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Semenya gegen die Schweiz: Verurteilung der Schweiz wegen Verletzung der Rechte einer intersexuellen Athletin

22.09.2025

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Juli 2025 die Schweiz wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren der südafrikanischen Athletin Mokgadi Caster Semenya verurteilt. Der Schweiz werden Verletzungen von prozessualen und institutionellen Garantien vorgeworfen. Auch wenn das Gericht nicht direkt auf das von der Athletin angeprangerte Reglement einging, markiert dieses Urteil einen wichtigen Schritt zu besserem Schutz für intersexuelle Menschen in der Sportwelt.

Seit 2018 verlangt die International Association of Athletics Federations (IAAF), heute bekannt unter dem Namen World Athletics (WA), von intersexuellen Athlet*innenmit einem natürlich erhöhten Testosteronspiegel haben, diesen medikamentös zu senken, um in der Frauenkategorie bei internationalen Wettkämpfen die 400 bis 1500 Meter mitlaufen zu dürfen (DSD-Reglement). 

Diese Reglemente wurden von der intersexuellen und von diesen Reglementen selber betroffenen 800m-Läuferin und dreifachen Weltmeisterin sowie zweifachen Olympiamedalliengewinnerin Mokgadi Caster Semenya bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen.

Im Urteil vom 11. Juli 2023 hielt der EGMR fest, dass eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes (Artikel 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 13 EMRK) vorliege. Mit Urteil vom 10. Juli 2025 bestätigte die grosse Kammer des Gerichts die Verletzung des Rechts der Beschwerdeführerin auf ein faires Verfahren durch die Schweiz. 

Der lange gerichtliche Kampf einer Athletin 

Am 18. Juni 2018 gelangte die Athletin an den Schiedsgerichtshof für Sport. Sie bestritt die Gültigkeit der Bestimmungen zur Teilnahmeberechtigung in der weiblichen Kategorie namentlich für Athlet*innen mit Abweichungen in der Entwicklung des biologischen Geschlechts («Eligibility regulations for the female classification» von der IAAF). Sie empfand diese Bestimmungen als Diskriminierung von jenen intersexuellen Frauen, welche einen natürlich erhöhten Testosteronspiegel haben. Weiter argumentierte sie, dass diese Reglemente eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellten, da diese spezifisch nur für Frauen gelten und nicht für Männer. Schliesslich prangerte Semenya eine Diskriminierungaufgrund des Geschlechts und des körperlichen Erscheinungsbilds in den betroffenen Disziplinen der Leichtathletik an, da nicht alle Frauendisziplinen davon betroffen wären. Semenya argumentiert, dass sich betroffene Athlet*innen invasiven und demütigenden medizinischen Tests müssten: 2009 musste Semenya zum Bespiel bei von der IAAF angeordneten medizinischen Tests mitmachen, um ihr biologisches Geschlecht festzustellen. Diese beinhalteten eine körperliche Untersuchung der Genitalien, sowie Bluttests. Sie argumentiert weiter, dass testosteronsenkende hormonelle und chirurgische Eingriffe schwerwiegende sekundäre Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit hätten. Um an den Weltmeisterschaften 2011 in Daegu und den Olympischen Spielen 2012 in London teilnehmen zu dürfen, musste sich Semenya einer hormonellen Behandlung auf der Basis von oral verabreichten Verhütungsmitteln unterziehen, die unangenehme Nebenwirkungen zur Folge hatten. 

Das Schiedsgericht für Sport wies den Antrag der Athletin am 30. April 2019 zurück und hielt fest, dass trotz des diskriminierenden Charakters der Regulierung diese Diskriminierung ein «notwendiges, angemessenes und verhältnismässiges» Mittel darstelle, um die «Integrität der Frauenleichtathletik» zu wahren und eine «spezifische Kategorie» von Athletinnen in bestimmten Disziplinen zu schützen. Semenya und der südafrikanische Leichtathletikverband legten daraufhin am 28. Mai 2019 beim Schweizerischen Bundesgericht Berufung ein, um die Aufhebung des Schiedsspruchs zu beantragen. Im Urteil vom 25. August 2020 anerkennt das Bundesgericht die Zulässigkeit der Beschwerden, weist sie jedoch zurück und kommt wie das Schiedsgericht zum Schluss, dass die Regulierung zwar diskriminierend sei, aber ein „notwendiges, angemessenes und verhältnismässiges” Mittel darstelle, um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Semenya beschloss daraufhin, den Fall vor den EGMR zu ziehen und reichte am 18. Februar 2021 eine Klage ein. 

Mit Urteil vom 11. Juli 2023 stellte der EGMR eine Diskriminierung (Artikel 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Achtung der Privatsphäre (Artikel 8 EMRK) und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 13 EMRK) fest. Er begründete den Entscheid damit, dass die Beschwerdeführerin nicht genügend institutionelle und prozessrechtliche Garantien zur Verfügung hatte, um eine wirksame Prüfung der Beschwerde zu ermöglichen. Die Richter*innen argumentierten, dass das Bundesgericht die Bedenken, die vor dem Schiedsgericht aufgebracht wurden, nicht genügend geprüft hätten. Dies stünde entgegen den auf Artikel 14 EMRK resultierenden Verpflichtungen des Staates. Auf Begehren der Schweiz zur erneuten Überprüfung des Urteils hat die grosse Kammer des EGMR am 10. Juli 2025 ein finales Urteil erlassen.

Zugang zum Recht durch die Schweiz nicht garantiert

Im Urteil vom 10. Juli 2025 bestätigte die grosse Kammer des EGMR den Entscheid vom 11. Juli 2023, dass die Schweiz das Recht auf ein faires Verfahren verletzt habe. Sie ging jedoch nicht auf die Frage der Diskriminierung von Semenya aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale ein. In der Urteilsbegründung befasste sich die Grosse Kammer zunächst mit der Frage ob ein ausreichender Zusammenhang zwischen dem betreffenden Verfahren und dem Schweizer Recht bestehen würde. Der EGMR stellt fest, dass durch die Entscheidung des Bundesgerichts, die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Schiedsgerichtshofs anzuhören, ein gerichtlicher Zusammenhang zwischen der Beschwerdeführerin und der Schweiz hergestellt wurde.

Weiter erinnerte die grosse Kammer daran, dass jede unterschiedliche Behandlung, die ausschliesslich auf dem Geschlecht beruht, durch «sehr gewichtige Gründe» gerechtfertigt sein muss und dass der Ermessensspielraum der Staaten sehr begrenzt ist, wenn es um Aspekte geht, die die Identität oder Würde des Menschen betreffen. Der EGMR stellte fest, dass das Schiedsgericht und das Bundesgericht zwar ernsthafte Bedenken hinsichtlich des DSD-Reglements geäussert hätten, dieses jedoch nie ausgesetzt oder wirklich in Frage gestellt worden wäre. Darüber hinaus sei Semenya zu einem obligatorischen Schiedsverfahren gezwungen gewesen, was ihr verunmöglichte, den Fall vor ordentlichen Gerichten zu verhandeln. Das Schiedsgericht war somit ihre einzige mögliche Rechtsmittelinstanz. Die Kontrolle des Schweizer Bundesgerichts über diese Entscheidung war jedoch sehr begrenzt. Es beschränkte sich darauf, die Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung der Schweiz zu überprüfen, ohne die Vereinbarkeit mit der EMRK zu prüfen zu können. Die Grosse Kammer beleuchtete dieses starke Machtungleichgewicht vor dem Schiedsgericht zwischen der Athletin als Einzelperson und World Athletics. Angesichts der für die Beschwerdeführerin erheblichen Bedeutung des Falles und des geringen nationalen Ermessensspielraums des beklagten Staates ist der EGMR der Ansicht, dass eine gründlichere institutionelle und verfahrensrechtliche Kontrolle hätte durchgeführt werden müssen. Daher ist er der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin nicht über ausreichende Garantien verfügte, um ihre Rechte wirksam zu verteidigen, und stellt eine Verletzung von Artikel 6.1 EMRK fest.

Keine Stellungnahme zum problematischen Inhalt des Reglements

Die festgestellten Menschenrechtsverletzungen des EGMR waren alle prozessrechtlicher Natur, obwohl die Klägerin auch eine Verletzung ihrer Würde und Integrität gemäss Artikel 3 der EMRK geltend gemacht hatte. Dies erweckt den Eindruck, dass sich die Richter*innen nicht betreffend der Zulässigkeit des Reglements äussern wollten. Semenya argumentierte, dass das Reglement sie zwang, ihren Körper und speziell ihren Genitalbereich medizinisch nicht notwendigen Untersuchungen zu unterziehen, nur um weiter an Wettkämpfen teilnehmen zu können. Dies sei stigmatisierend und demütigend gewesen und habe sie in ihrer Menschenwürde verletzt.

Der EGMR erklärte diese Beschwerde für «offensichtlich unbegründet» und wies sie daher als unzulässig zurück. Er ist der Ansicht, dass die Sportlerin sich nicht auf einen Verstoss gegen Artikel 3 der EMRK (Verbot der Folter) aufgrund der ihr auferlegten medizinischen Untersuchungen oder Behandlungen berufen konnte, weil sie sich zur Vermeidung dieser Untersuchungen bewusst dafür entschieden hatte, auf die Teilnahme an Wettkämpfen zu verzichten. Der EGMR stellt jedoch klar, dass eine solche Beschwerde «den Kern einer Behauptung einer Verletzung der Würde im Sinne von Artikel 3 der Konvention gebildet hätte», hätte sich die Athletin tatsächlich den in der angefochtenen Regelung vorgeschriebenen medizinischen Massnahmen unterzogen. Wobei zu erwähnen ist, dass Artikel 3 der EMRK erst anwendbar ist, wenn die betreffende Behandlung eine bestimmte Mindestschwere erreicht hat. Mit diesem Hinweis dürfte der EGMR eine Tür für künftige Verurteilungen auf dieser Grundlage geöffnet haben, sollten ähnliche Fälle vor Gericht gezogen werden.

Ein positives Signal für Menschenrechte im Sport

Wie Semenya selbst nach der Anhörung erklärte, ist diese Entscheidung «ein positives Ergebnis» für den «Schutz der Athlet*innen». Einerseits stärkt der EGMR durch die Anerkennung seiner Zuständigkeit im Rahmen eines Zwangsschiedsverfahrens den Schutz der Grundrechte von Sportler*innen. Die ausschliessliche Zuständigkeit des Schiedsgerichtshofs für Sport gewährleistet zwar eine gewisse Kohärenz und Einheitlichkeit der internationalen Rechtsprechung in Sportstreitigkeiten, birgt aber auch die Gefahr, dass Sportler*innen deutlich weniger geschützt sind als normale Bürger*innen, wie der ehemalige Präsident und Richter am EGMR Jean-Paul Costa betonte. Der EGMR anerkannte im vorliegenden Fall, dass eine gegenteilige Entscheidung den Zugang zum Gerichtshof für die ganze Gruppe dieser Profisportler*innen gefährdet hätte.

Dieses Urteil baue eine Brücke zwischen der Welt des Sportes mit seinen eigenen Regeln und dem Bereich der Menschenrechte, meint Robert Spano, ebenfalls ehemaliger Richter und Präsident am EGMR. Normalerweise sind Sportorganisationen privatrechtlich organisiert. Private Organisationen haben sich lange nicht mit Menschenrechtsfragen beschäftigt. Dies ändert sich seit einigen Jahren, zum Beispiel mit dem Einbinden von Menschenrechtsklauseln im Vertrag zwischen dem Olympischen Komitee und der Gastgeberstadt Paris 2024. 

Daniel Rietiker, leitender Gerichtsschreiber am EGMR, erinnert jedoch daran, dass «diese Reformen zwar ein Schritt in die richtige Richtung sind, die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Massnahmen sich jedoch erst noch in der Praxis bewähren muss». In diesem Zusammenhang spielt der EGMR eine entscheidende Rolle. Durch seine Kontrolle kann er, wenn auch indirekt über die Staaten, Massnahmen privater Organisationen sanktionieren, die bestimmte Sportler*innen diskriminieren. Im Fall Negovanović und andere gegen Serbien vom 25. Januar 2021 beispielsweise stellte der EGMR einen Verstoss gegen Artikel 1 des Protokolls Nr. 12 zur EMRK (allgemeines Diskriminierungsverbot) fest, da blinden Schachspieler*innen bestimmte finanzielle Vorteile und Belohnungen verweigert wurden, auf die ihre sehenden Kolleg*innen trotz gleicher Leistungen Anspruch hatten.

Die Verurteilung der Schweiz durch den EGMR wegen Verfahrensfehlern bei der Behandlung einer intersexuellen Athletin ist ein bedeutender Fortschritt für den Schutz dieser Gruppe von Sportler*innen. Auch wenn der EGMR das DSD-Reglement nicht direkt in Frage gestellt hat, eröffnet er doch einen vielversprechenden Weg für die Berücksichtigung der Menschenrechte im Sport und fordert das Bundesgericht auf, die Menschenrechte stärker in sein Konzept der «öffentlichen Ordnung» einzubeziehen. Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen sportlicher Integrität und der Achtung der Würde von Athlet*innen.