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EGMR rügt die Schweiz im Falle eines katholischen Priesters

28.10.2014

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem Fall, der die Schweiz betrifft, die Behörden wegen Verletzung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) verurteilt.

Es geht im Fall Peltereau-Villeneuve um einen katholischen Priester, dem im Kanton Genf sexuelle Handlungen mit Abhängigen vorgeworfen wurden. 2008 hatte ein Genfer Staatsanwalt gegen den Priester ein Verfahren eröffnet, in dessen Folge zwei mutmassliche Opfer von der Polizei vernommen wurden. Die Staatsanwaltschaft stellte die Untersuchung im September 2008 ein. In der Einstellungsverfügung vermerkte der zuständige Staatsanwalt, dass der Priester sexuelle Handlungen mit mindestens zwei Abhängigen getätigt hätte; die Straftat sei jedoch verjährt, da die Vorfälle auf die Jahre 1991 und 1992 zurückgingen.

Die Presse berichtete über das eingestellte Verfahren. Mit Bezug auf die Einstellungsverfügung war unter anderem zu lesen, der Priester habe die Taten begangen und zugegeben.

Die Folgen der Verfügung

Der Priester forderte daraufhin, dass die Genfer Anklagekammer auf den Fall zurückkomme und eine neue Verfügung erlassen solle, welche lediglich die Verjährung festhalte. Dieser Aufforderung kamen die Behörden nicht nach; ein Rekurs des Priesters vor Bundesgericht wurde abgewiesen.

Zwischen 2008 und 2012 kam es zu einem Absetzungsverfahren durch die katholische Kirche, in dem die Einstellungsverfügung der Genfer Staatsanwaltschaft mehrfach zitiert wurde. Der Priester wurde als Folge dieses Verfahrens bestraft und aufgefordert, von seinem Amt zurück zu treten. Diese Strafe wurde schliesslich seitens der Kirche wieder aufgehoben, nachdem das arbeitsrechtliche Schiedsgericht die Römisch-Katholische Kirche Genfs zur Schadensersatzzahlung von 1 Franken verurteilt hatte.

Der Priester legte beim EGMR Beschwerde ein und machte geltend, dass die Wortwahl des Staatsanwalts in der Einstellungsverfügung sowie die sich darauf abstützenden Gerichtsentscheide die Unschuldsvermutung nicht respektiert hätten (Verletzung von Artikel 6  Abs. 2 EMRK).

Begründung des EGMR-Urteils

Am 22. Oktober 2014 befasste sich der EGMR mit dem Fall. Der Gerichtshof prüfte dabei, ob der Ausgang des eingeleiteten Strafverfahrens Grund zu Zweifeln an der Unschuld des Priesters gab, obwohl er schliesslich nicht für schuldig befunden wurde.  Der EGMR hält im Urteil fest, dass mit der Einstellung des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer zwar eine Bewertung der vorgebrachten Tatsachen notwendig war, um die Dauer einer potentiellen Strafe einzuschätzen und die damit verbundene Verjährungsfrist festzulegen. Jedoch verpflichteten gemäss EGMR die gesetzlichen Vorgaben den Staatsanwalt nicht, eine Meinung bezüglich der Schuld des Priesters zu äussern. Es besteht laut Gerichtshof kein Zweifel, dass der Ruf des Beschwerdeführers durch die Veröffentlichung der Verfügung ernsthaft geschädigt wurde.

Folglich befand der EGMR, dass die Begründung der Einstellungsverfügung vom September 2008 das Recht auf die Unschuldsvermutung des Priesters und damit Artikel 6 Absatz 2 EMRK verletzt hat. Die Schweiz muss dem Priester nun 12‘000 Euro Schadenersatz und 15‘000 Euro für Verfahrenskosten bezahlen.

Kommentar humanrights.ch

Das Urteil des EGMR mag auf den ersten Blick, schwer zu verdauen sein. Es scheint einmal mehr, dass der Gerichtshof eine Person schützt, die dies nach dem öffentlichen Dafürhalten nicht verdient zu haben scheint. Dennoch ist das Urteil nachvollziehbar und richtig. Der Priester konnte sich nie vor einem Gericht gegen die ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe verteidigen. Er wurde von der Öffentlichkeit und von Behörden aufgrund der Meinung des Staatsanwalts für schuldig befunden. Er musste dadurch alle Konsequenzen tragen, die auch ein regulärer Prozess mit anschliessender Verurteilung zur Folge gehabt hätte.

Es kann nicht sein, dass das Gesetz für Straftaten eine Verjährungsfrist vorsieht, dass diese Frist jedoch in der Realität dazu führt, dass ein mutmasslicher Straftäter sich schliesslich nie vor Gericht verteidigen kann und quasi in Umgehung aller rechtsstaatlicher Garantien direkt die sozialen Folgen einer Verurteilung tragen muss. Auch mutmassliche Straftäter haben das Recht auf einen fairen Prozess und darauf, dass sie sich zu den Anschuldigungen, die gegen sie erhoben werden, äussern können.

Das Urteil des EGMR zeigt also, dass rechtsstaatliche Prinzipien hoch gehalten werden und dass Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht wie im Mittelalter der sozialen Ächtung ausgesetzt werden dürfen. Wenn im Einzelfall die innerstaatlichen Sicherungen zum Schutz der Unschuldsvermutung nicht funktionieren, so ist es die Pflicht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, die nötige Korrektur vorzunehmen.

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