27.01.2023
Das Spektrum an Phänomenen, die unter dem Begriff Religion erfasst werden können, ist sehr breit und divers. Es existiert keine allgemeingültige Definition von Religion, und weder das Gesetz noch die Wissenschaft kennen bis heute einen einheitlichen Religionsbegriff.
Trotz der fehlenden Definition von Religion wird diese in Gesetzestexten zum Thema Religionsfreiheit verhandelt. Auch wenn es um die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft geht, wird Religion als Fluchtgrund zum Thema. Dabei wird die Religionszugehörigkeit an den Flüchtlingsstatus geknüpft, aus welchem juristische und politische Rechte und Ansprüche erwachsen. In der Auslegung und Rechtsprechung zum nationalen Recht und zu internationalen Abkommen finden sich Hinweise, welche Phänomene aus juristischer Sicht unter den Religionsbegriff fallen können.
Religionsbegriff im Schweizer Recht
Die Schweizer Bundesverfassung verbrieft in Artikel 15 die Glaubens- und Gewissensfreiheit – die Religionsfreiheit. Was genau Religion bedeutet, wird in der Bestimmung nicht eindeutig beschrieben, zum Schutzbereich der Religionsfreiheit hielt das Bundesgericht im Jahr 1993 jedoch folgendes fest: «Unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen Weltanschauungen, soweit sie Ausdruck des Religiösen oder Transzendenten sind und eine Gesamtschau der Welt und des Lebens zum Gegenstand haben» (BGE 119 IV 260 S. 263).
Religion ist demzufolge eine Weltanschauung, welche die Welt und das Leben aufgrund religiöser oder transzendenter Deutungsmuster interpretiert. Zwar wird auch hier der Begriff religiös nicht weiter definiert. Die Verknüpfung von Transzendenz mit der Art und Weise, die Welt zu begreifen, nähert sich jedoch einer Religionsdefinition an.
Religionsbegriff in internationalen Abkommen
Auf internationaler Ebene versteht zunächst die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Rahmen der Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 18 AEMR) Religion und Weltanschauung sehr nahe beieinander. Als Möglichkeiten, sich zu einer Religion zu bekennen, werden Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen genannt, was ein eindeutig christlich geprägtes Religionsverständnis zeigt.
In der Auslegungshilfe zur Gedanken‑, Gewissens‑ und Religionsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9 EMRK) – welche sich stark an der Formulierung der AEMR orientiert – wird statuiert, dass Religion unmöglich im Konventionstext definiert werden kann. Denn eine solche Definition müsste sowohl flexibel genug sein, um das gesamte Spektrum der Religionen weltweit zu erfassen, als auch spezifisch genug, um auf Einzelfälle anwendbar zu sein. Allerdings wird der Schutzbereich insofern definiert, als dass die individuellen und kollektiven Überzeugungen – also die «Religion» – einen bestimmten Grad an Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Wichtigkeit widerspiegeln müssen. Nach diesem Verständnis wird auch keine Institutionalisierung und keine Organisation in einer Gemeinschaft oder in einem Kollektiv vorausgesetzt. Persönliche Überzeugungen werden auch geschützt, wenn diese mit niemandem anderen geteilt werden. Gemäss der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann dieser Schutzbereich neben etablierten Religionsgemeinschaften – wie beispielsweise Religionsgemeinschaften des Islams, Judentums oder Sikhismus – auch neue religiöse Bewegungen, neue religiöse Gruppierungen und spirituelle Praktiken – wie beispielsweise die Osho Bewegung, Santo Daime, Neo-Paganismus oder Zeugen Jehovas – als auch philosophische Überzeugungen – wie beispielsweise solche des Pazifismus – umfassen.
Weiter enthält auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte eine Bestimmung zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18 UNO-Pakt II), welche breit ausgelegt werden kann. In seinem General Comment Nr. 22 beschreibt der UNO-Menschenrechtsausschuss, dass damit theistische, nicht-theistische und atheistische Glaubensformen geschützt werden. Dabei seien die Begriffe «Glaube» und «Religion» breit auszulegen und nicht auf ein traditionelles Verständniss von Religion mit institutionellem Charakter oder auf traditionell verstandene Praktiken zu beschränken.
Schliesslich hält das Handbuch zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen UNHCR fest, dass Religion als Glaube – einschliesslich der Nicht-Gläubigkeit – als Identität oder als Lebensform verstanden werden kann. Glaube beschreibt dabei eigene Überzeugungen und Weltanschauungen. Die Identität umfasst die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und die Lebensform den Einbezug bestimmter Praktiken und Rituale im Alltag.
Weitere Informationen
- Winzeler, Christoph: Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz
Schultess Verlag, 2009 - Begriffe
Erklärungen und Stellungnahmen von INFOREL zu bekannten und teils kontroversen Begriffen im Umfeld von Religion und Religionen.