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Grosse Kammer hebt Urteil im Fall Gross zur Frage der Suizidbeihilfe auf

10.10.2014

Der EGMR kam im Fall Gross gegen die Schweiz (Beschwerde Nr. 67810/10) mit Urteil vom 14. Mai 2013 zum Schluss, dass in der Schweiz die gesetzliche Grundlage für die Beihilfe zum Suizid ungenügend, da zu wenig klar sei und stellte mit 4 gegen 3 Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest. Die Beschwerdeführerin, die krank, aber nicht todkrank war, hatte geklagt, dass ihr Recht zu entscheiden, wann und wie sie ihr Leben beenden wolle, verletzt sei, da ihr von den Behörden die Genehmigung verweigert worden war, sich eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital (NaP) zu beschaffen.

Die Schweiz zog den Fall weiter an die Grosse Kammer (siehe Art. 73 Verfahrensordnung EGMR). Diese trat auf den Fall nicht ein. Die Beschwerdeführerin, die bereits im November 2011 verstorben war, hatte extra Vorkehrungen getroffen, damit ihr Ableben nicht publik wurde. Sie wollte damit verhindern, dass ihre Beschwerde nicht weiterverfolgt würde. Der Gerichtshof erhielt denn auch erst anfangs 2014 davon Kenntnis. Die Grosse Kammer befand, dass dieses Verhalten einen Missbrauch des Individualbeschwerderechts darstelle und erklärte den Fall gemäss Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK als unzulässig. Gleichzeitig hob sie das Kammerurteil vom 14. Mai 2013 auf.

Urteil vom 14. Mai 2013: Ungenügende gesetzliche Grundlage für die Beihilfe zum Suizid von nicht todkranken Personen

    Zusammenfassung des Urteils vom Bundesamt für Justiz:

    «Die im Jahr 1931 geborene Beschwerdeführerin rügte gestützt auf Art. 8 EMRK, dass sie von den Schweizer Behörden keine Genehmigung bekommen konnte, sich eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital (NaP) zu beschaffen. Der Gerichtshof hielt fest, dass das Schweizer Recht zwar erlaube, eine tödliche Dosis NaP auf ärztliche Verordnung zu erhalten, dass es aber keine genügenden Richtlinien enthalte, um den Umfang dieses Rechts mit Klarheit zu definieren. Die bestehenden Richtlinien, auf welche sich das Bundesgericht regelmässig berufe, regeln nur die Beihilfe zum Suizid von todkranken Personen, aber nicht den Fall von nicht todkranken Personen – wie der Beschwerdeführerin –, welche ihr Leben beenden wollen. Er befand, dass das Fehlen von klaren gesetzlichen Richtlinien geeignet ist, eine abschreckende Wirkung (chilling effect) auf Ärzte zu haben, die sonst eher bereit sein könnten, einer Person in der Situation der Beschwerdeführerin das ersuchte ärztliche Rezept auszustellen. Diese Ungewissheit habe bei der Beschwerdeführerin grosse Angstgefühle hervorgerufen. Ohne sich zur Frage zu äussern, ob die Beschwerdeführerin berechtigt gewesen wäre, eine tödliche Dosis NaP zu erhalten, stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest (4 gegen 3 Stimmen).»

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