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Rückführungen nach Italien auch bei schweren gesundheitlichen Problemen wieder zulässig

11.10.2022

Personen mit schweren Gesundheitsproblemen dürfen wieder nach Italien rückgeführt werden – ohne dass für ihre angemessene Unterbringung und Betreuung eine individuelle Zusicherung bei den italienischen Behörden eingeholt werden muss. Diesen Entscheid stützt das Bundesverwaltungsgericht auf die veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen in Italien. Die prekären Zustände im italienischen Asylwesen sind gemäss zivilgesellschaftlichen Berichten indessen weitgehend unverändert.

Mit einem Referenzurteil vom 19. April 2022 hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass bei Dublin-Rückführungen von Personen mit schweren gesundheitlichen Problemen, die in Italien noch kein Asylgesuch gestellt haben, keine vorgängigen Garantien für ihre angemessene Betreuung und Unterbringung mehr eingeholt werden müssen.

Im vorliegenden Fall ist das Staatsekretariat für Migration SEM auf das Asylgesuch eines irakisch-stämmigen Mannes mit schweren psychischen und physischen Beschwerden nicht eingetreten. Aufgrund des Dublin-Abkommens kamen die Schweizer Behörden zum Schluss, dass Italien für das Asylgesuch zuständig und eine Rückführung durchzuführen sei. Obwohl die zuständige medizinische Fachperson das Staatssekretariat für Migration auf die starken gesundheitlichen Probleme des Schutzsuchenden hingewiesen hat, wurde bei den italienischen Behörden keine individuelle Garantie für seine adäquate Unterbringung und Betreuung eingeholt. Das Bundesverwaltungsgericht erklärt dieses Vorgehen nun für zulässig und ändert damit seine seit Dezember 2019 geltende Rechtsprechung.

Trotz verbesserter Rechtslage in Italien…

Nachdem in Italien Ende 2018 das sogenannte «Salvini Dekret» über die öffentliche Sicherheit und Einwanderung eingeführt worden war, hat sich die Lage der geflüchteten Menschen vor Ort stark verschlechtert. In den überfüllten Erstaufnahmezentren oder temporären Einrichtungen, in welchen Menschen im Dublin-Verfahren untergebracht werden, waren für besonders schutzbedürftige Personen keine besonderen Dienstleistungen mehr vorgesehen. Zu den besser betreuten Zweitaufnahmezentren (SAI) erhielten Dublin-Rückkehrer*innen darüber hinaus keinen Zugang. Als Reaktion auf diese Umstände änderte das Bundesgericht Ende 2019 seine Rechtsprechung und erklärte Rückführungen von Familien und Personen mit schweren physischen und psychischen Erkrankungen nach Italien für nicht zulässig – unabhängig davon, ob eine individuelle Zusicherungen der italienischen Behörden vorlag oder nicht.

Nachdem das «Salvini Dekret» im Dezember 2020 grösstenteils rückgängig gemacht worden war, liess das Bundesverwaltungsgericht ab Oktober 2021 Dublin-Rückführungen von Familien nach Italien wieder zu, solange von Seiten der italienischen Behörden eine individuelle Zusicherung ihrer geeigneten Unterbringung vorlag. Vulnerable Personen – darunter Familien, Minderjährige und schwer kranke Personen – würden nach den gesetzlichen Anpassungen prioritär von Erstaufnahmezentren in das Zweitaufnahmesystem überstellt und erhielten dort etwa Zugang zu sozialer und psychologischer Betreuung, Rechtsberatung, Gesundheitsversorgung und sprachlich-kultureller Vermittlung.

In seinem jüngsten Urteil geht das Bundesverwaltungsgericht nun noch einen Schritt weiter: Menschen mit schweren gesundheitlichen Problemen dürfen ohne individuelle Zusicherungen der italienischen Behörden nach Italien rückgeführt werden. Spezifisch betrifft dies Menschen, die in Italien noch kein Gesuch auf Asyl gestellt haben – gemäss Dublin-III-Verordnung sogenannte «take charge»-Fälle. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die italienischen Behörden diesen Personen mit Aufhebung des «Salvini Dekrets» Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung und einer adäquaten Unterkunft gewähren. Einzig Menschen, welche in Italien bereits ein Asylgesuch gestellt haben oder deren Gesuch abgelehnt wurde – sogenannte «take back»-Fälle –, können weiterhin nur bei Vorliegen individueller Zusicherungen nach Italien zurückgewiesen werden.

... ist die Situation im Asylwesen unverändert prekär

Gemäss Bundesverwaltungsgericht werden Menschen, welche in Italien noch kein Asylgesuch gestellt haben, direkt nach ihrer Ankunft versorgt, medizinisch betreut und erhalten Zugang zu Sozialleistungen. Mit diesen Einschätzungen widerspricht das Gericht diametral den Einschätzungen zivilgesellschaftlicher Organisationen. So stellt etwa die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH fest, dass Dublin-Überstellte, die in Italien noch kein Asylgesuch gestellt haben, wie alle anderen Schutzsuchenden zuerst ein Asylgesuch stellen müssen, bevor sie überhaupt Zugang zu diesen Leistungen erhalten. Dabei sind sie mit verschiedenen Hürden und langen Warteizeiten konfrontiert. Auch nach der Registrierung gibt es zudem keine Garantie für eine adäquate Unterbringung oder angemessene Betreuung. Die Lockerung bei der Einholung individueller Zusicherungen erachtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe deshalb als problematisch.

Im Februar 2022 veröffentlichte die Organisation ausserdem einen Bericht zur «Situation von psychisch erkrankten Asylsuchenden und Schutzberechtigten» in Italien. Darin wird der Zugang zu psychologischer und psychiatrischer Behandlung vor Ort als erschwert beschrieben. Von Rückführungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen nach Italien rät die Schweizerische Flüchtlingshilfe generell ab.

Dublin-Rückkehrer*innen landen in der Regel auch heute noch in den Erstaufnahmezentren. Die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen haben zwar einige Dienstleistungen, welche das «Salvini-Dekret» abgeschafft hatte, wieder eingeführt, die verfügbaren Mittel sind jedoch äusserts begrenzt. Asylsuchende Menschen haben in den Erstaufnahmezentren im Durchschnitt nur 15 Minuten pro Monat Zugang zu einem*einer Sozialarbeiter*in oder medizinischem Fachpersonal. Zudem steht in kleinen Zentren mit bis zu 50 Plätzen nur während 6 Stunden pro Woche und in grösseren Zentren mit bis zu 300 Plätzen lediglich während 24 Stunden pro Woche eine psychologische Fachperson zur Verfügung.

Im theoretisch besser ausgestatteten Zweitaufnahmesystem (SAI) hat es nicht genügend Plätze für Menschen mit psychischen oder physischen Gesundheitsproblemen und nicht alle SAI-Zentren bieten psychologische Behandlungen überhaupt an. Werden die italienischen Behörden – etwa von der Schweiz – über die besonderen Bedürfnisse einer Person informiert, gelangt diese Information oft nicht an die für die Zuweisung zuständigen Stellen. Auch beim Übergang vom Erst- ins Zweitaufnahmesystem gehen viele dieser Informationen verloren, wodurch die besonderen Bedürfnisse der Schutzsuchenden nicht erkannt werden. Grösstes Hindernis ist schliesslich die Sprachbarriere, weil das medizinische Fachpersonal oft nur italienisch spricht. Übersetzer*innen stehen häufig nur für die Zeit zur Verfügung, welche für medizinische Abklärungen innerhalb der Zentren vorgesehen ist.

Drohende Menschenrechtsverletzungen

Mit seinem Referenzurteil macht das Bundesverwaltungsgericht einmal mehr deutlich, dass es den Einzelfall und die effektiven Umstände vor Ort insbesondere bei Dublin-Rückführungen ungenügend abklärt. Auf Grundlage von Informationen der italienischen Behörden nimmt es eine zu optimistische Lageeinschätzung vor und verkennt die strukturellen Schwachstellen im italienischen Asylwesen. Dass Dublin-Länder wie Italien in der Schweiz pauschal als sicher gelten, weil sie etwa die die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben, geht an der Realität vorbei und hat insbesondere für schwer kranke Personen menschenrechtlich unhaltbare Konsequenzen. Besorgniserregend ist diesbezüglich auch, mit welcher Resilienz das Bundesverwaltungsgericht die langjährige Expertise und die Einschätzungen von zivilgesellschaftlichen Fachorganisationen ausblendet.

Solange die Schweiz die Lebensumstände von Personen im italienischen Asylwesen nicht individuell überprüft, nimmt sie bei Rückführungen nach Italien mögliche Verletzungen des Folterverbots der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 3 EMRK) sowie der UNO-Antifolterkonvention in Kauf. Das bestätigt nicht zuletzt die Praxis des UNO-Antifolterausschusses: Das Gremium hat jüngst mittels vorsorglicher Massnahmen – interim measures – die Rückführungen einer suizidalen und unter posttraumatischer Belastungsstörung leidenden Person nach Italien vorläufig verhindert. Ein klarer Hinweis darauf, dass die Zustände im italienischen Asylsystem für die Menschenrechte von Personen mit schweren Erkrankungen eine ernsthafte Bedrohung darstellen.

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