30.09.2014
Im Urteil Gajtani gegen die Schweiz (Nr. 43730/70) vom 9. September 2014 verurteilt der EGMR die Schweiz aufgrund einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren): Das Bundesgericht wies widerrechtlich eine Beschwerde ab, welche auf einer falschen Rechtsmittelbelehrung der Vorinstanz beruhte. Gleichzeitig beklagte die Beschwerdeführerin erfolglos eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens) durch die zwangsweise Rückgabe ihrer Kinder nach Mazedonien.
Der Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin, Violete Gajtani (geboren 1970), ist Mutter von zwei Kindern (geboren 1995 bzw. 2000) und kosovarische Staatsbürgerin. Anfänglich lebte sie mit ihren Kindern und deren Vater in Mazedonien. Am 12. November 2005, nach der Beendung der Beziehung, zog die Beschwerdeführerin zu ihrer Familie nach Pristina, Kosovo. Dort heiratete sie einen italienischen Staatsbürger, welcher in der Schweiz wohnhaft war. Im April 2006 siedelte Frau Gajtani mit ihren Kindern in die Schweiz über.
Die mazedonische Regierung beantragte am 30. August 2006 auf dem diplomatischen Weg bei den Schweizer Behörden unter dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) von 1980 die Rückgabe der Kinder. Gleichzeitig wandte sich der Vater an die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde des Kantons Tessin und verlangte die sofortige Wiederkehr seiner Kinder nach Mazedonien. Die Aufsichtsbehörde wies am 13. März 2007 seinen Antrag, im Hinblick auf den Wunsch des älteren Kindes über den Verbleib bei seiner Mutter, ab.
Der Vater beschwerte sich beim Appellationsgericht Tessin, welches daraufhin die Rückführung der Kinder anordnete. Das Gerichtsurteil statuierte allerdings fälschlicherweise eine Beschwerdefrist von dreissig anstelle der nach Art. 100 Abs. 2 lit. c Bundesgerichtsgesetz (BGG) vorgesehenen zehn Tage in Fällen, welche unter das HKÜ fallen. Frau Gajtani legte innerhalb der angegebenen dreissig Tage Beschwerde beim Bundesgericht ein, was zur Folge hatte, dass das Bundesgericht wegen verspäteter Beschwerdeeinreichung einen Nichteintretensentscheid erliess.
Die Beschwerdeführerin gelangte danach an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und forderte neben einer ordentlichen Beschwerde gegen das Bundesgerichturteil die Anordnung einer vorläufigen Massnahme gegen die Rückführung ihrer Kinder nach Art. 39 Gerichtsordnung. Am 18. Oktober 2007 verweigerte der EGMR eine entsprechende Massnahme und noch am selben Tag wurden die Kinder rechtmässig nach Mazedonien ausgeschafft. In der Zwischenzeit ist die Ehe mit ihrem italienischen Partner geschieden worden und Frau Gajtani kehrte nach Skopje zurück, wo sie zurzeit mit ihren Kindern lebt. Die Kinder pflegen einen regelmässigen Kontakt zu ihrem Vater.
Aus den Erwägungen zu Art. 6 Abs. 1 EMRK
Art. 6 EMRK garantiert allen Personen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren und schützt als Teilaspekt davon den effektiven Zugang zum Instanzenzug. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält in seinem Urteil (Erwägung 61) fest, dass das Zugangsrecht nicht absolut gelte und eine Einschränkung unter gewissen Umständen legitim sein könne. Der EGMR überlässt hierbei den Vertragsstaaten einen gewissen Ermessenspielraum.
Der EGMR befasste sich in diesem Fall nicht mit der Frage, ob die Abweisung einer um sechs Tage verspätet eingereichten Beschwerde mit Art. 6 Abs. 1 EMRK kompatibel ist. Vielmehr konzentrierte er sich auf die Argumentation des Bundesgerichts, wonach die Beschwerdeführerin nicht unter den Anwendungsbereich von Art. 49 BGG, welcher festschreibt, dass aus einer mangelhaften Eröffnung unter anderem wegen unrichtiger Rechtsmittelbelehrung den Parteien keine Nachteile erwachsen dürfe, falle.
Die Bestimmung in Art. 100 Abs. 2 lit c BGG besagt, dass die Beschwerdefrist gegenüber Entscheiden, welche auf dem HKÜ basieren, nicht die üblichen dreissig Tage beträgt, sondern eine reduzierte Frist von zehn Tagen. Sie trat am 1. Januar 2007 in Kraft. Der ehemalige rechtliche Vertreter von Frau Gajtani erhielt das Urteil des Tessiner Verwaltungsgerichts am 19. Juni 2007. Das Bundesgericht argumentierte, dass der Anwalt, welcher in Zwischenzeit sein Mandat abgelegt hatte, die Beschwerdeführerin über den Eröffnungsmangel hätte informieren können. Das Haager Übereinkommen offenbare seinen dringlichen Charakter so deutlich, dass ein Verdacht über die Unwahrhaftigkeit einer dreissig tägigen Beschwerdefrist hätte geweckt werden müssen. Eine reguläre Frist würde die Ziele des Übereinkommens klar unterlaufen. Die Schweiz vertrat die Ansicht, dass die Beschwerdeführerin ohne grösseren Aufwand die mangelhafte Eröffnung des Urteils hätte erkennen können und sich daher nicht auf den Schutz von Art. 49 BGG berufen könne.
Der EGMR hält in Erwägung 72 fest, dass das Bundesgericht mit einer solchen Argumentation gegen seine eigene Aussage agiere, wonach der Wortlaut von Art. 100 Abs. 2 lit. c für juristische Laien nicht ohne weiteres verständlich sei. Die kurze Aufenthaltsdauer von Frau Gajtani in der Schweiz in Betracht ziehend, zeigt sich der EGMR nicht überzeugt davon, dass die Beschwerdeführerin der angezeigten Frist hätte misstrauen und folglich diese hätte überprüfen müssen. Ferner reiche der Verweis auf den ehemaligen Vertreter der Beschwerdeführerin zu wenig weit, um die Situation abschliessend zu erfassen. Die Schweiz hätte, um den Ansprüchen von Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden, eine gewisse Flexibilität bei der Bearbeitung der Beschwerde zeigen müssen. Basierend auf den hervorgebrachten Überlegungen schliesst der EGMR auf die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Dokumentation
- EGMR-Urteil Gajtani gegen die Schweiz (Nr. 43730/70) vom 9. September 2014
auf HUDOC (französisch)