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Polizeiliches Fehlverhalten (Archiv 2003-2013)

30.08.2013

Diese Seite dient als Archiv von Artikeln auf humanrights.ch über polizeiliches Fehlverhalten in unterschiedlichen Kontexten. Sie sind in chronologischer Reihenfolge aufgeführt und inhaltlich voneinander unabhängig.

Polizeigewalt in Luzern: Was sind die Konsequenzen?

(Artikel vom 30.08.2013)

Am 22. August 2013 stellte der Berner alt Oberrichter Peter Sollberger in Luzern einen Zwischenbericht zu 22 aussergewöhnlichen Vorfällen im Luzerner Polizeikorps vor. Er taxierte sieben von diesen Vorfällen als gravierend. Den Auftrag zu dieser externen Untersuchung hatte Sollberger Anfang Juli von der Luzerner Regierungsrätin Yvonne Schärli erhalten, nachdem Unregelmässigkeiten bei der Luzerner Polizei publik geworden waren.

Schockierende Illustration

Am Tag nach der Präsentation des Zwischenberichts strahlte die Rundschau des Schweizer Fernsehens das Video einer Überwachungskamera aus, auf welchem zu sehen ist, wie ein Luzerner Elitepolizist einem Einbrecher, der sich bereits ergeben hat und wehrlos am Boden liegt, 5x gezielt und mit grosser Wucht mittels Fusstritt den Kopf traktiert.

Dies ist einer der von Sollberger untersuchten gravierenden Vorfälle. Der Gewaltexzess hat am frühen Morgen des 3. Juni 2013 in einem Uhrengeschäft in Luzern bei der Festnahme des Einbrechers stattgefunden. Am 24. Juni schaute sich der Kommandant der Luzerner Kantonspolizei das Video mit Mitgliedern der betreffenden Sondereinheit zusammen an. Erst am 15. Juli wurde der gewalttätige Polizist, gegen welchen in einem andern Fall bereits eine Strafanzeige lief, vom Dienst suspendiert.

Sofortmassnahmen

Sollberger stellte fest, dass der Luzerner Polizeikommandant Beat Hensler in einigen Fällen von exzessiver Polizeigewalt «mit unangemessener Milde» reagiert hatte. Als Sofortmassnahmen zur Verbesserung der Situation hat Sollberger laut der «Luzerner Zeitung» vom 20. Aug. 2013 folgende sechs Vorkehrungen gefordert:

  • «Das Vorgehen bei Verdacht auf Dienstpflichtverletzungen durch Angehörige der Polizei ist in einer Weisung oder einem Dienstbefehl zu regeln. Namentlich ist jeweils sofort der Oberstaatsanwaltschaft Mitteilung zu erstatten.
  • Es sind Richtlinien für vorsorgliche Massnahmen gemäss Personalgesetz zu erarbeiten. Dies muss bei der Eröffnung eines Strafverfahrens oder einer Administrativuntersuchung geschehen.
  • Während einer laufenden Straf- oder Administrativuntersuchung dürfen Polizisten nicht befördert werden. Massgebend für die Anhebung einer Administrativuntersuchung sind nicht der Ausgang eines Strafverfahrens, sondern die Dimension eines Vorfalls und die Frage, ob die ordentliche Dienstpflichterfüllung in Frage gestellt ist.
  • Polizeiliche Aktivitäten gegen Angehörige der Polizei sind nach Möglichkeit durch Angehörige ausserkantonaler Polizeikorps durchzuführen.
  • Bei grundloser Gewalt gegen Wehrlose soll in Zukunft eine Null-Toleranz-Doktrin herrschen.» 

Kommentar: Die Kantone müssen handeln

Seit vielen Jahren bemängeln sowohl schweizerische NGO wie auch internationale Menschenrechtsgremien das Fehlen von geeigneten unabhängigen Beschwerde- und Untersuchungsverfahren in Fällen von mutmasslich übertriebener Polizeigewalt.

Zwar gehen die Forderungen von Peter Sollberger in die richtige Richtung, doch sie sind Stückwerk und Wunschdenken zugleich: Die brisanteste Forderung, wonach Untersuchungen gegen Angehörige der Polizei «durch Angehörige ausserkantonaler Polizeikorps» durchzuführen seien, kommt zahnlos daher. Zum einen bezieht sie sich nur auf die polizeilichen Ermittlungen und nicht auf die Untersuchungsbehörden als Ganzes, zum andern stellt Sollberger die Forderung nur «nach Möglichkeit».

Nötig wären aber tiefgreifende interkantonale Reformen, um unabhängige Beschwerdestellen und Untersuchungsverfahren in Fällen von mutmasslicher übertriebener Polizeigewalt garantieren zu können. Denn die Problematik der exzessiven Gewaltausübung betrifft nicht nur das Luzernische, sondern alle Polizeikorps der Schweiz. An die Öffentlichkeit gelangen nur wenige Einzelfälle, und es gibt Grund zur Annahme, dass die Dunkelziffer hoch ist.

Bis jetzt gibt es kaum überzeugende Lösungen für faire und unabhängige Verfahren auf kantonaler Ebene. Es braucht einen systematischen Zugang auf der Ebene der bestehenden Polizeikonkordate, damit allseits anerkannte Verfahren mit niederschwelligen neutralen Beschwerdestellen und externen Untersuchungsbehörden eingerichtet werden.

Die verantwortlichen Regierungsräte der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und –direktoren (KKJPD) sind dringend gefordert, flächendeckende institutionelle Lösungen für diese gravierende menschenrechtliche Problematik herbeizuführen, anstatt es den Kantonen zu überlassen, den Deckel drauf zu halten und im Falle von «Informationspannen» jeweils ein kantonales Krisenmanagement aufzuziehen.

Dokumentation

Weitere «Einzelfälle»

  • Wie gefährlich ist die Polizei?
    Artikel von Christof Moser auf Infosperber vom 3. Nov. 2013
  • Schwere Vorwürfe an die Basler Polizei
    20 Minuten vom 25. Aug. 2013 (online nicht mehr verfügbar)
  • Wenn die Polizei gar kein schönes Bild abgibt
    Tages-Anzeiger vom 29. März 2010 (online nicht mehr verfügbar)

Weiterführende Informationen

Bundesgerichtsurteil zur Störung polizeilicher Tätigkeit

(Artikel vom 05.08.2013)

Ein Polizist ist im Kanton Zürich zu Recht wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch verurteilt worden. Dies hat das Bundesgericht am 27. Juni 2013 entschieden. Die Ereignisse, welche das Gericht zu beurteilen hatte, spielten sich im Sommer 2007 ab. Bei der Kontrolle eines Drogenkonsumenten hatte ein Unbeteiligter das polizeiliche Vorgehen kommentiert und kritisiert. Der Forderung, sich auszuweisen und seine Hände aus den Hosensäcken zu nehmen, kam der Unbeteiligte nur zögerlich nach. Es kam zu einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen dem Beobachter und den Polizisten. Schliesslich wurd der Beobachter abgeführt. Auf dem Polizeiposten versetzte ein Polizist ihm einen Fusstritt, worauf der Mann zu Boden fiel und sich am Kniegelenk verletzte. Danach musste er sich nackt ausziehen und im Intimbereich untersuchen lassen. Nach erfolgter Leibesvisitation blieb der Mann verletzt in der Zelle zurück. Die Polizei hielt ihn rund 90 Minuten fest. Dann entschied der Teamleiter, dass der Mann ins Spital muss.

Obergericht: Übertretung war abgeschlossen, das Abführen unnötig

Der unbeteiligte Beobachter legte daraufhin Klage ein wegen Körperverletzung und machte unter anderem geltend, die Dauer der Festnahme sei deutlich über ein kurzfristiges, vorübergehendes Festhalten hinausgegangen. Zudem sei die Leibesvisitation unangemessen und missbräuchlich gewesen, da keinerlei Verdachtsmomente auf Drogenbesitz oder gefährliche Gegenstände bestanden hätten. Gemäss Medienberichten handelt es sich beim Kläger um einen reformierten Zürcher Pfarrer.

Im anschliessenden Verfahren verurteilte das Zürcher Obergericht den Polizisten, der den Fusstritt versetzt hatte. Dieser aktzeptierte den Entscheid. Das Obergericht verurteilte auch den Einsatzleiter und zwar wegen Freiheitsberaubung. Es hielt fest, der Kläger habe durch Nichtbefolgen der polizeilichen Anordnung, die Hände aus den Säcken zu nehmen, eine Übertretung begangen. Diese Übertretung sei jedoch abgeschlossen gewesen. Da kein Grund zur Annahme bestand, dass er sich weiteren Anweisungen widersetze oder der vorgezeigte Ausweis gefälscht sei, seien Festnahme und Verbringung auf den Polizeiposten unverhältnismässig gewesen. Der genaue Wohnsitz des Klägers hätte auch telefonisch überprüft werden können.

Amtsmissbrauch sah das Gericht ebenfalls als erwiesen an, denn die durchgeführte Leibesvisitation sei nicht angezeigt, unangemessen, unverhältnismässig und damit missbräuchlich gewesen. Eine Leibesvisitation sei nur rechtmässig, wenn sie dringend erforderlich und durch die Bedeutung der Übertretung gerechtfertigt sei. Die Polizei hätte den Pfarrer vor Ort und über den Kleidern auf Waffen und ähnliches untersuchen können. Die Leibesvisitation war nach Ansicht des Gerichts eine unrechtmässige Zwangsmassnahme.

Polizist: «Störungslage war nicht unbedeutend» 

Der Einsatzleiter war mit dem Entscheid des Obergerichts nicht einverstanden und gelangte ans Bundesgericht. Nach seiner Darstellung hatte sich der Pfarrer zunächst lautstark widersetzt. Beruhend auf «dessen ungewöhnlichem Benehmen» habe er veranlasst, dass dieser auf den Polizeiposten gebracht werde. Der verantwortliche Polizist gab zu Protokoll, er habe auf der Strasse entschieden, den Pfarrer wegen Hinderung einer Amtshandlung anzuzeigen. Zwar habe sich dieser Verdacht schliesslich als unbegründet erwiesen. Sein Handeln sei dennoch korrekt gewesen, denn die Störungslage sei nicht unbedeutend gewesen. Zudem habe er nicht wissen können, ob der Kläger möglicherweise gesucht werde. Auch gebe es eine polizeiliche Dienstanweisung, dass Personen, welche die Polizeiarbeit stören, nicht auf der Strasse sondern auf der Polizeiwache zu überprüfen seien.

Das Bundesgericht stützte schliesslich in seinen Erwägungen des Falles die Argumentationsweise des Zürcher Obergerichts. In seinem Urteil hält es fest, die Vorbringungen des Polizisten seien unbehelflich. Es sei nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz die Übertretungshandlung des Privatklägers als abgeschlossen einstufte, als dieser die Hände schliesslich aus den Hosentaschen nahm. Dem Urteil ist ferner zu entnehmen, dass der Polizist die erwähnte Dienstanweisung dem Gericht nicht vorlegen konnte.

Dokumentation

Polizeigewalt: Lausanner Urteil wegen Amtsmissbrauch

(Artikel vom 13.08.2012)

Am 20. Juli 2012 hat ein Waadtländer Bezirksgericht zwei Stadtpolizisten von Lausanne zu bedingten Geldstrafen wegen Amtsmissbrauchs und in einem Fall wegen einfacher Körperverletzung verurteilt. Das Urteil markiert das Ende eines 6-jährigen Rechtsstreits zwischen einem jungen Eritreer und der Lausanner Polizei. Der Fall zeigt exemplarisch, wie schwierig es in der Schweiz für Opfer von Polizeigewalt sein kann, zu ihrem Recht zu kommen. Nach Ansicht von Humanrights.ch ist deshalb die Schaffung von spezialisierten und unabhängigen Beschwerdeinstanzen für Opfer von Polizeigewalt dringend notwendig.

Waldaussetzungen in Lausanne

Der Fall, welcher vom Waadtländer Bezirksgericht Nord beurteilt wurde, hat seinen Ursprung in der Neujahrsnacht 2006. Die Polizei hielt den damals 16-jährigen Eritreer früh morgens bei einer Identitätskontrolle an. Dieser beschimpfte die Beamten heftig, worauf sie ihn mit auf die Polizeistation nahmen. Hier liess die Polizei ihn kurz darauf frei. Wenig später traf der Jugendliche gemäss eigenen Angaben auf einen Polizeiwagen, in dessen Richtung er eine Schimpftirade los liess. Die fünf Polizisten, die im Auto sassen, sperrten ihn in ihren Wagen und fuhren ihn in einen Wald ausserhalb Lausannes, wo sie ihn aussetzten. Bevor die Beamten ihn alleine liessen, besprühten sie den jungen Mann offenbar mit Pfefferspray, worauf dieser sich verirrte. Als der Eritreer später auf derselben Polizeistation eine Beschwerde wegen Misshandlung einreichen wollte, weigerte sich der diensthabende Beamte, gemäss der Darstellung des jungen Mannes, diese anzunehmen. Schliesslich reichte er Mitte Mai 2006 dank der Mithilfe seiner Mutter eine Beschwerde ein.

Damit nahm der Rechtsstreit seinen Anfang. Zwei Mal sprachen die Kreisgerichte von Lausanne, respektive Nyon, den Polizisten, der den Pfefferspray auslöste, frei. Nach der Rückweisung eines erneuten Rekurses vor dem kantonalen Kassationsgericht, wandte sich der Beschwerdeführer schliesslich ans Bundesgericht. Dieses hiess die Beschwerde schliesslich gut und entschied, dass das Bezirksgericht willkürlich geurteilt habe. So seien zum Beispiel mehrere Zeugenaussagen, welche die Anschuldigungen des jungen Mannes erhärteten, durch die kantonalen Instanzen abgewiesen worden. Das Bundesgericht wies den Fall zur Neubeurteilung zurück an das Bezirksgericht, welches nun die Polizisten wegen Amtsmissbrauchs und in einem Fall wegen einfacher Körperverletzung verurteilt hat.

Bereits 2010 war ein ähnlicher Fall in Lausanne publik geworden. Damals war ein junger Mann, der zunächst vor einer Polizeikontrolle floh, ebenfalls im Wald in der Nähe von Lausanne ausgesetzt worden. Der Polizeibeamte war vom Lausanner Bezirksgericht schliesslich ebenfalls des Amtsmissbrauchs für schuldig erklärt worden.

Beamte müssen kaum mit unangenehme Folgen rechnen

Trotz dem nun erfolgten Schuldspruch durch das Bezirksgericht zeigen die Umstände des Lausanner Falles, dass es für Opfer von Polizeigewalt teilweise sehr schwierig ist, gegen Beamte vorzugehen (siehe hierzu auch den Artikel «Aktuelle Schätzungen und Forderungen in Sachen Polizeigewalt»).

Bereits mehrere Male betonte der UNO-Ausschuss gegen die Folter (CAT) gegenüber der Schweiz seine Besorgnis bezüglich des Umgangs mit Beschwerden wegen Polizeigewalt. Er bemängelte, dass nur ein geringer Teil der Anzeigen gegen die Polizei wegen gewalttätiger Übergriffe und Misshandlungen zu einer Strafverfolgung oder einer Anklage führen (CAT 2010, Ziff. 19). Besonders besorgniserregend seien Berichte von übermässiger Gewaltanwendung gegenüber Ausländern, namentlich auch Asylsuchenden und Migranten, insbesondere in den Kantonen Genf und Waadt (CAT 2010, Ziff. 8). Der Ausschuss empfahl deshalb, in allen Kantonen unabhängige Instanzen zu schaffen, welche Anzeigen gegen Polizeiangehörige wegen gewalttätiger Übergriffe oder Misshandlungen entgegennehmen können (CAT 2010, Ziff. 9).

Aktuelle SKMR-Studie zum Thema

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) kommt in einer Studie zu der Umsetzung menschenrechtlicher Vorgaben in den Bereichen Freiheitsentzug, Polizei und Justiz ebenfalls zum Schluss, dass die Schweiz «im Bereich des Rechtsschutzes im Zusammenhang mit Polizeigewalt teilweise strukturelle Defizite» aufweist. In den letzten Jahren habe sich trotz zahlreicher internationaler Rückmeldungen kaum etwas geändert. Die meisten Kantone könnten eine unabhängige Strafuntersuchung nicht gewährleisten, da oftmals Arbeitskollegen/-innen der beschuldigten Polizisten/-innen entscheiden, ob der Vorwurf eines polizeilichen Übergriffes genügt, um einen Tatverdacht zu begründen.

Das SKMR empfiehlt daher unter anderem die Schaffung von Ombudsstellen in der ganzen Schweiz. Es präzisiert dazu jedoch, dass Ombudsstellen, wie sie bereits in vereinzelten Kantonen und Städten existieren, nicht die Aufgaben einer unabhängigen Beschwerdeinstanz gemäss Art. 13 EMRK erfüllen, da sie keine rechtsbindenden Entscheidungen treffen können. Zudem müsse in einem Strafverfahren die Unabhängigkeit der Staatsanwälte gewährleistet sein. Die Studie schlägt deshalb einen Pool von ausserkantonalen Staatsanwälten vor.

Im übrigen beabsichtigt der Lausanner Stadtrat nun die problematischen Praktiken im Lausanner Polizeicorps anzugehen. Geplant sind Ethikkurse für Polizisten/-innen und Aufklärung über Methoden zur Stressbewältigung.

Dokumentation

Erfolg für ein Opfer von Polizeigewalt vor Bundesgericht - Rechtslage bleibt unklar

(Artikel vom 23.12.2011)

Das Bundesgericht hat in einem Entscheid vom 24. November 2011 den Kanton Aargau aufgefordert, einen Polizeieinsatz mit Schusswaffengebrauch zu untersuchen und dafür einen ausserordentlichen, von den Polizeibehörden unabhängigen Staatsanwalt einzusetzen. Anwalt und Unterstützende des Betroffenen, der noch heute gesundheitlich angeschlagen ist, freuen sich über den Entscheid.

Interessierte Kreise hatten sich ein Grundsatzurteil erhofft und sind vom Bundesgerichtsentscheid nun enttäuscht. Denn auf politischer Ebene fehlt derzeit die Bereitschaft, spezielle Beschwerdemechanismen einzurichten, die dafür sorgen, dass Vorwürfe gegen Polizisten/-innen wegen exzessiver Gewaltanwendung von unbefangener Seite untersucht werden.

Sachverhalt

Im Mai 2009 schrie der Serbe Zeljko B. stark alkoholisiert in seiner Wohnung in Wohlen (AG) herum und drohte sich umzubringen. Die überforderte Ehefrau verliess mit dem gemeinsamen Kind die Wohnung und benachrichtigte die Aargauer Polizei, weil sie befürchtete, dass ihr Mann sich etwas antun könnte. Daraufhin ging ein einzelner Polizist von der Regionalwache bei Zeljko B. vorbei, dieser drohte ihm.

Nachdem die angeforderte Verstärkung in Form der Sondereinheit «Argus» eintraf, eskalierte die Situation.  Zeljko B. weigerte sich, die schwerbewaffneten Polizisten in seine Wohnung zu lassen. Daraufhin fragte der Einsatzleiter beim Chef der Kantonspolizei, Urs Winzenried, an, ob die Sondereinheit «Argus» die Wohnung stürmen dürfe. Per Telefon gab dieser die Erlaubnis zum Einsatz ohne Auflagen (auch nicht punkto Schusswaffeneinsatz), wenn die Situation eskalieren und «zu einer Fremd- oder Eigengefährdung führen würde».

Die Sondereinheit «Argus» verschaffte sich nun mit sechs schwerbewaffneten Männern Zugang zur Wohnung und zum verängstigten Zeljko B. Dieser fuchtelte mit einem Küchenmesser herum, worauf ein Polizist dem Mann zweimal in den Bauch schoss.

Die Polizisten stellten sich nachträglich auf den Standpunkt, die Schüsse seien wegen des Küchenmessers aus Notwehr abgefeuert worden. Nach dem gewalttätigen Einsatz musste Zeljko B. notfallmässig operiert werden. Er verlor nach Angaben der Aargauer Zeitung zwei Drittel seines Darms und eine Kugel blieb neben der Wirbelsäule stecken. Seit dem Vorfall sei der Mann arbeitsunfähig.

Das Bezirksamt Bremgarten eröffnete aufgrund des Vorfalls eine Untersuchung gegen zwei Mitglieder der Sondereinheit und gegen Zeljko B. Zu einer Klage kam es nicht. Im September 2010 (unterdessen hatte ein unabhängiges Gutachten schwere Mängel nachgewiesen) beantragte Zeljko B., die Untersuchung sei auf Winzenried, Chef der kantonalen Polizei und den Einsatzleiter auszudehnen. Ausserdem sei ein unabhängiger Staatsanwalt einzusetzen.

Regierungsrat Urs Hoffmann, die neu zuständige Staatsanwältin und die Aargauer Oberstaatsanwaltschaft unterstützten den Antrag. Dennoch weigerte sich das Aargauer Obergericht in mehreren Entscheiden, einen ausserordentlichen Staatsanwalt einzusetzen. Zuletzt im Juli 2011, als es den Antrag des leitenden Oberstaatsanwalts ablehnte: Nur in einem allfälligen Strafverfahren gegen den Aargauer Kripochef Urs Winzenried, der in den Einsatz von «Argus» und den Gebrauch von Schusswaffen ohne Auflagen eingewilligt hatte, erachtete das Obergericht einen ausserkantonalen Staatsanwalt für nötig. Ein allfälliges Strafverfahren gegen den Einsatzleiter könne ein Staatsanwalt aus einer andern Region führen, jenes gegen die beiden schiessenden Polizisten könne bei der Staatsanwältin der Region Muri-Bremgarten bleiben.

Daraufhin reichte die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau beim Bundesgericht eine Beschwerde ein und hielt fest, derselbe Staatsanwalt müsse die gesamten Vorkommnisse untersuchen. Ebenfalls eine Beschwerde legte das Opfer Zeljko B. ein. Er forderte, dass die gesamte Staatsanwaltschaft des Kantons in allen zur Untersuchung kommenden Fällen in Ausstand treten soll.

Das Urteil - und dessen Bewertung

Das Bundesgericht hat nun in seinem Urteil vom 24. November 2011 festgehalten, dass der Kanton Aargau zur Untersuchung des Vorfalls einen neuen, ausserordentlichen Staatsanwalt einsetzen muss. Das bedeutet, dass ein ausserkantonaler Staatsanwalt die Untersuchung leiten wird und zwar sowohl in den Strafverfahren gegen die Sondereinheit «Argus» wie im Verfahren gegen Zeljko B.

Leider hat das Bundesgericht nur den Einzelfall beurteilt und ist nicht soweit gegangen, ein die Rechtsunsicherheit klärendes Grundsatzurteil für das Vorgehen bei Strafverfahren gegen Polizeikräfte zu fällen. Die Frage, ob und wie bei Strafverfahren gegen Polizisten vorzugehen ist, lässt das höchste Schweizer Gericht ungeklärt. Auch auf politischer Ebene herrscht in der Frage Stillstand: Ungeachtet diverser Rügen von internationalen Organen haben weder der Bund noch das interkantonale Polizei-Konkordat Schritte unternommen, um die für Opfer und Untersuchungsbehörden sehr problematische Situation zu beheben.

Damit wird auch künftig nach Polizeieinsätzen, in denen es zur Anwendung von mutmasslich unverhältnismässiger Gewalt kam, in der Regel derjenige Untersuchungsrichter den Sachverhalt abklären, der in seiner tagtäglichen Arbeit darauf angewiesen ist, mit dem Polizeikorps gut und einvernehmlich zusammenzuarbeiten. Dieser Interessenskonflikt führt allzu oft dazu, dass Untersuchungen gegen Polizisten eingestellt werden oder Strafverfahren gegen die Polizei mit Freisprüchen enden. Hier kann einzig die Schaffung von unabhängigen Beschwerdemechanismen Abhilfe bringen, - eine Forderung, die seit Jahren im Raum steht.

Dokumentation

Weiterführende Informationen

Zwei Tessiner Kantonspolizisten in Haft

(Artikel vom 25.10.2005)

Aufgrund von Hinweisen der Direktion für Asylbewerberzentren des Schweizerischen Roten Kreuzes sind in Lugano Mitte Oktober zwei Kantonspolizisten verhaftet worden. Ihnen werden Vergehen gegen Asylbewerber vorgeworfen.

Die Vorwürfe gegen die Beamten sind schwerwiegend. Sie werden beschuldigt, ihre Autorität wiederholt missbraucht, mehrmals Diebstahl verübt und Asylbewerber rassistisch diskriminiert zu haben. Die beiden Polizisten sollen seit August 2005 in Lugano Strassenkontrollen simuliert, Asylbewerber angehalten und ihnen Geld abgenommen haben.

Die Polizeibeamten wurden suspendiert. Die Kantonspolizei hat eine Untersuchung eingeleitet.

  • Mitteilung der Kantonspolizei des Kantons Tessin vom 14. Oktober 2005 (in italienisch) (online nicht mehr verfügbar)

Unverhältnismässiger Polizeieinsatz in Glarner Durchgangszentren

(Artikel vom 06.01.2004)

Im August 2003 hatte Amnesty International (AI) die Glarner Behörden aufgefordert, eine gründliche und unabhängige Untersuchung der angeblichen Fälle von grausamer, unmenschlicher und degradierender Behandlung von Asylbewerber/innen im Zuge von polizeilichen Hausdurchsuchungen in den Durchgangszentren Ennenda und Linthal einzuleiten.

Die daraufhin eingeleitete Strafuntersuchung kam zum Schluss, dass verschiedene polizeiliche Massnahmen in den beiden vom Roten Kreuz (SRK) geführten Zentren unverhältnismässig waren. So beanstandete die Untersuchungsbehörde, dass die Asylsuchenden während der gesamten Dauer der Hausdurchsuchung (rund sechs Stunden) an Händen und Füssen gefesselt und mit einem über den Kopf gezogenen Sack der Sicht beraubt waren. Das SRK sah damit seine Kritik bestätigt und forderte die Glarner Polizei auf, dass die Zentrumsleitung in Zukunft über geplante Hausdurchsuchungen informiert wird. Dies sei auch in anderen Kantonen durchaus üblich. Nur so könne die Betreuung der zum Teil durch Kriegserfahrungen traumatisierten Asylsuchenden während des Polizeieinsatzes sichergestellt werden. 

Berichte zu Polizeiübergriffen in der Stadt Zürich

(Artikel vom 12.07.2003)

Die Geschäftsprüfungskommission des Zürcher Stadtparlaments hat einen Untersuchungsbericht veröffentlicht. Schon zuvor hatte der befristet eingesetzte Ombudsman der Zürcher Stadtpolizei, Marco Mona, seinen Bericht abgeliefert.