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Zwangsverheiratungen im Migrationskontext 

01.03.2006

Seit Februar 2005 wird in der deutschsprachigen Öffentlichkeit verstärkt die Problematik von Zwangsverheiratungen, häuslicher Gewalt und Ehrenmorden im Migrationskontext thematisiert. Meistens bleibt es aber bei der Schilderung von extremen Einzelfällen und einer daran anknüpfenden moralischen Empörung, verbunden vielleicht mit dem Ruf nach strengeren Strafgesetzen. Oft werden tragische Einzelfälle dazu missbraucht, gegen den Popanz des Multikulturalismus ins Feld zu ziehen. Selten sind die seriösen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Thematik, ebenso rar analytische Auseinandersetzungen. Deshalb ein ausführlicher Hinweis auf folgenden Beitrag:

Der Essay behandelt die Thematik der Zwangsverheiratungen im Migrationskontext aus einer menschenrechtlichen Optik. Dabei gelingt es Heiner Bielefeldt, eine klare Haltung mit den nötigen Differenzierungen zu verbinden. Dies ist in der emotional angeheizten aktuellen Diskussion nicht selbstverständlich.

Erstens macht der Autor unmissverständlich deutlich, dass es sich bei Zwangsheiraten um nicht akzeptable Menschenrechtsverletzungen handelt. Die Menschenrechte formulieren eine klare Grenze der Toleranz gegenüber solchen tradierten kulturellen Mustern, welche mit ihnen nicht zu vereinbaren sind, und dazu gehört die Zwangsverheiratung. Zweitens warnt Bielefeldt davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sich wegen nicht-akzeptabler traditioneller Praktiken von allen Formen des Multikulturalismus zu verabschieden und zur einseitigen Assimilationspolitik zurückzukehren. Das menschenrechtliche Freiheitsverständnis beinhaltet vielmehr die Bejahung eines kulturellen Pluralismus in der Gesellschaft, wobei allerdings eben die kulturellen Freiheiten durch das Recht auf individuelle Selbstbestimmung begrenzt sind. «Dass Zwangsverheiratungen jenseits der Grenze dessen liegen, was aus menschenrechtlicher Sicht im Namen kultureller Vielfalt gerechtfertigt oder auch nur geduldet werden könnte, steht zweifelsfrei fest. Denn eine erzwungene Eheschliessung bedeutet die Verweigerung freiheitlicher Selbstbestimmung in einem zentralen Bereich persönlicher Lebensgestaltung.» (S. 10)

Diese klare Beurteilung bedeutet allerdings nicht, in einen schematischen Kulturkampf gegen die „vormodernen Kulturen“ verfallen zu müssen. Im Gegenteil: Bielefeldt betont drittens, dass sich seine Position sehr gut mit differenzierten sozialwissenschaftlichen Befunden vereinbaren lässt. So unterstützt er die empirisch begründete Einschätzung, dass die patriarchalischen Ehrbegriffe und Geschlechterrollenmuster nicht exklusiv an den Islam gebunden sind. Vielmehr kämen patriarchalische Denk- und Handlungsmuster in allen soziokulturellen bzw. –religiösen Kontexten vor, allerdings in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen mit emanzipierten Lebensformen. Der Konflikt zwischen Männerherrschaft und Frauenbefreiung finde sich auch innerhalb muslimischer Lebenswelten. «Es gibt Möglichkeiten der Befreiung vom Islam, im Islam oder auch in Indifferenz zum Islam.» (S. 21) Für die menschenrechtliche Seite gilt: Solche Freiheitsströmungen sind zu unterstützen, allerdings in einer behutsamen, interkulturell kompetenten Weise. So ist es wichtig, unterscheiden zu lernen zwischen akzeptablen Formen der arrangierten Ehe und den nicht tolerierbaren Formen erzwungener Ehen.

Zum Schluss betont Bielefeldt, dass die Massnahmen staatlicher Politik darauf gerichtet sein müssen, «Frauen und Männer, die von Zwangsverheiratung betroffen beziehungsweise bedroht sind, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu unterstützen» (S. 26), zum Beispiel durch den Ausbau von Zufluchtsstätten, mit gezielten Weiterbildungsangeboten, mit dem Einsatz des Strafrechts, durch ein Bleibe- bzw. Rückkehrrecht für Betroffene oder eine Förderung wissenschaftlicher Forschung in diesem Bereich u.a.m.
Fazit: Der Essay bietet nützliche Argumentationshilfen für alle, welche eine klare Haltung gegen Zwangsverheiratungen einnehmen, ohne damit gleich in eine antiquierte Assimilationspolitik im Migrationsbereich verfallen zu wollen.

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