humanrights.ch Logo Icon

Was ist religiöses Recht?

27.01.2023

Religiöses Recht ist das Recht religiöser Gemeinschaften. Das religiöse Recht ist somit grundsätzlich an eine Religionszugehörigkeit geknüpft und besitzt insbesondere innerhalb einer Religionsgemeinschaft Geltung. Über die Zeit und geographische Kontexte hinweg verändert sich religiöses Recht und dessen Auslegung; denn soziale Kontexte, politischer und gesellschaftlicher Wandel sowie Werte und Normen des Umfelds nehmen Einfluss auf die religiöse Rechtsordnung und werden von ihr rezipiert. Religiöse Rechtstexte können nicht von verschiedenen zeitgenössischen Auslegungen und daraus abgeleiteten Praktiken isoliert betrachtet werden. Hinzu kommt eine Vielfalt an Schulen und Auslegungen. Zudem haben Personen, die religiöses Recht auslegen, häufig auch eine Machtposition inne, welche berücksichtigt werden muss. So gibt es in allen religiösen Rechtsystemen eine Pluralität an unterschiedlichen Strömungen und Traditionen. Es existiert also in dem Sinne nicht «das» islamische oder «das» jüdische Recht.

Zusätzlich passen die einzelnen Gläubigen das religiöse Recht in ihrer Alltagspraxis an und bringen es mit ihrem persönlichen Glauben in Einklang. Religiöse Rechtstexte und deren Auslegungen beeinflussen damit nicht automatisch den Alltag, individuelle Ansichten oder Praktiken religiöser Personen. Nicht für alle Angehörigen der jeweiligen Religionsgemeinschaft ist die Einhaltung des religiösen Rechts gleich zentral. Häufig entscheiden die Gläubigen individuell ob und an welche Vorschriften sie sich halten, dabei handeln sie ihre Positionen individuell aus und sind dabei nicht nur von religiösen Denkmustern beeinflusst.

In der Schweiz wird religiöses Recht dem staatlichen Recht untergeordnet und darf nur dann zur Anwendung kommen, wo das staatliche Recht dafür einen Spielraum lässt – hauptsächlich bei religionsinternen Fragen der religiösen Praxis wie bei religiösen Eheschliessungen und Scheidungen. Religiösen Eheschliessungen muss in der Schweiz eine zivile Trauung vorangegangen sein (Art. 97 Abs. 2 ZGB), und religiös geschlossene und aufgelöste Ehen haben in der Schweiz keinen zivilrechtlichen Status. Damit ist religiöses Recht offiziell nur innerhalb von religiösen Gemeinschaften von Bedeutung.

In der Schweiz kennen insbesondere monotheistische Religionsgemeinschaften – wie christliche, islamische oder jüdische Gemeinschaften – ein umfassendes Rechtssystem. Es wird von den jeweiligen religiösen Autoritäten verändert, interpretiert und durchgesetzt. Die Legitimation und der Ausgangspunkt des religiösen Rechts werden mehrheitlich an religiösen Offenbarungen festgemacht. Dabei hat das Recht die religiöse Funktion, Normen für die Gläubigen vorzugeben, um sie auf ihrem religiösen Weg zu leiten.

Nicht alle religiösen Gemeinschaften kennen in ihrer Tradition jedoch starke ausdifferenzierte und allumfassende Rechtsysteme. In buddhistischen Traditionen gibt es etwa ein Ordensrecht – Vinaya –, welches Regelungen für das individuelle Verhalten von Mönchen und Nonnen, sowie ein Verfahrensrecht für die Ordensgemeinschaft als Ganzes enthält. Währenddessen gelten für Lai*innen keine strikten Rechtsgrundlagen. So wird ihnen die Einhaltung von moralischen Verhaltensregeln – upāsaka – empfohlen, jedoch nicht als Pflicht auferlegt.

In hinduistischen Religionsgemeinschaften gibt es Sanskrit Texte zum zentralen Konzept der kosmischen Ordnung Dharma. Teile davon – Dharmaśāstras und Dharmasūtras – befassen sich mit moralischen Verhaltensregeln, sozialen und rituellen Pflichten. Sie werden häufig als Gesetzestexte bezeichnet. Welche Gesetze für ein Individuum gelten, hängt von seiner Kaste, seiner Lebensphase – āśrama – und der Erfüllung der vier Ziele des Menschen – puruṣārtha – ab.

Weitere Informationen