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Die Altersschätzung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA)

20.06.2017

Ob eine geflüchtete Person als volljährig eingestuft wird oder nicht, hat für die Rechtsstellung im Asylverfahren weitreichende Konsequenzen. Es fehlt an nationalen Gesetzen oder Richtlinien, um in diesem grundrechtssensiblen Bereich eine einheitliche Praxis zu gewährleisten.

Die Kinderrechtskonvention (KRK) gewährleistet allen Kindern – d. h. natürlichen Personen bis zum 18. Lebensjahr – Schutz sowie Unterstützung und legt globale Grundsätze fest, damit Kinder ihre Persönlichkeit entfalten können. In Übereinstimmung mit der KRK wird dem Kindeswohl u.a. auch im innereuropäischen Asylverfahren Rechnung getragen. So sieht bspw. die Dublin III-Verordnung vor, dass bei der Bestimmung der europäischen Asylzuständigkeit eines Mitgliedstaates das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen sei (vgl. Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO). Auch das schweizerische Asylrecht sieht für die besonders verletzlichen UMA spezifische und schützende Verfahrensgarantien vor.

Zentrale Bedeutung der Altersschätzung

Die de facto privilegierte Rechtsstellung von UMA hat zur Folge, dass die Bestimmung des Alters einer asylsuchenden Person sowie die Beurteilung der Frage, ob es dieser gelungen ist, ihr Alter glaubhaft  zu machen, zu einer der zentralsten Frage des Asylverfahrens geworden ist. Diese folgenschwere Beurteilung wird im erstinstanzlichen Asylverfahren durch das  Staatssekretariat für Migration (SEM) vorgenommen.

Trotz der herausragenden Wichtigkeit der Altersschätzung im Asylverfahren bestehen keinerlei Gesetzesbestimmungen oder anderweitige generell-abstrakter Normen, welche das weite Ermessen der im Einzelfall involvierten Behördenperson einschränken und eine rechtsgleiche Praxis der asylrechtlichen Altersschätzung gewährleisten könnten. Bis dato fehlen auch SEM-intern Weisungen oder Richtlinien, die eine schweizweit einheitliche Praxis der asylrechtlichen Altersschätzung fördern könnten.

Verfassungswidrige Praxis des SEM

Der verlinkte Beitrag zeigt auf, dass das Alter von asylsuchenden Personen in ähnlich gelagerten Sachverhalten ohne sachliche Rechtfertigung ungleich festgelegt wird, indem dieses in manchen Fällen behördlich angepasst und in anderen Fällen unverändert beibehalten wird. Aus grundrechtlicher Warte ist die aktuelle SEM-Praxis zur asylrechtlichen Altersschätzung nur schwerlich mit den verfassungsmässigen Geboten der Rechtssicherheit und –gleichheit in Einklang zu bringen.

Entsprechend stellte auch das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) in zahlreichen Einzelfällen fest, dass asylsuchende Personen vom SEM zu Unrecht als volljährige qualifiziert wurden. Eine unrechtmässige Qualifikation als volljährige asylsuchende Person tangiert verschiedene Grundrechte. Eine solche bewirkt den Wegfall der besonderen UMA-Betreuungsstrukturen, wodurch sich betroffene Personen u.a. des besonderen Schutzes ihrer Unversehrtheit und der Förderung ihrer Entwicklung i.S.v. Art. 11 BV verlustig sehen. Da eine allfällige Anpassung des Alters einer asylsuchenden Person durch das SEM während des teilweise Jahre dauernden Asylverfahrens keiner gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden kann, fehlt ein effektives Rechtsmittel zur zeitnahen gerichtlichen Überprüfung der Rechtmässigkeit einer Altersanpassung.

Grundrechtseingriffe durch medizinisch-forensische Altersgutachten

Die Ergebnisse medizinisch-forensischen Altersgutachten werden als Anhaltspunkt zur Bestimmung des Alters einer asylsuchenden Person mitberücksichtigt. Diese Altersgutachten greifen in den Schutzbereich verschiedener Grundrechte ein. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung werden die äusserlich erkennbaren sexuellen Reifezeichen der untersuchten Person begutachtet, was einen Eingriff in die Intimsphäre, die Menschenwürde (Art. 7 BV) und u.U. die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) der untersuchten Person zur Folge hat. Medizinisch-forensische Altersgutachten enthalten zudem sensible Daten zur Lebensweise, Geschichte und gesundheitlichen Verfassung der untersuchten asylsuchenden Person, wobei deren Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 13 Abs. 2 BV) gewahrt werden muss. Die Durchführung (medizinisch nicht indizierter) röntgendiagnostischen Untersuchungsmassnahmen an Zähnen, Handgelenk oder Schlüsselbein stellt aufgrund der damit verbundenen Strahlenbelastung einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV) der betroffenen Person dar. Der verlinkte Beitrag zeigt an konkreten Beispielen auf, dass die umstrittenen Altersgutachten in etlichen Einzelfällen unter Missachtung des vorrangig zu berücksichtigenden Kindeswohls, des gesetzlichen Wortlautes(vgl. Art. 17 Abs. 3bis AsylG) und der SEM-eigenen Vorgaben in nicht grundrechtskonformer Weise angeordnet und durchgeführt werden.  

Widerstand gegen die vorherrschende Praxis

[Nachtrag vom März 2018]

Die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie rät ihren Mitgliedern gar, Anfragen der Behörden betreffend Altersschätzungen ohne therapeutischen Auftrag abzulehnen. Dies, da eine präzise Altersbestimmung zurzeit unmöglich ist, jedoch schwerwiegende legale und soziale Konsequenzen für den Jugendlichen nach sich ziehen könnte. Die Schweizer Flüchtlingshilfeunterstützt dies und verlangt zudem, einen stärkeren Miteinbezug der Betroffenen bei der Altersschätzung.  Die SFH empfiehlt, betroffenen Asylsuchenden im Zweifelsfall bis zur Erhärtung gegenteiliger Fakten, dieselbe Behandlung wie unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden zukommen zu lassen. Indirekt gibt auch der Bundesrat zu, dass eine Altersbestimmung durch medizinische Untersuchungen grossen Unsicherheiten unterliegt. In seiner Antwort auf die Interpellation von Lisa Mazzone (Grüne/GE) zur Relevanz von medizinischen Altersschätzungen hält er fest, dass beispielsweise das Resultat einer Knochenanalyse nur als schwaches Indiz gewertet werden kann.

Hilfreicher Jusletter-Artikel für Fachpersonen

Im verlinkten Beitrag von JOËL OLIVIER MÜLLER wird vorab kritisch aufzeigt, welche Methodik und welcher Rechtsschutz der rechtlichen Altersschätzung im schweizerischen Asylverfahren zu Grunde liegen. In der Folge widmet der Beitrag den kontroversen medizinisch-forensischen Altersgutachten ein besonderes Augenmerk, indem die gesetzliche Grundlage, die behördliche Praxis, die verwendeten Methoden und die Voraussetzungen für grundrechtskonforme medizinischen Altersgutachten geprüft und besprochen werden. Im Schlussfazit wird der Inhalt des Beitrags zusammengefasst und es werden dabei Verbesserungsvorschläge für die Gewährleistung einer gesetzes- und verfassungskonformen Praxis der Altersschätzung gemacht.

Der Autor JOËL OLIVIER MÜLLER ist Rechtsanwalt und arbeitet Teilzeit als Rechtsvertreter im Testbetrieb des Verfahrenszentrums Zürich.