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Resozialisierung: Ausländische Gefangene werden benachteiligt

27.05.2021

Das Ziel des Schweizer Strafvollzugs ist die Resozialisierung, trotzdem werden Vollzugsöffnungen immer öfters verweigert. Insbesondere für ausländische Strafgefangene ergeben sich im Hinblick auf die Wiedereingliederung grosse Schwierigkeiten. Wie gehen die Vollzugsbehörden mit Strafgefangenen ohne Schweizerpass um? Werden sie durch die Freiheitsstrafe angemessen auf das Leben nach der Entlassung vorbereitet? Und welche kriminalpolitischen Folgerungen lassen sich daraus ableiten?

Gastkommentar von Dr. iur. Christoph Urwyler, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Schweizerischen Kompetenzzentrum für den Justizvollzug SKJV

Der Strafvollzug hat zum Ziel, das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern – insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben (Art. 75 StGB). Mit gezielten Vollzugsöffnungen sollen die Strafgefangenen auf die Wiedererlangung der Freiheit vorbereitet werden. Dieses bewährte Stufensystem hat in den letzten Jahren Schaden genommen: Die Vollzugsbehörden weisen strafverurteilte Personen häufiger in geschlossene Anstalten ein, verweigern öfters wichtige Öffnungsschritte in Richtung offene Anstalt sowie Arbeits- und Wohnexternate, oder verwehren ihnen die bedingte Entlassung.

Diese restriktive Tendenz erklärt sich nicht daraus, dass die Gefangenenpopulation gefährlicher oder rückfallgefährdeter geworden wäre, sondern aus einer besonders vorsichtigen Handhabung der vorhandenen Rechtsinstrumente. Die auffällige Zurückhaltung im Umgang mit Vollzugsöffnungen widerspricht jedoch dem Grundsatz der Resozialisierung, der eine systematische Vorbereitung auf das Leben in Freiheit verlangt.

Zusätzlich benachteiligt werden ausländische Strafgefangene ohne Aufenthaltsbewilligung. Die Ungleichbehandlung hängt primär damit zusammen, dass die Behörden bei diesen Personen in der Regel von einer Fluchtgefahr ausgehen oder aber eine soziale Integration nicht für notwendig befinden und deshalb von Wiedereingliederungsmassnahmen absehen. Dies zeigt eine repräsentative Erhebung von 943 Vollzugsakten aus den Kantonen Bern, Freiburg, Luzern und Waadt, welche diesem Artikel und der Dissertation des Autors zugrunde liegt.

Geschlossener Vollzug: Regel statt Ausnahme

Vor Beginn eines jeden Strafvollzugs stellt sich für die Vollzugsbehörde die entscheidende Frage, ob die betreffende Straftäterin oder der Straftäter in eine geschlossene Anstalt einzuweisen ist oder ob er oder sie direkt in den offenen Vollzug beziehungsweise in eine offen geführte Anstalt eintreten soll. Für die betroffenen Gefangenen ist die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt einschneidend, da der Alltag aufgrund der höheren Sicherheitsschranken strenger reglementiert und der Kontakt mit der Aussenwelt stärker eingeschränkt ist.

Wenn keine Flucht- oder Rückfallgefahr besteht, müssten die Personen eigentlich in offenen Einrichtungen untergebracht werden. Dies ergibt sich sowohl aus dem Strafgesetzbuch (Art. 76 StGB) als auch aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprinzip. Die Praxis weicht von diesem Grundsatz jedoch ab: Drei Viertel der verurteilten Personen müssen ihre Freiheitsstrafe im geschlossenen Vollzug antreten, nur ein Viertel im offenen Vollzug. Kaum Chancen haben ausländische Personen ohne Bleiberecht: Nur gerade jede*r Zehnte gelangt in den offenen Vollzug (12 %). Zwar werden auch Schweizer*innen sowie ausländische Personen mit Aufenthaltsbewilligung häufiger in den geschlossenen als in den offenen Vollzug eingewiesen, im Verhältnis haben sie aber deutlich bessere Aussichten: Vier von zehn Personen mit Schweizer Pass oder mit Aufenthaltsrecht gelangen in den offenen Vollzug (42 %).

Im Verlaufe des Strafvollzuges sollten die Gefangenen danach mittels Vollzugsöffnungen wie Urlauben oder Verlegungen in offenen Anstalten sowie Wohn- und Arbeitsexternaten schrittweise auf das Leben in Freiheit vorbereitet werden. In der Untersuchung hat sich jedoch gezeigt, dass Personen, die eine längere Freiheitsstrafe von 18 und mehr Monaten verbüssen, nur relativ selten von derartigen Massnahmen profitieren: Wer seine Freiheitsstrafe in einer geschlossenen Anstalt antritt, bleibt meist auch dort; nur wenige werden in eine offene Anstalt verlegt (14 %) oder zu einem Arbeits- oder Wohnexternat zugelassen (15 %). 

Von jenen, die ihre Freiheitsstrafe im offenen Vollzug angetreten haben, können immerhin rund eine von drei Personen in ein Arbeits- oder Wohnexternat übertreten. Der Anteil gewährter Lockerungen hat sich in den Jahren von 2010 bis 2015 ungefähr halbiert. Ausserdem gewähren die Vollzugsbehörden derartige Lockerungen häufiger Gefangenen mit Schweizer Pass und ausländischen Gefangenen mit legalem Aufenthalt (38%) gewähren. Ausländische Gefangene ohne Bleiberecht – also rund die Hälfte aller Inhaftierten – profitieren nur in einem von fünf Fällen von diesen Resozialisierungsmassnahmen (18 %).

Bedingte Entlassung als migrationspolitisches Druckmittel

Die bedingte Entlassung stellt die vierte und letzte Stufe des Strafvollzuges dar (Art. 86 StGB). In dieser Stufe soll der oder die Entlassene den Umgang mit der Freiheit erlernen, was nur ausserhalb der Gefängnismauern möglich ist. Die Vollzugsbehörde muss die bedingte Entlassung gewähren, ausser sie geht davon aus, dass der oder die Strafgefangene danach weitere Straftaten begehen wird. Um dies zu entscheiden, sind das Vorleben der Verurteilten, deren Persönlichkeit, ihr Verhalten im Strafvollzug sowie die künftigen Lebensverhältnisse nach der Entlassung zu berücksichtigen.

In der Praxis finden sich diese Kriterien in der Entscheidungsfindung der Vollzugsbehörden zwar durchaus wieder. Von allen geprüften Variablen hat sich jedoch der Aufenthaltsstatus der Verurteilten als wichtigster Einflussfaktor erwiesen. Bei Personen ohne Aufenthaltsbewilligung wird der Strafrest in der Verfügung regelmässig unmittelbar an das Datum der Ausschaffung gebunden. Falls hingegen eine Rückreise in den Heimatstaat nicht möglich ist – etwa, weil der oder die Gefangene nicht mit den Migrationsbehörden kooperiert oder über keine vom Aufnahmestaat anerkannten Ausweispapiere verfügt – müssen die ausländischen Personen ihre Strafe in der Regel voll verbüssen: Nur in einem von sieben Fällen wird die bedingte Entlassung gewährt. Dies im Gegensatz zu ausländischen Personen aus EU-/EFTA-Staaten ohne Bleiberecht, die nach dem Vollzug die Schweiz effektiv verlassen können oder wollen: Bei diesen wird die bedingte Entlassung in neun von 10 Fällen gewährt. Personen mit Schweizer Nationalität oder mit legalem Aufenthaltsstatus werden in drei von vier Fällen bedingt entlassen.

Zwar erachtet es das Bundesgerichtgrundsätzlich als zulässig, die bedingte Entlassung aufgrund eines «Dauerdelikts» (hier illegaler Aufenthalt) zu verweigern, um auf diese Weise Druck auf die Gefangenen auszuüben und sie zur Ausreise zu bewegen (Urteil des BGer 6B_215/2017 vom 19. Juli 2017 E. 2.4). Diese Argumentation überzeugt aber im vorliegenden Kontext nicht vollständig: Die betroffenen Sans-Papiers leben oftmals schon jahrelang in der Schweiz und dürften durch einen längeren Gefängnisaufenthalt nur in den seltensten Fällen zur Rückkehr in ihr Heimatland bewogen werden. Wenn das Delikt des «illegalen Aufenthalts» ohnehin nicht verhindert werden kann, darf die bedingte Entlassung auch nicht als migrationsrechtliches Druckmittel verwendet werden. Eine bloss vage Hoffnung der Verhinderung des illegalen Aufenthalts reicht nicht aus, um Personen die bedingte Entlassung zu verweigern (Urteil des BGer 6B_1159/2013 vom 3.12.2013). Bei Sans Papiers müsste also die bedingte Entlassung gemäss Strafgesetzbuch ebenfalls in den meisten Fällen gewährt werden. Dies umso mehr, als in den allermeisten Fällen keine erheblichen weiteren Straftaten drohen: Nur eine kleine Minderheit von 5 Prozent der Strafgefangenen ohne Bleiberecht wurde den Daten zufolge wegen schweren (Gewalt-)Delikten verurteilt; in 95 Prozent der Fälle handelt es sich hingegen um Verurteilungen wegen leichter bis mittlerer Vermögensdelikte (zumeist Diebstahl), als Anlassdelikt findet sich nicht selten auch bloss der (wiederholte) illegale Aufenthalt (9%).

Ohne Wohnsitz keine Bewährungshilfe

Neben den Vollzugsöffnungen ist die Bewährungshilfe ein zentrales Element, damit sich die Inhaftierten nach ihrer Haftzeit deliktfrei in die Gesellschaft wiedereingliedern. Dazu gehören Beratung und Hilfestellung bei persönlichen Problemen, bei der Wohnungs- und Stellensuche, bei der Schuldensanierung sowie die Begleitung bei der Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Obwohl die Bewährungshilfe gemäss Artikel 87 Absatz 2 des Strafgesetzbuches nur aus erheblichen Gründen verweigert werden darf, kommt sie in der Praxis nur bei einer Minderheit der bedingt Entlassenen zum Tragen. Nur in einem Drittel der Fälle ordnet die Vollzugsbehörde eine Bewährungshilfe an.

Bewährungshilfe wird hauptsächlich bei Personen mit Schweizer Nationalität oder mit legalem Aufenthalt angeordnet (66%), bedingt entlassene Ausländer und Ausländerinnen, die nach dem Vollzug in ihr Heimatland zurückkehren, erhalten eine derartige Hilfe seltener (32%). Ferner zeigt sich, dass Ausländerinnen und Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung, deren Wegweisung aus technischen Gründen oder aufgrund des Non-Refoulement Prinzips nicht vollstreckt werden kann, von der Bewährungshilfe ganz ausgeschlossen sind.

Die Vollzugsbehörden gehen regelmässig davon aus, dass bei Personen, die nach dem Vollzug ausgeschafft werden sollen, eine Anordnung von Bewährungshilfe ihren Zweck verfehlen würde: Eine soziale Integration sei in diesen Fällen weder wünschenswert noch möglich. Diese Praxis widerspricht dem Prinzip der Gleichbehandlung: Auch ausländische Strafgefangene ohne Bleiberecht haben ein Recht darauf, durch geeignete Fach- und Sozialhilfe in ihrer prekären Lebenssituation unterstützt zu werden. 

Konflikt mit (menschen-)rechtlichen Vorgaben 

Drei Viertel der Strafgefangenen in den Vollzugsanstalten besitzt keinen Schweizerpass. Bei den Ausländerinnen und Ausländern handelt es sich jedoch nicht um eine homogene Population: ein Viertel der Gefangenen sind Ausländer*innen mit Aufenthalts- oder Niederlassungsrecht (Ausweis B und C) oder mit Bleiberecht (Ausweis L, G, N, oder F). Bei mehr als der Hälfte der Strafgefangenen handelt es sich dagegen um ausländische Personen, die sich illegal in der Schweiz aufhalten und deshalb nach dem Vollzug die Schweiz verlassen müssen.

Die Benachteiligung von ausländischen Strafgefangenen – insbesondere derjenigen ohne Aufenthaltstitel – ist im Lichte der internationalen Grundsätze des Strafvollzugs problematisch. Gemäß den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen haben Ausländer*innen denselben Anspruch auf Resozialisierung, wie er Inländer*innen zusteht (Regel 37). Die Europarat-Empfehlung über ausländische Gefangene verlangt überdies, dass die Entlassung ausländischer Gefangener «rechtzeitig und in einer Weise zu erfolgen [hat], die ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert» (35.1). Dazu sind den Gefangenen auch «Hafturlaube und andere Formen der vorläufigen Entlassung […]» (35.2) sowie «Hilfe und Unterstützung von den Vollzugsdiensten und den Einrichtungen der Bewährungshilfe […] zu gewähren» (35.3).

Der gegenwärtige Umgang mit ausländischen Personen im Freiheitsentzug ohne Bleiberecht wird freilich auch von der hiesigen Rechtsprechung kritisiert. So hat es das St. Galler Verwaltungsgericht als unzulässig erachtet, ausländischen Strafgefangenen, die nach der Entlassung nicht in der Schweiz verbleiben, Vollzugsöffnungen generell mit der Begründung zu verweigern, es bestehe kein Interesse an einer Wiedereingliederung. Diese Betrachtung stehe «im Widerspruch zur gesetzlichen Ordnung des Strafvollzugsrechts», wonach auch bei diesen Gefangenen «ein öffentliches Interesse an deren Resozialisierung» bestünde, unabhängig davon, ob diese in der Schweiz oder im Ausland stattfinden soll. Das Bundesgericht (Urteil des BGer 6B_577/2011 vom 12. Januar 2012, E. 4.2) unterstützt diese Argumentation, wenn es betont, dass Artikel 75 des Strafgesetzbuches keine Beschränkung des Vollzugsziels auf die Wiedereingliederung in die schweizerische Gesellschaft statuiere.

Sowohl der Europarat wie auch die Schweizer Gerichte halten demnach fest, dass ausländische Gefangene ein legitimes Interesse an Vollzugsöffnungen und Entlassungsvorbereitung haben und bekräftigen damit den Grundsatz der Gleichbehandlung mit «inländischen» Gefangenen.

Es braucht einen Perspektivenwechsel

In der Praxis erweist sich nach dem bisher gesagten das Bleiberechtskriterium als entscheidender Faktor beim Einsatz von Resozialisierungsmassnahmen: Da bei ausländischen Personen ohne Bleibrecht in abstrakter Weise von einer Fluchtgefahr ausgegangen wird, werden sie viel häufiger in geschlossene Anstalten eingewiesen und erhalten seltener Vollzugslockerungen. Falls Aussicht darauf besteht, dass sie die Schweiz nach dem Vollzug verlassen müssen, werden sie meist ohne Bewährungshilfe zum frühstmöglichen Zeitpunkt (2/3-Termin) entlassen. Personen, welche die Schweiz nicht verlassen wollen oder können, müssen regelmässig ihre gesamte Strafe verbüssen. 

Diese Handhabung widerspricht dem Prinzip der Rechtsgleichheit. Ein Perspektivenwechsel tut not: Statt bei ausländischen Gefangenen, die nach dem Vollzug die Schweiz verlassen müssen, generell von einer Fluchtgefahr auszugehen und deshalb auf sämtliche Vollzugslockerungen zu verzichten, bräuchte es eine hinreichend konkrete, einzelfallbezogene Prüfung und Begründung der Entscheidung. Ebenso müsste, statt generell von Bewährungshilfe abzusehen – und mithin bei der positiven Prognose eine gewisse Zurückhaltung zu üben –, die Reichweite des gesetzlichen Auftrags zur Resozialisierung über die Landesgrenze hinaus ausgeweitet werden: Die Vollzugsbehörden sollten die Möglichkeit einer Nachbetreuung im Ausland ernsthaft prüfen, wo nötig und sinnvoll entsprechende Massnahmen (vor Ort) einleiten und die Gefangenen nach der Entlassung begleiten.

Einen gewährungsfreundlicheren und stärker unterstützenden Umgang braucht es auch mit ausländischen Gefangenen ohne Bleibrecht, die nicht in ihren Heimatstaat zurückkehren. Hierfür sprechen nicht zuletzt auch Sicherheitsüberlegungen: Angesichts der Tatsache, dass diese Personengruppe rund ein Fünftel der Gefangenenpopulation ausmacht, würde eine häufigere Gewährung der bedingten Entlassung zur Milderung des – in nicht wenigen Kantonen verbreiteten – Überbelegungsproblems beitragen. Dieses verursacht nicht nur hohe finanzielle Kosten, sondern hat auch einen negativen Einfluss auf die resozialisierende Wirkung des Strafvollzugs. Eine Ausweitung der bedingten Entlassung, um die hohen Bele-gungsraten in den Gefängnissen zu reduzieren, scheint bei ausländischen Strafgefangenen ohne Bleiberecht nicht nur aus grundrechtlicher und vollzugsökonomischer Sicht geboten, sondern würde – dies legen internationale Studien und der empirisch-kriminologische Forschungsstand nahe – ebenso einen positiven Beitrag zur öffentlichen Sicherheit leisten.

Dr. iur. Christoph Urwyler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Schweizerischen Kompetenzzentrum für den Justizvollzug SKJV. Er hat sich in seiner Dissertation mit der Praxis der bedingten Enlassung aus dem Strafvollzug auseinandergesetzt. Die Ergebnisse seiner Studie führten ihn zu einem vertieften Verständnis der Anwendungsunterschiede von Artikel 86 des Strafgesetzbuches zwischen verschiedenen Jahren und Kantonen, die ihrerseits mit ungleichen Vorstellungen von der richtigen Verfahrenserledigung und der Zwecknatur des Rechtsinstituts der bedingten Entlassung korrespondieren. Daraus entwickelt der Autor kriminalpolitische Vorschläge mit dem Ziel einer Harmonisierung der Entscheidungsprozesse und einer breiteren Anwendung der bedingten Entlassung. Der vorliegende Beitrag basiert auf einer vom SNF geförderten Studie zur Entscheidungsfindung im Strafvollzug, die unter der Leitung von Prof. Jonas Weber am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern realisiert wurde (2016-2019).