humanrights.ch Logo Icon

Aufenthaltsregelung nach über fünfzigjährigem Aufenthalt in der Schweiz

07.09.2023

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR hat in der Sache Ghadamian c. Suisse entschieden, dass die Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung an einen Iraner Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) verletzt. Der heute über achtzigjährige Mann hatte mehr als fünfzig Jahre in der Schweiz gelebt, ab 2002 jedoch ohne Aufenthaltstitel.

Der Beschwerdeführer, Mansur Ghadamian, wurde im Jahr 1940 geboren und reiste im Jahr 1969, damals 29 Jahre alt, legal in die Schweiz ein. Er erhielt eine Aufenthalts- und später eine Niederlassungsbewilligung. Ab 1988 wurde er wegen verschiedener Delikte wiederholt strafrechtlich verurteilt. Kumuliert resultierten Strafen von rund fünf Jahren Gefängnis. Ins Gewicht fiel insbesondere eine Verurteilung vom 11. Juni 1999 des Obergerichts Aargau zu 27 Monaten Freiheitsstrafe sowie einer fünfjährigen Landesverweisung. In der Folge ordnete das Migrationsamt Aargau seine Wegweisung an, die am 1. Januar 2002 in Rechtskraft erwuchs. Trotz Verlust des Aufenthaltsrechts blieb Herr Ghadamian aber weiter in der Schweiz. Er bemühte sich mehrfach darum, seinen Aufenthalt zu legalisieren und reichte in den Jahren 2008 und 2015 je ein Gesuch um Erteilung einer Rentnerbewilligung beim Migrationsamt Aargau ein. Beide Gesuche wurden abgewiesen. Gegen die zweite Ablehnung wehrte er sich und zog durch die nationalen Instanzen.

Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde am 29. Oktober 2018 schliesslich ab, u.a. mit der Begründung, dass der Beschwerdeführer seit 2002 illegal in der Schweiz lebe, den Wegweisungsanordnungen der hiesigen Behörden keine Folge geleistet habe und das öffentliche Interesse an seiner Wegweisung insgesamt überwiege. Gegen diesen Entscheid gelangte Ghadamian an den EGMR und rügte in seiner Beschwerde eine Verletzung von Art. 8 (Recht auf Privat- und Familienleben) sowie Art. 13 i.V.m. Art. 8 EMRK. Dieser Argumentation folgte der Gerichtshof im Entscheid vom 9. Mai 2023.

Über fünfzigjähriger Aufenthalt und gute Integration

In seiner Begründung schreibt der EGMR zunächst, dass ein schützenswertes Familienverhältnis im Sinne von Art. 8 EMRK zu den in der Schweiz geborenen und mittlerweile volljährigen Kindern des Beschwerdeführers nicht vorliege. In der Beschwerde war ein Abhängigkeitsverhältnis geltend gemacht worden, welches der Gerichtshof verneinte. Er prüfte die Beschwerde deshalb nicht unter dem ebenfalls in Art. 8 EMRK verbrieften Recht auf Familienleben, sondern nur unter dem Aspekt des Privatlebens.

Diesbezüglich rekapituliert der Gerichtshof zunächst seine eigene Rechtsprechung, wonach ablehnende nationale Entscheide bezüglich Aufenthaltsbewilligungen das Privatleben nur ausnahmsweise verletzen, umso mehr dann, wenn sich eine Person längere Zeit illegal in einem Staat aufgehalten habe. Zu prüfen sei daher die Frage, ob aufgrund der konkreten Umstände ausnahmsweise eine positive Pflicht der Schweiz bestehe, dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.

In der Folge prüft der EGMR die zur Debatte stehenden Interessen. Dem öffentlichen Interesse, wonach der seit 2002 wegen diverser Straftaten illegal in der Schweiz lebende Beschwerdeführer das Land verlässt, stellt es das private Interesse desselben am Verbleib gegenüber. Er kommt schliesslich zum Schluss, dass besondere Umstände vorliegen, welche das private Interesse im Ergebnis überwiegen lassen: Herr Ghadamian lebte eine sehr lange Zeit in der Schweiz und hat sich wirtschaftlich integriert. Zum Zeitpunkt des Entscheides bezieht er eine Rente. Während des legalen Aufenthalts von über 30 Jahren hat er ein stabiles Leben aufgebaut und geheiratet. Mittlerweile hat er zwei erwachsene Kinder und fünf Enkel, die allesamt in der Schweiz leben. Seit vierzehn Jahren ist er in einer Beziehung mit einer Schweizer Partnerin, pflegt Kontakte im Volleyballclub und ist dort Trainer. Demgegenüber hat er in Iran mutmasslich kein soziales Umfeld mehr.

Verhalten der Schweiz ebenfalls berücksichtigt

Der Gerichtshof erwägt ausserdem, dass der Beschwerdeführer seit 2005 keine erheblichen Straftaten mehr begangen hat und dass die Schweiz ab 2002 nur ungenügende Bemühungen unternommen hat, um ihn in den Iran zurückzuschaffen – dies insbesondere unter dem Blickwinkel, dass er mutmasslich mehrere Male für kurze Zeit in den Iran reiste und mithin über einen Pass verfügte. Trotzdem hatten sich die Anstrengungen der Schweizer Behörden darauf beschränkt, den Beschwerdeführer 2003 und 2011 zum Verlassen der Schweiz aufzufordern und 2004 sowie 2019 im Rahmen von Hausdurchsuchungen (erfolglos) nach einem heimatlichen Pass zu suchen.

Der Gerichtshof zweifelt deshalb daran, dass die Schweiz alles Zumutbare unternommen hat, um den Beschwerdeführer in den Iran zurückzuschaffen. Dies war im Rahmen der Interessenabwägung ebenfalls zu berücksichtigen.

Ungenügende Kontrolle durch das Bundesgericht

Der Gerichtshof rügt letztlich, dass das Schweizerische Bundesgericht (anders als noch das aargauische Verwaltungsgericht zuvor) keine sorgfältige Interessenabwägung vornahm, sondern dem öffentlichen Interesse übermässiges Gewicht zumass. Insgesamt habe die Schweiz damit ihre «marge d’appréciation» überschritten und Art. 8 EMRK verletzt.

Diese Feststellung ist insofern interessant, als dass der EGMR den nationalen Behörden im Migrationsbereich einen sehr weiten Ermessensspielraum einräumt. Bei der Beurteilung und Abwägung der einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen setzt er nur selten seine eigene Beurteilung an Stelle jener der nationalen Instanzen. Wird eine sorgfältige Abwägung vorgenommen, so akzeptiert der EGMR dies in der Regel. Im vorliegenden aufgrund der gesamten Umstände und der extrem langen Aufenthaltsdauer aussergewöhnlichen Fall hingegen kommt er zum expliziten Schluss, dass die Schweizer Behörden und Gerichte dem öffentlichen Interesse an der Wegweisung ein deutlich zu hohes Gewicht beigemessen haben.

Mögliche Auswirkungen auf die Praxis der Schweiz?

Selbst wenn sich also der Gerichtshof in solchen Fragen eine erhebliche Zurückhaltung auferlegt, sind die Mitgliedstaaten nicht frei und haben das private Interesse – vorliegend namentlich die enge Bindung zur Schweiz und das hier aufgebaute soziale Umfeld – sorgfältig zu ermitteln und zu gewichten, andernfalls muss eine EMRK-8-Verletzung bejaht werden.

Es ist davon auszugehen, dass in der Schweiz auch in anderen migrationsrechtlichen Konstellationen öffentliche Interessen wie jenes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sehr stark gewichtet werden. Da es sich im vorliegenden Fall jedoch um eine Ausnahmekonstellation handelt, ist nicht zu erwarten, dass sich an dieser Praxis etwas ändert.