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Die Regelschule im Zentrum der Integration ausländischer Kinder

23.09.2019

Das Bundesgericht kommt in zwei Urteilssprüchen zum Schluss, dass ausländische Kinder mit mangelnder schulischer Vorbildung und geringen Deutschkenntnissen nicht über längere Zeit in segregierten Klassen oder nur in einzelnen Fächern unterrichtet werden dürfen. Es wies beide Fälle zur verfassungsmässigen Neubeurteilung an die verantwortliche Behörde zurück.

Die Richter/innen des Bundesgerichts hatten zwei fast identische Sachverhalte zu beurteilen: Die Beschwerdeführer, welche im Herbst 2016 in die Schweiz gekommen waren, lebten als Asylbewerber im Kanton Zug und verfügten über nur wenig Schulerfahrung und geringe Deutschkenntnisse.

Die Abteilung Soziale Dienste Asyl des Kantons beantragte am 24. November 2016 die Einschulung der damals fast 15-jährigen Kinder in die Sekundarstufe I. Aufgrund der vorhandenen Defizite beurteilten die Stadtschulen eine Integration in die Regelschule zu diesem Zeitpunkt jedoch als ausgeschlossen. Sie empfahlen den Besuch eines Deutschkurses, bevor eine passende Ausbildung im Integrations-Brücken-Angebot des Kantons Zug gesucht werden sollte, welches die Grundlagen für eine soziale und berufliche Integration in die Schweiz zu schaffen versucht.

Die Beschwerdeführer wurden am 5. Januar 2017 schliesslich in das «Vorjahr Basisintegration» des Integrations-Brücken-Angebots eingeschult. Im Vorjahr Basisintegration werden einerseits überfachliche Kompetenzen vermittelt – die hiesigen Umgangsformen zur Lebensbewältigung, Lerntechniken und Lernstrategien sowie Sozialkompetenzen im schulischen Kontext –, andererseits auf fachlicher Ebene ein Deutschkurs zur Erreichung des Sprachniveaus A2, Mathematikunterricht mit den Lerninhalten bis zur 4. Primarklasse und die Vermittlung des Umgangs mit digitalen Medien angeboten.

Die Betroffenen waren mit dem Entscheid der Stadtschulen nicht einverstanden und verlangten eine Einschulung in die städtische Sekundarstufe I sowie Förder- und sonderpädagogische Massnahmen. Nachdem ihre Forderungen von allen kantonalen Instanzen abgelehnt worden waren, reichten sie am 2. Oktober 2018 Beschwerde beim Bundesgericht ein, welches am 6. Mai 2019 seine beiden Urteile veröffentlichte (2C_892/2018 und 2C_893/2018).

Bundesverfassung garantiert ausreichenden Grundschulunterricht und Chancengleichheit

In Artikel 19 gewährleistet die Bundesverfassung (BV) allen Kindern für die obligatorische Schulzeit einen Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass sie durch die Beschulung im «Vorjahr Basisintegration» in ihrem verfassungsmässigen Recht auf Grundschulunterricht verletzt worden waren.

Die Beschulung im Integrations-Brücken-Angebot entspreche keinesfalls einer chancengleichen und umfassenden Schulausbildung. Vielmehr sei das «Vorjahr Basisintegration» als Vorbereitung für die Berufsausbildung konzipiert und ein Angebot für die nachobligatorische Schulzeit. Darüber hinaus sei der Besuch der Regelschule trotz der genannten Defizite – zumindest in einzelnen Fächern – durchaus realisierbar.

Sonderbeschulung Ja – aber nur vorübergehend

Das Bundesgericht legt in beiden Urteilen dar, dass ausreichender Grundschulunterricht angemessen und geeignet sein muss, um die einzelnen Schüler/innen hinreichend auf ein selbstverantwortliches Leben vorzubereiten. Werden hingegen Inhalte nicht vermittelt, welche in der einheimischen Weltanschauung als unentbehrlich gelten, sei die Chancengleichheit nicht gewährleistet und Artikel 19 BV verletzt.

Die Verfassung garantiere diesen ausreichenden Grundschulunterricht für alle Kinder. Ausländischen oder Flüchtlingskindern den Zugang zu einem vollwertigen Unterricht oder der Regelschule allein aufgrund ihrer Eigenschaft als Ausländer/innen zu verweigern, verletze nicht nur Artikel 19 BV, sondern ebenso das Diskriminierungsverbot gemäss Artikel 8 Absatz 2 BV.

Das Bundesgericht bestätigt darüber hinaus, dass analog zur Beschulung von behinderten Kindern auch für jene, welche verspätet und ohne die in der Schweiz gängige Vorbildung eingeschult werden, grundsätzlich die Integration in die Regelschule angestrebt werden soll. Dies nicht nur, um die schulische Gleichbehandlung zu garantieren, sondern auch um die Integration in die hiesige Gesellschaft zu fördern und Diskriminierung zu verhindern.

Partieller Unterricht in der Regelschule möglich

Die Einschulung der Beschwerdeführer in das «Vorjahr Basisintegration» widerspricht gemäss den bundesgerichtlichen Erwägungen grundsätzlich nicht dem Anspruch auf Grundschulunterricht. Denn die beiden Schüler hätten gemäss Einschätzung der Richter/innen den Stoff der Sekundarstufe I ohne Kenntnis der Landessprache nicht sinnvoll bewältigen können. Es sei zudem richtig, die verbleibende Schulzeit der Beschwerdeführer dazu zu nutzen, sie auf den Übergang ins Berufsleben vorzubereiten, anstatt den gesamten Schulstoff der Grundschule aufzuholen.

Dies rechtfertige jedoch nicht, den Kindern über längere Zeit den Unterricht in lediglich zwei Fächern anzubieten, auch wenn das schulische Niveau noch nicht dem üblichen Stand der gleichaltrigen Mitschüler/innen entspreche. Gemäss Bundesgericht wäre es im Oktober 2017 durchaus möglich gewesen, die Beschwerdeführer partiell in die Regelschule einzuschulen. Dies insbesondere in Anbetracht dessen, dass in der Sekundarstufe I unterschiedliche Leistungsniveaus zur Verfügung stehen. Im Rahmen der Regelschule hätte der Erwerb der erforderlichen Deutschkenntnisse zudem rascher erfolgen können, als im segregierten Sprachunterricht. Der Unterricht der Beschwerdeführer im Integrations-Brücken-Angebot sei in seiner Dauer und Ausgestaltung unzulässig.

Das Bundesgericht hiess die Beschwerden beider Betroffenen in diesem Sinne gut und hob die Urteile des Verwaltungsgerichts vom 28. August 2018 auf. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Beschwerdeführer und der fehlenden Kenntnis über ihre momentane schulische oder berufliche Situation entschied sich das Bundesgericht, keine verbindliche schulische Zuordnung vorzunehmen und die Sache zur Neubeurteilung an den Stadtrat von Zug zurückzuweisen.

Die Sonderbeschulung als temporäre Sondermassnahme

Neben Artikel 19 der Bundesverfassung gewährt die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) jedem Kind ein Recht auf Grundschulunterricht (Art. 28 KRK), welcher alle Schüler/innen auf ein verantwortungsbewusstes Leben vorbereiten soll (Art. 29 KRK). Betreffend die Frage, ob ein Recht auf integrierten Schulunterricht besteht, zieht das Gericht eine Analogie zur Behindertenrechtskonvention (Art. 24 BRK). Ein absolutes Recht auf integrativen Unterricht bestehe nicht; es seien die individuel Bedürfnisse und das Wohl des betroffenen Kindes massgeblich. Insofern sei eine temporäre Sonderbeschulung in bestimmten Fällen gerechtfertigt.

Ausländische und asylsuchende Kinder, die über eine mangelnde Schuldbildung verfügen und erst verspätet ins schweizerische Schulsystem eintreten, haben somit zumindest grundsätzlich ein Recht auf integrativen Grundschulunterricht; frei von Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit. Die langfristig segregierte Beschulung für ausländische Kinder verstösst in diesem Sinne gegen das nationale Recht, internationale Abkommen, und gegen das Diskriminierungsverbot in der Verfassung (Art. 8 BV).

Die Sonderbeschulung für asylsuchende und ausländische Kinder muss eine begründungspflichtige Ausnahme bleiben, welche nur während eines sehr begrenzten Zeitraums zur Anwendung kommen darf. Zwar soll weder das Diskriminierungsverbot noch das Behindertengleichstellungsgesetz dazu führen, dass Betroffene gegen ihr Wohl oder ihre Interessen – zu früh – in Regelklassen integriert werden. Jedoch muss der Besuch der Regelschule, solange er dem Wohl des betroffenen Kindes dient und das Recht auf Grundschulunterricht der Mitschüler/innen wahrt, einer Sonderbeschulung vorgezogen werden. Die längerfristige Trennung vom Unterricht mit Gleichaltrigen und das stark reduzierte Fächerangebot in den vorhandenen Sonderprogrammen nimmt den Kindern die Möglichkeit Bildungslücken rasch zu schliessen, sich einfacher in die hiesige Gesellschaft zu integrieren und legt den Grundstein für Berührungsängste und Diskriminierung.