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Islamisches Recht

27.01.2023

Im islamischen Recht gibt es eine Vielzahl an verschiedenen Schulen und Traditionen. Dementsprechend ist die Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung auch sehr unterschiedlich, und so etwas wie ein einheitliches, kanonisiertes islamisches Religionsrecht mit klar definierten allgemeingültigen Normen existiert nicht.

Legitimation

In vielen islamischen Traditionen gibt es die Vorstellung von Allah als höchstem Richter, welcher am Ende der Zeiten basierend auf seinem Recht über die Menschen richten wird. Um darauf vorbereitet zu sein, werden aus dem Koran abgeleitete islamische Normen teilweise auch schon im Diesseits durchgesetzt. Die Einhaltung der islamischen Normen erfolgt freiwillig und aus individueller Überzeugung oder auf sozialen Druck durch eine Gemeinschaft oder einer machthabenden Instanz.

Rechtsgrundlagen

Ein Teil der muslimischen Gelehrten betrachtet den Koran als einzige Rechtsquelle und alles andere als Deutung desselben. Von den meisten muslimischen Gelehrten wird jedoch die Sunna – die Überlieferungen des Lebens Mohammads – als zweite wichtige Quelle des islamischen Rechts angesehen.

Auch Konsens und Analogieschluss gelten als Rechtsquellen, welche aber häufig als sekundär eingestuft werden. Konsens wird nach dem klassischen islamischen Recht definiert als Übereinstimmung von mehreren muslimischen Gelehrten in einer Rechtsfrage. Die genauen Voraussetzungen und Bedingungen für das Zustandekommen eines Konsens und seine Bedeutung sind jedoch umstritten. Bei einem Analogieschluss wird für ein nicht in Koran und Sunna behandeltes Problem ein ähnlicher Fall aus Koran oder Sunna beigezogen. Ein Beispiel für einen Analogieschluss ist die Übertragung des im Koran belegten Verbotes Wein zu trinken, auf das neue Verbot Drogen zu konsumieren. In der Rechtsanwendung spielt zudem das Gewohnheitsrecht eine Rolle, ob dieses als Rechtsquelle gilt, ist zwischen den verschiedenen islamischen Rechtsschulen jedoch umstritten.

Die Scharia ist Gegenstand der fiqh, der islamischen Rechtswissenschaft. Im Koran und in der Sunna beschreibt Scharia sinngemäss die richtige Art die Religion zu praktizieren, also die praktische und rituelle Religionsausübung. Es gibt kein umfassendes Gesetzbuch der Scharia, diese besteht vielmehr aus verschiedenen Interpretationen religiöser Texte. Liberalere Muslim*innen vertreten die Auffassung, dass die Scharia in der heutigen Zeit neu interpretiert werden kann, sie beziehen den historischen Entstehungskontext des Korans mit ein. Konservative Vertreter*innen des Islams lehnen diese Herangehensweise ab. Sie sind der Auffassung, dass der Koran das authentische Wort Allahs ist, womit ihm für alle Zeiten unveränderbare Gültigkeit zukommt.

Rechtsfortbildung und Rechtsprechung

Im islamischen Recht gibt es keine für alle muslimischen Gläubigen und Strömungen verbindliche autoritäre Instanz. Es existieren verschiedene Rechtsschulen und eine grosse Meinungsvielfalt zwischen den Rechtsgelehrten. Zudem gibt es eine Vielzahl an islamischen Rechtsgelehrten (fuqahā), sowie Rechtsberater*innen (muftī) und Richter*innen (qādī). Muftis beraten Richter*innen und Politiker*innen, geben Unterricht, vermitteln in Konflikten und erstellen Rechtsgutachten – Fatwas – für Einzelfälle. Gläubige sind nicht an bestimmte Muftis gebunden und können ihre Fragen über Fatwa-Seiten auch im Internet stellen. Schariagerichte richten hauptsächlich in Fragen des Familien- und Erbrechts.

Verhältnis zum staatlichen Recht

Die Stellung der Schariagerichte in sich selbst als islamisch bezeichnenden Ländern hat sich im Laufe der Zeit verändert. Teilweise wurden sie abgeschafft, in staatliche Gerichte überführt, oder sie praktizieren in dualen Systemen. In Saudi-Arabien gilt die Scharia vollumfänglich als staatliches Recht. In Grossbritannien haben sich vorinstanzliche islamische Schlichtungsgremien etabliert. Die britischen Gerichte bilden dabei die Rekursinstanzen. In einigen europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, Spanien – wird in familienrechtlichen Angelegenheiten das Recht angewendet, welches im Herkunftsland der betroffenen Personen gilt. Dies, um der kulturellen und religiösen Prägung des Familienrechts Rechnung zu tragen.

In der Schweiz ist gewöhnlich der Wohnsitz beziehungsweise der Aufenthalt der betroffenen Personen massgeblich. Aufgrund eines Abkommens der Schweiz mit dem Iran ist das iranische Recht davon ausgenommen – in Bezug auf das Personen-, Familien- und Erbrecht sind jeweils die Vorschriften der Heimatgesetzgebung anwendbar. Auf diesem Weg findet islamisches Familienrecht Eingang in schweizerische Gerichtsurteile. Grenze der Anwendung iranischer Gesetze in der Schweizer Rechtsprechung bildet dabei der sogenannte «ordre public». Demnach finden die ausländischen Gesetze keine Anwendung, wenn sie im Wiederspruch zu Grundprinzipien des Schweizer Rechts – wie etwas das Verbot der Polygamie oder von Kinderehen – stehen.

Abgesehen vom iranischen Recht wird islamisches Recht in der Schweiz nur im religiösen Privatbereich angewendet. Es gibt keine von der Schweiz offiziell anerkannten Richter*innen oder Gerichte, die islamisches Recht sprechen. Wenn Ehen im Ausland geschlossen wurden – je nach Gesetzgebung auch basierend auf islamischem Recht – werden diese in der Schweiz anerkannt, solange sie nicht gegen den «ordre public» verstossen.

Verhältnis zu den Menschenrechten

Der Diskurs über das Verhältnis von Menschenrechten und islamischem Recht wird in muslimischen Traditionen auf vielfältige Weise geführt. Zentrale Fragen sind dabei etwa die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte sowie die Vereinbarkeit von Menschenrechten und Islam. Je nach Interpretation des Korans und der weiteren religiösen Quellen ergeben sich hierzu sehr unterschiedliche Positionen.

Aus der Kritik muslimischer Organisationen an der Allgemeingültigkeit und der westlichen Prägung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 sind verschiedene islamische Menschenrechtserklärungen entstanden. Dazu gehören die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam vom 19. September 1981, die von der Organisation der Islamischen Konferenz OIC herausgegebene Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam KEMR vom 5. August 1990 und die Erklärung zu den Rechten von Kindern im Islam der OIC von 2004. Diese Gegenentwürfe basieren in ihren Grundzügen auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den unterschiedlichen UNO-Abkommen, weichen in einzelnen Punkten aber davon ab. So erteilen die islamischen Menschenrechtserklärungen islamischem Recht gegenüber allen anderen Rechten den Vorrang.

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