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Ist das neue Berner Polizeigesetz grundrechtekonform?

28.05.2018

Am 27. März 2018 beschloss der Grosse Rat mit 123 zu 23 Stimmen in zweiter Lesung die Totalrevision des Berner Polizeigesetzes – ein erstaunlich klares Resultat. Bereits per 1. Januar 2019 soll das Gesetz in Kraft treten. Doch links-alternative Kreise und Fahrenden-Organisationen drohen den Zeitplan von Regierungsrat Käser (FDP) über den Haufen zu werfen: Am 18. April 2018 haben die Grünalternative Partei, die Alternative Linke Bern, die Partei der Arbeit, die Juso Kanton Bern und die SP Stadt Bern, die Demokratischen JuristInnen Bern sowie der Fahrenden-Verein «schäft qwant» das Referendum lanciert. Bis zum 18. Juli 2018 müssen sie 10'000 Unterschriften sammeln.

Erste Totalrevision seit 2007

Mit der aktuellen Überarbeitung wurde das Polizeigesetz seit der Einführung von Police Bern – einer Art Vertragssystem zwischen Kanton und Gemeinden im Bereich der Sicherheitspolizei – zum ersten Mal seit 2007 einer Gesamtrevision unterzogen. Der Regierungsrat strebt auf diese Weise einerseits die Optimierung der Zusammenarbeit zwischen Kanton und Gemeinden, konkret eine Verringerung des administrativen Aufwands, an. Andererseits sollen die polizeilichen Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung gestärkt werden.

Das neue Polizeigesetz berührt auch grundrechtlich heikle Fragestellungen: Wann darf die Polizei verdeckt ermitteln? Ist die Übertragung von Kosten von Polizeieinsätzen an Demonstrationsteilnehmende gerechtfertigt? Wem gehört der öffentliche Raum? 

In den folgenden Abschnitten gehen wir auf drei der vorgesehenen Änderungen mit besonderer grundrechtlicher Relevanz genauer ein: Erstens die Einführung einer Kostenüberwälzung von Polizeieinsätzen an Organisatoren/-innen und Demonstrationsteilnehmenden; zweitens die Wegweisung von Campierenden – wobei ganz klar fahrende Bevölkerungsgruppen gemeint sind - sowie drittens die neuen, sehr eingreifenden präventiv-polizeilichen Massnahmen, die im schweizweiten Trend hin zur Schaffung eines vorbeugenden Sicherheitsapparates liegen.

Beschneidung der Meinungsäusserungsfreiheit

Bern als Bundeshauptstadt ist jedes Jahr Austragungsort unzähliger Kundgebungen aus allen politischen Lagern. Die meisten dieser Veranstaltungen verlaufen friedlich, bei einigen wenigen kommt es zu Gewaltausschreitungen. Bis anhin übernahm die Allgemeinheit die Kosten für entsprechende Polizeieinsätze – zivilrechtliche Schadenersatzforderungen waren und sind natürlich stets möglich.

Neu soll dank den neuen Artikeln 54 bis 57 das Verursacherprinzip gelten. Im Fall von Polizeieinsätzen an unbewilligten Demonstrationen – oder solchen, welche sich vorsätzlich oder grobfahrlässig nicht an die Bewilligungsauflagen halten – sollen Gemeinden die Organisatoren/-innen der Kundgebung und die Randalierenden neben dem Sachschaden auch für den Polizeieinsatz selbst zur Kasse bitten dürfen. Die Maximalhöhe der Kostenüberwälzung beträgt dabei 10'000 Franken im Normalfall, in schweren Fällen 30'000 Franken.

Diese Gesetzesartikel haben ihren Ursprung in einer Motion von FDP-Grossrat Philippe Müller aus dem Jahr 2015, inspiriert von einer Luzerner Bestimmung (Art. 32b Abs. 4 PolG LU) zur Kostenauflage bei Veranstaltungen mit Gewaltausübung. Diesen ursprünglichen Luzerner Paragraphen hat das Bundesgericht jedoch mit dem Urteil vom 18. Januar 2017 aufgehoben (mehr dazu hier). Infolge dieses Urteils präzisierte der Berner Grosse Rat die vorgesehenen Bemessungsgrundlagen (Art. 56 Abs. 2), um eine grundrechtekonforme Auslegung zu ermöglichen. Entsprechend werden neu der individuelle Teilbeitrag sowie die individuelle Verantwortung für den Polizeieinsatz berücksichtigt. Im Grundsatz hielt der Gesetzgeber aber an der Kostenbeteiligung durch jene Kundgebungsteilnehmenden fest (Art. 54), die an einer Gewaltanwendung beteiligt sind oder sich auf polizeiliche Weisung hin nicht entfernen (Art. 55 Abs. 2). Somit ist grundsätzlich jegliche Teilnahme an einer Demonstration mit einem erheblichen Kostenrisiko verbunden.

Werden Veranstalter/innen oder Demonstrierende durch drohende Polizeigebühren derart abgeschreckt, dass sie zum Vornherein auf die Grundrechtsausübung verzichten (Verzicht auf Kundgebung, provokative Slogans etc.), liegt eine grundrechtswidrige Abschreckungswirkung bzw. ein Einschüchterungseffekt (chilling effect) vor. Dies kommt einer Aushöhlung der verfassungs- und konventionsmässig geschützten Meinungsäusserungs- (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK) und Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV, Art. 11 EMRK) gleich, denn gemäss dem Leitentscheid (BGE 143 I 147) des Bundesgerichtes gilt der Grundrechtsschutz auch, wenn beispielsweise kleinere Gruppen am Rand einer Versammlung randalieren. Einzig wenn die meinungsbildende Komponente völlig zur Nebensache wird, kann der Schutz des Grundrechts entfallen.

Dabei handelt es sich keineswegs um Schwarzmalerei: Das Beispiel der seit Jahren im bewilligten Rahmen durchgeführten Luzerner 1. Mai-Demonstration zeigt, dass drohende Kosten Veranstalter/innen effektiv abschrecken. Seit die Luzerner Regelung zur Kostenüberwälzung in Kraft trat, lassen sich für sie keine Veranstalter/innen mehr finden.

Wegweisung

Gemäss der Logik, welche den neuen kantonalen Polizeigesetzen zugrunde liegt, fallen neben 1. Mai-Aktivisten/-innen noch diverse andere Personentypen – z.B. unbotmässige Jugendliche oder Randständige – in die Kategorie der im öffentlichen Raum «Störenden». Für sie soll, sofern das Berner Polizeigesetz nicht am Referendum scheitert, ab Januar 2019 die mündliche Wegweisung für 48 Stunden gelten (Art. 84 Abs. 3). Der Willkür werden damit Tür und Tor geöffnet, da sogar schon Einzelpersonen lediglich aufgrund einer «Störung (…) der öffentlichen Sicherheit und Ordnung» (Art. 83) mündlich weggewiesen werden können. Eine mündliche Wegweisung bedeutet, dass der betroffenen Person nur nachträglich eine schriftliche Verfügung ausgestellt wird und dies auch nur, wenn sie eine solche selbstständig einfordert. Wegweisungen sind jedoch Verfügungen, welche laut Prinzipien des Verwaltungsrechts immer schriftlich inklusive Rechtsmittelbelehrung zu geschehen hätten.

Diskriminierung von Fahrenden

Besonders stossend ist, dass das Berner Parlament eine ähnliche Wegweisungs-Regelung spezifisch für Fahrende geschaffen hat. Diese entstand unter Einfluss des medial kontrovers diskutierten Falles von Wileroltigen, wo sich Anfang Juni 2017 ca. 500 Fahrende auf einem Feld nahe der Autobahn A1 niedergelassen hatten. Mit dem stetig wachsenden Unmut in der lokalen Bevölkerung stieg auch der Druck auf die Politik. Die zuständige Behörde stellte jedoch schnell klar, dass ohne gesetzliche Grundlage keine Räumungs-Hilfe seitens der Polizei zu erwarten sei, solange die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet sei.

Dies ändert sich nun im neuen Gesetz mit dem sogenannten «Fahrenden-Artikel»: «Unerlaubtes Campieren auf privatem und öffentlichem Boden» (Art. 83 Abs. 1 h) stellt im neuen Polizeigesetz einen «legitimen» Wegweisungsgrund dar. Wieso der Gesetzgeber von Campierenden anstelle von Fahrenden spricht, obwohl er diese meint, muss kritisch hinterfragt werden. Klar ist in jedem Fall, dass Fahrende für ihre Lebensweise Anhalte- oder Transitplätze brauchen; diese Aufenthalte dürfen aber nicht als «Campieren» bezeichnet werden. Im Gegenteil: Man muss sich fragen, ob es sich nicht um eine unzulässige indirekte Diskriminierung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 BV handelt, wenn Fahrende Touristen/-innen in Zelten oder Wohnwagen gleichgestellt werden.

Der Grosse Rat scheint sich der grundrechtlichen Brisanz von Art. 84 Abs. 4 – möglicher Verstoss gegen die Diskriminierungsnorm – bewusst zu sein. Im Gegensatz zur normal vorgesehenen Wegweisung (mündlich), können Fahrende nur schriftlich und mit einer Frist von 24 Stunden weggewiesen werden. Auch kann die Polizei ein Gelände nur räumen, sofern ein Transitplatz zur Verfügung steht.

Genau bei diesen Transitplätzen liegt jedoch das Problem: Es existiert in der gesamten Schweiz nur ein einziger offizieller Transitplatz für ausländische Fahrende in Domat/Ems (einige weitere Durchgangsplätze teilen sich in- und ausländischen Fahrende). Ohne Transitplatz im Kanton Bern ist die Norm im Berner Polizeigesetz aber wirkungslos, weil den Fahrenden eine Alternative im Kanton zur Verfügung gestellt werden müsste, um bei einer Wegweisung nicht gegen das Diskriminierungsverbot und den Minderheitenschutz zu verstossen.

Wenn ein Kanton auf die Anliegen der Fahrenden nur mit Wegweisung oder Fernhaltung reagiert, so verunmöglicht er diesen auf seinem Gebiet ihre Lebensweise, ihr Familienleben, ihre Berufstätigkeiten und die Bildung für ihre Kinder und verwehrt der Gruppe der Fahrenden das Recht auf Achtung des Privat- und insbesondere des Familienlebens.

Überwachung ohne Verdacht

Schliesslich – und dies ist besonders besorgniserregend – weitet der Kanton Bern unter dem Mäntelchen der gestiegenen Sicherheitsansprüche die Kompetenzen der Kantonspolizei massiv aus, insbesondere im Bereich der polizeilichen Vorermittlungstätigkeit und der verdeckten Fahndung.

Konkret darf die Polizei die Bürger/innen fortan «an allgemein zugänglichen Orten verdeckt beobachten und dabei Bild- und Tonaufnahmen machen», so steht es in Artikel 118 des neuen Polizeigesetzes. Doch die Befugnisse der Ordnungshüter/innen gehen deutlich weiter. Die Ermittelnden dürfen beispielsweise einen GPS-Sender am Auto von Verdächtigen anbringen und seinen Standort in Echtzeit überwachen. Auch das Eindringen ins Smartphone von Verdächtigten ist erlaubt. Sogar Undercover-Fahnden unter falscher Identität und mit Hilfe erfundener Urkunden wird ermöglicht. Verdächtige werden so bewusst getäuscht, um an Aussagen zu gelangen, welche vor Gericht als Beweismittel verwendet werden können. Die Kompetenzen der Kantonspolizei Bern gehen dabei über jene in der Strafprozessordnung geregelten hinaus: Einen Monat lang darf ohne richterlichen Beschluss verdeckt ermittelt, gefahndet und observiert werden, ohne dass ein konkreter Tatverdacht vorliegen muss. Laut Artikel 111 müssen lediglich «ernsthafte Anzeichen dafür bestehen, dass Verbrechen oder Vergehen vor der Ausführung stehen und andere Massnahmen [...] aussichtslos wären [...]».

Aber was genau sind «ernsthafte Anzeichen»? Der Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser lässt sich in der WOZ vom 18. Januar 2018 wie folgt zitieren: Ernsthafte Anzeichen sind, «wenn zum Beispiel zwei Leute mit einem Hammer vor einer Fensterscheibe stehen. » Oder, wenn im «terroristischen Bereich» Anzeichen bestünden, dass sich jemand radikalisiere, sich etwa Auftreten und Kleidungsstil entsprechend änderten, oder auch, wenn entsprechende Meldungen bei der Polizei eingingen. SP-Grossrätin Meret Schindler formuliert gleiches etwas anders: «Die Polizei kann [...] Leute einen Monat lang auf Schritt und Tritt verfolgen, lediglich aufgrund einer Denunziation.»

Wenn einschneidende Massnahmen lediglich auf willkürlichen Vermutungen und Annahmen basieren, wäre ein intakter Rechtsschutz für Betroffene umso wichtiger. Dennoch sucht man im vorliegenden Polizeigesetz vergeblich nach Kontrollinstrumenten. Es wird bewusst auf die Kennzeichnungspflicht für Polizisten/-innen oder auf konkrete Massnahmen gegen Racial Profiling, wie etwa die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle (siehe unser Artikel zum Thema), verzichtet. Diese wäre jedoch dringend nötig, denn jede staatliche Macht bedarf einer wirksamen Kontrolle. Dieses Prinzip gilt erst recht für die Polizei als Inhaberin des staatlichen Gewaltmonopols. Die unabhängige Abklärung von möglichen Übergriffen durch die Polizei ist nicht nur für die mutmasslichen Opfer, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Polizei selbst von zentraler Bedeutung.

Kommentar

Das revidierte Berner Polizeigesetz enthält gesamthaft 189 Artikel, von denen gleich mehrere hinsichtlich ihrer Konformität mit den Grundrechten hätten überprüft werden müssen. Im vorliegenden Artikel haben wir drei Bestimmungen herausgegriffen, denen eines gemein ist: Sie richten sich gegen das  «Andere», d.h. gegen Minderheiten, die potenziell die gesellschaftliche Ordnung stören.

Es geht um:

  • Andersdenkende: Demonstranten/-innen, welche ihren Unmut über politische Entscheidungen und Realitäten an die Öffentlichkeit tragen wollen.
  • Anderslebende: Fahrende, welchen aufgrund von tiefsitzenden Vorurteilen das Ausleben ihrer Identität verunmöglicht werden soll.
  • Anderswirkende: Personen, welche durch ihr Verhalten oder Aussehen das Gesellschaftsbild stören und so willkürlich unter Verdacht geraten, die Gesellschaft als Ganzes zu gefährden.

Die neu entflammte Begeisterung insbesondere unter bürgerlichen Parlamentariern/-innen für staatliche Härte im Namen der Sicherheit schadet einer offenen und toleranten Gesellschaft. Das Berner Polizeigesetz führt auf kantonaler Ebene weiter, was der Bund auf nationaler Ebene mit seiner Gesamtstrategie zur Terrorismusbekämpfung angestossen hat. Das Motto «Der Zweck heiligt die Mittel» ist zum roten Faden geworden und rechtfertigt – angeblich –  eine neue Interessensgewichtung: Sicherheit über Meinungsäusserungsfreiheit, Sicherheit über Minderheitenschutz, Sicherheit über Persönlichkeitsrechte und Unschuldsvermutung.

Sicherheit über alles? Aus Sicht von humanrights.ch ist klar, dass ein Kompetenzausbau der Polizei mit der Einführung bzw. Ausbau entsprechender Kontrollmechanismen einhergehen muss. Ein erster Schritt dazu wäre die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle und Untersuchungsinstanzen zu polizeilichem Fehlverhalten.