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Bianchi gegen die Schweiz

Affaire Bianchi contre la Suisse (Beschwerde Nr. 7548/04)
Urteil des EGMR vom 22. Juni 2006 (pdf 27 S., in Französisch) 

Das Urteil Bianchi gegen die Schweiz betrifft den in den Schweizer Medien als „Fall Ruben“ bekannten Fall: nachdem die schweizerische Mutter den damals knapp dreijährigen Sohn in die Schweiz gebracht hatte, wurde das Sorgerecht von einem italienischen Zivilgericht dem italienischen Vater zugesprochen. Die Mutter brachte das Kind nach Italien zurück, nachdem das Bundesgericht gestützt auf das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen (HEntfÜ) dessen Rückkehr nach Italien angeordnet hatte. Wenige Monate später entführte die Mutter das Kind erneut in die Schweiz. Die vom Vater gestützt auf das HEntfÜ verlangte erneute Rückführung des Kindes wurde vom Bezirksgericht Willisau abgewiesen. Das Gericht führte aus, dass das Kind zwar widerrechtlich in die Schweiz verbracht worden sei, die Rückführung aber nicht angeordnet werden könne, da das damals noch nicht fünfjährige Kind nicht nach Italien zurückkehren wolle und eine engere Bindung zur Mutter habe. Auf Beschwerde des Vaters hin ordnete das Luzerner Obergericht die Rückkehr des Kindes nach Italien an. Seit einer polizeilichen Befragung der Mutter Mitte August 2004 sind Mutter und Sohn untergetaucht und konnten bislang von der Polizei, trotz Ausschreibung zur internationalen Fahndung, nicht gefunden werden.

In seiner Beschwerde beim EGMR rügte der Beschwerdeführer zum einen, dass das Verfahren vor den schweizerischen Instanzen angesichts der erneuten Entführung des Sohnes durch die Mutter nicht angemessen und zu langsam gewesen sei; zum anderen rügt er, dass die Behörden nicht genügende Massnahmen zur Rückführung des Kindes ergriffen hätten. Diese Versäumnisse hätten dazu geführt, dass sein Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) verletzt worden sei. Im Zentrum der Erwägungen des EGMR steht die Frage, ob die schweizerischen Behörden alle für eine Rückführung nötigen Massnahmen getroffen hatten. Der Gerichtshof kritisiert dabei zunächst das Bezirksgericht Willisau und zweifelt an, ob dieses im Sinne des HEntfÜ gehandelt habe. So seien etwa fast vier Monate bis zum Urteil des Bezirksgerichtes vergangen, obwohl das HEntfÜ die Vertragsparteien verpflichtet, mit der gebotenen Eile zu handeln. Zudem seien die Vorbehalte des Kindes gegen eine Rückkehr nach Italien auch auf behördliche Versäumnisse zurückzuführen, hätten diese doch keine ausreichenden Kontaktmöglichkeiten zwischen Vater und Sohn geschaffen. Erst mehr als ein Jahr nach der Einleitung des Verfahrens habe das Luzerner Obergericht die Rückführung des Kindes nach Italien angeordnet und die Polizei ermächtigt, nötigenfalls zu intervenieren. In der Folge hätten die Luzerner Behörden zwar wiederholt versucht, den Aufenthaltsort von Mutter und Kind herauszufinden, bislang indes erfolglos. Der Umstand, dass die Mutter nach der polizeilichen Befragung Mitte August 2004 den Polizeiposten habe verlassen dürfen, ohne den Aufenthaltsort des Kindes preiszugeben, zeuge jedoch von einer gewissen behördlichen Laxheit, die mit Ziel und Zweck des HEntfÜ unvereinbar sei und zudem zum totalen Bruch der Beziehungen zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn geführt habe. Daher war für den EGMR klar, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens des Beschwerdeführers vorliegend nicht effektiv geschützt und somit Art. 8 EMRK verletzt worden sei.