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Häusliche Gewalt: Schutz für betroffene Migrantinnen

27.07.2018

Gemäss einem Bericht des Bundesrates vom Juli 2018 hat sich die Härtefallregelung zum Aufenthaltsrecht von ausländischen Opfern ehelicher Gewalt in der kantonalen Praxis grösstenteils bewährt. Mehrere NGOs bemängeln jedoch seit Jahren die ungenügende Umsetzung der Schweizer Härtefallpraxis.

22 Todesopfer pro Jahr

Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen, dass in der Schweiz im Durchschnitt jährlich 22 Frauen an den Folgen häuslicher Gewalt sterben. 2017 waren es 21 Todesopfer. Migrantinnen sind vergleichsweise häufiger und oft auch gravierender als Schweizerinnen von Gewalt in den eigenen vier Wänden betroffen. Besonders schwierig ist dabei die Lage von denjenigen Migrantinnen unter den Opfern, welche aufgrund des Familiennachzugs in die Schweiz kommen. Ihre Aufenthaltsbewilligung ist mit ihrem Zivilstand und damit mit dem Verbleib beim Ehemann verbunden.

Bereits 2011 schlug die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) Alarm. In einem Bericht zeigte sie anhand von Einzelfällen auf, dass Migrantinnen, die sich aus einer gewaltsamen Ehe lösen möchten, mit grossen Schwierigkeiten konfrontiert sind und vom Staat keinen effektiven Schutz erfahren. Dies führt in vielen Fällen dazu, dass die Frauen mitsamt ihren Kindern zum gewalttätigen Ehemann zurückkehren und weitere Jahre die Gewalt des Partners (oder des Vaters) ertragen.

Gesetzesänderung von 2012

Um dieser besonderen Abhängigkeit Rechnung zu tragen, hat das Parlament 2012 eine Änderung des Artikels 50 Abs. 2 des Ausländergesetzes vorgenommen. Die Gesetzesänderung hatte zum Ziel, gewaltbetroffene Migrantinnen zu schützen, welche mit einem Schweizer oder einem Mann mit der Aufenthaltsbewilligung C verheiratet sind. Um einen effektiven Schutz zu gewährleisten, wurde die eheliche Gewalt namentlich als Grund für eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung im Falle einer Trennung aufgeführt.

Diese neue Härtefall-Bestimmung ist seit dem 1. Juli 2013 in Kraft und hätte die Situation von Migrantinnen in der Schweiz bedeutend verbessern sollen. Jedoch war bald einmal klar, dass es an der Umsetzung durch Verwaltungs- und Justizbehörden hapert, denn die Behörden verfügen über einen grossen Ermessensspielraum.

Das Problem der Beweislast

Gewaltbetroffene Frauen tragen die gesamte Verantwortung für das Erbringen der Beweise. Um nach einer Trennung zum Verbleib in der Schweiz berechtigt zu sein, müssen sie beweisen, dass es sich entweder um systematische und «genügend intensive» Misshandlungen handelt oder dass eine Gefährdung der sozialen Reintegration im Herkunftsland vorliegt oder dass die Gewalt langfristige Konsequenzen, vor allem in Bezug auf die berufliche Integration hat.

Vielversprechende Richtlinien

2012 gab es Bestrebungen des Bundesamtes für Migration (heute Staatssekretariat für Migration), durch neue Richtlinien eine Erleichterung der Beweislast herbeizuführen. Das Bundesamt verlangte unter anderem, dass Berichte von Frauenhäusern und Opferhilfestellen als Hinweise häuslicher Gewalt gewertet werden. Allerdings haben diese Weisungen das Problem nicht gelöst, denn schlussendlich bleiben die Kantone für die Umsetzung der Richtlinien verantwortlich.

Die SBAA blieb bereits damals skeptisch: «Nur wenn die Migrationsämter die vorgesehenen Änderungen umsetzen und ihren behördlichen Ermessensspielraum fair und ohne Willkür anwenden, können die Interessen gewaltbetroffener Migrantinnen besser geschützt werden», sagte Ruth-Gaby Vermot, Präsidentin der SBAA im 2012. Eine Aussage, die nicht an Aktualität verloren hat.

Häusliche Gewalt beweisen

Für gewaltbetroffene Frauen ist es äusserst schwierig, häusliche Gewalt genügend glaubhaft darzulegen, wie ein Bericht des Observatoire romand du droit d’asile et des étrangers (ODAE) vom 8. März 2016 bestätigte. Als Beweise für eheliche Gewalt gelten insbesondere Arztzeugnisse, Polizeirapporte, Strafanzeigen oder entsprechende strafrechtliche Verurteilungen. Obwohl die Liste nicht abschliessend ist, lässt sich die Tendenz erkennen, dass Aussagen von Nachbarn und Frauenhäusern immer noch zu wenig stark gewichtet werden.

Das ODAE erachtet es als problematisch, dass für den Nachweis von häuslicher Gewalt eine Strafanzeige verlangt werden kann. Oft fehle den Frauen das Vertrauen in das schweizerische Rechtssystem oder sie haben Angst vor den Drohungen ihres Ehemannes und sehen deshalb von einer Strafanzeige ab bzw. ziehen diese wieder zurück, denn auch wenn es sich bei ehelicher Gewalt auch in leichten Fällen (einfache Körperverletzung, wiederholte Tätlichkeit, Drohung etc.) um ein Offizialdelikt handelt, erlaubt es die heute immer noch geltenden Regelung in Artikel 55a Strafgesetzbuch ohne Weiteres die Sistierung ihrer Anzeigen zu veranlassen. Ferner ist das Kriterium der «Intensität» der Gewalt schwammig und autorisiert ein gewisses Mass an häuslicher Gewalt. Die Behörden stufen gewisse Gewaltakte als zu moderat ab und sehen mit dieser Begründung davon ab, die Aufenthaltsbewilligung des Opfers zu erneuern. Das Kriterium der «Intensität» wirft zudem eine ethische Frage auf, denn es basiert auf der Idee, dass ein gewisses Mass an häuslicher Gewalt akzeptabel sei.

Auch mehrere UNO-Ausschüsse (CEDAW, Menschenrechtsausschuss und Ausschuss für Sozialrechte) kritisieren die Schweiz für diese Praxis.

Bericht des Bundesrates

2015 reichte Nationalrätin Yvonne Feri das Postulat "Aufenthaltsrecht von Opfern ehelicher Gewalt" (15.3408) ein, welches den Bundesrat beauftragte, einen Bericht über die praktische Umsetzung der Regelung des Aufenthaltsrechts von gewaltbetroffenen Migranten und Migrantinnen zu erstellen. Dazu hat das SEM eine externe Studie in Auftrag gegeben, um einen Überblick über die Praxis zur Umsetzung der Härtefallbestimmung in Art. 50 Ausländergesetz zu gewinnen. Diese Studie diente als Grundlage für den im Juli 2018 verabschiedeten Bericht des Bundesrats.

Insgesamt positive Bilanz...

Der Bericht zeichnet insgesamt ein positives Bild. Die Einführung der Härtefallbestimmung hat zur Verbesserung des Schutzes von Opfer ehelicher Gewalt beigetragen. Zwischen 2011 und 2015 hat das SEM in rund 520 Fällen seine Zustimmung zu Härtefallgesuchen von Opfern ehelicher Gewalt erteilt.

Der Bericht zeigt laut Bundesrat auf, dass die notwendigen gesetzlichen und organisatorischen Massnahmen getroffen wurden und namentlich eine gute Vernetzung, Koordination und Kooperation der beteiligten Akteure erreicht werden konnte. Angebote zur Unterstützung der Opfer sind vorhanden und Aus- und Weiterbildungen der Fachpersonen sowie Massnahmen im Bereich der Information, Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit finden ebenfalls statt.

... mit Verbesserungspotential

Verbesserungspotential macht der Bericht bei der Information der betroffenen Personen aus. Der Bundesrat begrüsst den Vorschlag, diesem Defizit mit einer Sensibilisierungskampagne der Interventions- und Fachstellen zu begegnen. Die Weisungen des SEM sollen punktuell ergänzt werden. Darüber hinaus werden die zuständigen Bundesbehörden die betroffenen Interventions- und Fachstellen weiterhin im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen.

ODAE hält an seiner Kritik fest

In einer kurzen Medienmitteilung kritisiert das ODAE die positive Bilanz des Bundes. Die im Bericht vorgeschobenen Zahlen würden die Realität nicht widerspiegeln. Wenn der Bundesrat von 60 genehmigten Härtefällen – von insgesamt 77 Gesuchen – für das Jahr 2017 spricht, so sei dies nur die halbe Wahrheit. Denn bevor ein Gesuch überhaupt beim SEM eingereicht werden kann, müssen die kantonalen Behörden dem Härtefallgesuch erst zustimmen. Über die Anzahl der abgelehnten Fälle durch die Kantone wird jedoch keine Statistik geführt.

Dokumentation