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Chancen- und Rechtsgleichheit für Care Leaver*innen

11.07.2022

In der Schweiz besteht für Care Leaver*innen mit Blick auf eine diskriminierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch keine Chancen- oder Rechtsgleichheit. Dies gründet im Wesentlichen darin, dass die kantonalen gesetzlichen Bestimmungen unterschiedlich oder mangelhaft ausgestaltet sind und teilweise sogar gänzlich fehlen. Darüber hinaus sind die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Unterstützung für junge Erwachsene kantonal unterschiedlich strukturiert und weisen in Bezug auf ihre konkreten Leistungen erhebliche Lücken auf. Für eine Verbesserung der Situation von Care Leaver*innen bleibt noch viel zu tun.

Gastbeitrag von Marie-Thérèse Hofer, Beatrice Knecht Krüger und Natascha Marty vom Kompetenzzentrum Leaving Care

Care Leaver*innen sind junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in einem Heim oder einer Pflegefamilie verbracht haben und sich auf dem Weg in ein eigenständiges Leben befinden. Der Übergang ins Erwachsenenleben betrifft verschiedene Lebensbereiche und ist bei den Care Leaver*innen eng mit dem Austritt aus einer Institution oder Pflegefamilie verbunden. Aus diesem Grund wird diese Phase auch Leaving Care genannt.  

Beim Übergang in die Eigenständigkeit besitzen Care Leaver*innen noch nicht die gleichen Chancen wie Gleichaltrige, welche in ihren Familien aufgewachsen sind. Gerade die anspruchsvollen Wechsel in den Bereichen Wohnen, Ausbildung und Arbeit sowie den sozialen Beziehungen sind insbesondere aus strukturellen Gründen zusätzlich erschwert. Dadurch werden grundlegende Menschenrechte der Care Leaver*innen tangiert, so etwa das Diskriminierungsverbot und das Recht auf soziale Sicherheit. Schliesslich sind sie mit einem sozialen Unterstützungssystem konfrontiert, welches nicht ausreichend auf die Lebenslage Leaving Care ausgerichtet ist. Zur Verbesserung der aktuellen Situation sind sowohl strukturelle Anpassungen – wie etwa Gesetzesänderungen und eine Vernetzung der sozialen Infrastruktur – als auch eine Erweiterung des Angebots mit konkreter Unterstützung für die ehemaligen Heim- und Pflegekinder notwendig.

Höhere Hürden beim Übergang ins Erwachsenenleben

Für alle jungen Menschen hat sich der Übergang in ein selbstverantwortliches Erwachsenenleben grundlegend verändert. Die Jugendphase ist generell anspruchsvoller geworden und hat sich verlängert. Darüber hinaus gestalten sich die Grenzen zwischen Arbeit, Bildung und Freizeit fliessend und die Übergänge in den einzelnen Lebensbereichen verlaufen nicht geradlinig, sondern erfolgen zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit Schlaufen, Abbrüchen und Neuanfängen – viele junge Erwachsene können in dieser Zeit auf die finanzielle oder materielle Unterstützung ihrer Eltern zählen. Grundsätzlich ist für einen gelungenen Übergang ins Erwachsenenleben entscheidend, wie viele Ressourcen junge Menschen zur Verfügung haben, insbesondere mit Blick auf finanzielle Möglichkeiten, soziale Netzwerke, nährende Beziehungen und Zugang zu Unterstützungsangeboten.

Care Leaver*innen müssen nicht nur die anstehenden Übergänge in den verschiedenen Lebensbereichen bewältigen, sondern zusätzlich den Austritt aus der Institution oder Pflegefamilie und den Start in einem eigenständigen Alltag meistern. Dabei sind sie oft weniger gut ausgestattet als Gleichaltrige und können deutlich weniger auf Rückhalt und Unterstützung von ihrer Herkunftsfamilie und anderen Bezugspersonen zurückgreifen. Zudem haben sie in ihrem Leben meist schwierige Erfahrungen gemacht – aufgrund prekärer Familienverhältnisse, Traumata oder psychischer Belastung – und brauchen entsprechend mehr Zeit für Entwicklungsprozesse. Gleichzeitig wird Care Leaver*innen eine kürzere Jugend zugestanden und eine maximale Dosis an Veränderungen zugemutet. Die Übergänge in den verschiedenen Lebensbereichen erfolgen parallel und im Vergleich zu Gleichaltrigen zu einem früheren Zeitpunkt. In dieser Lebensphase fehlt es den Care Leaver*innen oft an niederschwelliger Unterstützung und es bestehen kaum Rückkehrmöglichkeiten in die stationäre Jugendhilfe. Internationale Studien belegen eindrücklich: Care Leaver*innen zählen zu den am meisten von sozialer Ausgrenzung bedrohten Personenkreisen. Dies ist hauptsächlich strukturell bedingt.

Strukturelle Rahmenbedingungen – Volljährigkeit als einschneidender Zeitpunkt

Für etliche junge Menschen in der Schweiz, die in einer Institution oder einer Pflegefamilie gelebt haben, endet die Finanzierung und damit der Aufenthalt in ausserfamiliären Unterbringungen mit der Volljährigkeit oder dem Abschluss einer Erstausbildung. Rückkehrmöglichkeiten sind nicht vorgesehen und Nachbetreuung ist, wenn überhaupt, nur direkt im Anschluss an die Platzierung möglich.

Die rechtlichen Grundlagen für die ausserfamiliäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Institutionen oder Pflegefamilien finden sich in verschiedenen Bundesgesetzen: dem Zivilgesetzbuch (ZGB), dem Jugendstrafgesetz (JStG) und dem Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG). Ein schweizweites Kinder- und Jugendhilfegesetz fehlt und die entsprechenden Kompetenzen wurden weitgehend an die Kantone delegiert.

Stationäre und ambulante Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe über die Volljährigkeit hinaus sind auf der Ebene des Bundes im Bundesgesetz über die Invalidenversicherung und im Jugendstrafgesetz gesetzlich verankert. Wenn ein junger Mensch hingegen im Rahmen einer zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahme (ZGB) oder einvernehmlich in einem Heim oder einer Pflegefamilie platziert wurde, gibt es für Leistungen über die Volljährigkeit hinaus keine interkantonalen oder bundesweiten Erlasse. Vielmehr hängt es von der kantonalen Gesetzgebung ab, ob und welche Unterstützungsleistungen möglich sind.

Ebenso bestehen grosse kantonale Unterschiede in Bezug auf die Altersgrenze wie auch die Art und Vielfalt der Leistungen. So existieren mittlerweile in einigen Kantonen rechtliche Bestimmungen, welche Unterstützungsleistungen bis zum 25. Altersjahr ermöglichen. Andernorts sind entsprechende Entwicklungen geplant und die Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und der Konferenz für Kindes und Erwachsenenschutz (KOKES) im Bereich Leaving Care werden vermehrt umgesetzt.

Unzureichendes Unterstützungssystem für Care Leaver*innen

Aufgrund der genannten Herausforderungen sind Care Leaver*innen verstärkt auf ein System sozialer Unterstützungsleistungen angewiesen, sowohl aus der Kinder- und Jugendhilfe als auch aus dem Unterstützungssystem für (junge) Erwachsene. Diese Leistungen erweisen sich insgesamt als nur schwer zugänglich, zu wenig koordiniert und nicht ausreichend ausgebaut oder vielfältig.

Anstatt im Einzelfall einzuschätzen, ob ein junger Mensch noch Unterstützung benötigt, bestimmt eine starre und niedrige Altersgrenze das Ende der Jugendhilfeleistungen. Oft ist die Inanspruchnahme auch an eine Erstausbildung gekoppelt: verliert eine junge Person ihren Ausbildungsplatz, etwa aufgrund einer persönlichen Krise, endet gleichzeitig ihre Platzierung. Des Weiteren ist in den meisten Kantonen die Gewährung der Jugendhilfe über die Volljährigkeit hinaus nur ohne Unterbruch an die vorherige Unterbringung möglich. Dies, obwohl aus der Forschung bekannt ist, dass Krisen und erneuter Unterstützungsbedarf vielfach erst einige Zeit nach dem Austritt aus dem Heim oder der Pflegefamilie entstehen. Zudem braucht es für die Inanspruchnahme der Leistungen die Zuweisung durch eine Fachstelle und die Kostenübernahme durch den Kanton oder die Gemeinde. Schliesslich sind diese Leistungen stark formalisiert (Dauer, Frequenz, Setting) und zum Teil an den Bezug von Sozialhilfe beziehungsweise an Kostenbeteiligungen der jungen Menschen geknüpft.

Unterstützungssysteme für (junge) Erwachsene verfolgen zudem eine andere Logik als die ganzheitlich orientierte Kinder- und Jugendhilfe: Die Unterstützung für Erwachsene ist in einzelne voneinander unabhängige Bereiche unterteilt – Programme zur beruflichen Integration, Budgetberatung, Suchthilfe, Wohnhilfe – und mit hohen Zugangsschwellen versehen. Zudem fehlt es an Kenntnis über die Lebenssituation und Bedürfnisse von Care Leaver*innen und einer differenzierten Reaktion. In Bezug auf alle Unterstützungsleistungen im Bereich Leaving Care ist der Wissenstransfer noch ungenügend: Das Wissen über verfügbare Leistungen und deren Finanzierung sind sowohl beim Fachpersonal wie auch bei Care Leaver*innen oft unzureichend.

Gute Ansätze, Angebote und Initiativen – aber es braucht noch mehr

Im Bereich Leaving Care hat sich in der Schweiz in den letzten Jahren viel bewegt. Neben günstigen Gesetzesrevisionen in einigen Kantonen sind verschiedene Initiativen, Forschungs- und Praxisprojekte sowie unterschiedliche Angebote der Übergangsbegleitung entstanden. Das seit 2019 bestehende Kompetenzzentrum Leaving Care (KLC) setzt sich als nationale Fachorganisation für die Verbesserung der Situation von Care Leaver*innen in der Schweiz ein. Darüber hinaus organisieren sich Care Leaver*innen zunehmend selbst in regionalen Netzwerken sowie in dem 2021 gegründeten Verein Careleaver Schweiz und lancieren eigene Angebote. Auf den Websites der verschiedenen Organisationen, die sich im Bereich Leaving Care engagieren, werden Informationen angeboten und Leitfäden für die Vorbereitung und Begleitung von Leaving Care zur Verfügung gestellt (18! und Handlungsanleitung Kanton SO).

Schliesslich konnten auch im Bereich der Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit einige Fortschritte erzielt werden. Mit der CareLeaverTalk- Kampagne (2021), welche das Kompetenzzentrum für Leaving Care gemeinsam mit Care Leaver*innen aus verschiedenen Organisationen realisiert hat, konnte eine breite Öffentlichkeit erreicht und für die Thematik Leaving Care sensibilisiert werden. Das Thema fand auch in den Medien ein grosses Echo. Inzwischen wurde eine Reihe von politischen Vorstössen auf nationaler und kantonaler Ebene lanciert. Unabhängige davon besteht weiterhin grosser Handlungsbedarf, denn ob ein*e Care Leaver*in bei Bedarf Unterstützung erhält, hängt nach wie vor stark davon ab, wo er*sie wohnt und welche Angebote verfügbar und zugänglich sind.

Ansatzpunkte für mehr Chancengleichheit

Im Hinblick auf Chancen- und Rechtsgleichheit für Care Leaver*innen finden sich in verschiedenen Bereichen mögliche Ansatzpunkte:

Damit längerfristig ein Wandel von erschwerenden in unterstützende Strukturen stattfindet, ist die Sensibilisierung wichtiger Akteur*innen aus Gesellschaft, Politik und Fachwelt notwendig. Neben den Care Leaver*innen mit ihrer Erfahrungsexpertise setzt sich auch das Kompetenzzentrum Leaving Care aus professioneller Perspektive für eine Sensibilisierung von Politik und Gesellschaft ein.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sollen in der ganzen Schweiz so weiterentwickelt und ausgebaut werden, dass sie den Bezug von Unterstützungsleistungen bei Bedarf bis zum 25. Altersjahr ermöglichen. Daneben gibt es weitere Bereiche, in denen mit angepassten Verfahren und Erlassen den spezifischen Herausforderungen in der Phase Leaving Care begegnet werden kann: Beispielsweise mit erleichterten Prozessen im Stipendienwesen oder einem generellen Verzicht auf die Rückerstattung von Sozialhilfeleistungen für junge Erwachsene.

Wie die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen auch die (bestehenden) Angebote weiterentwickelt werden. In der Kinder- und Jugendhilfe müssen Unterstützungsleistungen geschaffen, angepasst und nachhaltig verankert werden. Das betrifft die Gestaltung des Aufenthalts, die Vorbereitung und Planung des Übergangs in ein eigenständiges Leben sowie die eigentliche Unterstützung während dieser Zeit. Wesentlich sind hier kontinuierliche und aktive Beziehungsangebote sowie die Förderung der Bildung und der Partizipation. Zusätzlich braucht es auch Angebote ausserhalb der stationären Leistungen: Zu denken ist hier an Anlaufstellen sowie niederschwellige Beratungs- und Coachingangebote im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oder aus dem Bereich der sozialen Dienstleistungen für (junge) Erwachsene. Ein Augenmerk insbesondere auf eine verbesserte Vernetzung und Koordination der sozialen Infrastrukturen zu richten, damit die Wechsel zwischen den Unterstützungssystemen den Veränderungen im Lebenslauf und den Bedürfnissen in der Phase Leaving Care entsprechen. Insgesamt sollen die Angebote vielfältig, bedarfsorientiert, niederschwellig und ohne Kostenbeteiligung der Care Leaver*innen zugänglich sein und auch mit zeitlichem Abstand nach einer Platzierung flexibel in Anspruch genommen werden können.

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Sicherung von Bildungschancen: Durch das vielfach allzu frühe Ende der ausserfamiliären Unterbringung unterliegen viele Care Leaver*innen einer Bildungsbenachteiligung. Gleichzeitig stellt Bildung einen Schlüsselfaktor für einen gelingenden Übergang in die Selbständigkeit dar und ist Grundlage für wirtschaftliche Eigenständigkeit. Daher gilt es, «in care» wie «after care» die Bildungschancen von Care Leaver*innen zu sichern, die jungen Menschen in ihren Potenzialen zu fördern und ihnen einen längeren Zeithorizont für ihre Bildungsprozesse zu bieten. Das bedingt, dass der Leistungsbezug bis zum 25. Altersjahr möglich ist und dass Unterstützungsangebote der beruflichen Integration mit solchen der sozialen Integration verknüpft werden.

Schliesslich ist die in den letzten Jahren entstandene und sich entwickelnde Selbstorganisation von Care Leaver*innen weiter zu fördern. Care Leaver*innen können ihre Interessen und Rechte besser wahrnehmen, wenn sie als Gruppe aktiv werden. Selbstorganisationen leisten wesentliche Beiträge zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit, vertreten ihre Interessen und Forderungen in Fachwelt und Politik, bieten wertvolle Unterstützung für andere (zukünftige) Care Leaver*innen und können mit ihrer Erfahrungsexpertise wesentliche Impulse in Praxis und Forschung setzen.

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