildet das dualistische Grundkonzept, welches unter anderem in Deutschland zur Anwendung kommt. Hierbei wandelt die Legislative alle ratifizierten Verträge in nationale Gesetze um. Für jedes international ratifizierte Menschenrecht besteht in Deutschland also ein Pendant im nationalen Recht.