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Strassburg verurteilt die Schweiz wegen Verwahrung und Verbot der Doppelbestrafung

06.11.2024

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Schweiz erneut in einem Fall verurteilt, der mit der Anordnung der Verwahrung eines psychisch kranken Mannes zusammenhing. Die Verwahrung war 2018 von den Schweizer Behörden erlassen worden, nachdem der Mann sein ursprüngliches Urteil verbüsst hatte. Diese Entscheidung verstösst gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie gegen das Recht, nicht zweimal wegen derselben Tat verurteilt oder bestraft zu werden.

Im Fall Mehenni (Adda) gegen die Schweiz kam der EGMR zu denselben Schlussfolgerungen wie im Fall W.A. gegen die Schweiz: Erstens kommt die anschliessende Verwahrung einer doppelten Bestrafung des Beschwerdeführers für dieselben Taten gleich, und zweitens war die Verwahrung nicht ordnungsgemäss, da sie nicht in einer geeigneten Einrichtung durchgeführt wurde. Wie die meisten der in der Schweiz verwahrten Personen, bleiben sie unter einem normalen Haftregime inhaftiert, obwohl diese Umgebung nicht ihren spezifischen Bedürfnissen entspricht.

Eine Verwahrung, die nach der verbüssten Strafe ausgesprochen wird

Am 3. März 2011 wurde Mehenni (Adda) vom Bezirksgericht Lausanne wegen versuchten Mordes, Angriff und Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Im Rahmen des Antrags auf bedingte Entlassung wurden zwei Gutachten erstellt, welche bei ihm eine paranoide Schizophrenie und einer Persönlichkeitsstörung attestierten und dadurch auf ein hohes Rückfallriskio geschlossen wurde. Deshalb beantragte die Staatsanwaltschaft eine Revision des ursprünglichen Urteils zugunsten einer Änderung der Sanktion gemäss Art. 65 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs (StGB). Dieser Artikel sieht vor, dass die Verwahrung einer verurteilten Person nachträglich angeordnet werden kann. Im Juni 2018 gab das Bezirksgericht dem Antrag auf Änderung der Sanktion statt und ordnete die Verwahrung des Beschwerdeführers an. Dieser legte beim Kantonsgericht Berufung gegen den Entscheid ein. Nach dessen Abweisung gelangte er an das Bundesgericht, um die Unvereinbarkeit seiner Inhaftierung mit dem innerstaatlichen Recht sowie die Verletzung des Grundsatzes „ne bis in idem“ zu rügen. Dieser Grundsatz verbietet, dass eine Person zweimal für denselben Sachverhalt strafrechtlich verfolgt werden kann. Die Beschwerden werden von beiden Instanzen abgelehnt (6B_157/2019). Ab 2019 wird er in der Straf- und Massnahmenvollzugsanstalt Plaine de l'Orbe, ab 2022 der Sicherheitsabteilung derselbigen Anstalt verwahrt. 

Kein Kausalzusammenhang zwischen dem ursprünglichen Urteil und der Verwahrung

Im Fall Mehenni (Adda) gegen die Schweiz wurde der Beschwerdeführer zunächst zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die nach einer Revision in eine Verwahrung umgewandelt wurde. Der Beschwerdeführer berief sich auf die fehlende Kausalität zwischen dem ursprünglichen Urteil aus dem Jahr 2011 und der 2018 verhängten Verwahrung.

Das Strafgesetzbuch (Art. 65 Abs. 2 StGB) sieht die Möglichkeit einer Verwahrung nach der Verurteilung vor, sofern während des Vollzugs der Freiheitsstrafe neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen. Im vorliegenden Fall sind die Richter*innen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) der Ansicht, dass die Revision nicht auf einer erneuten Überprüfung der Schuld des Beschwerdeführers beruht und dass es keine neuen Elemente gibt, die eine erneute Überprüfung der Schuld ermöglichen. Das neue Gutachten über den psychischen Zustand des Täters zur Zeit der Tat reichen nicht aus. Darüber hinaus hätte das ursprüngliche Urteil aufgehoben und die strafrechtliche Anklage durch eine neue Entscheidung festgestellt werden müssen.

Die Unterbringung in einer freiheitsentziehenden Einrichtung ist unangemessen

Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Inhaftierung einer Person mit einer «geistigen Krankheit» gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK ordnungsgemäss, wenn sie in einem Spital, einer psychiatrischen Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt (Rooman v. Belgien), d. h. die geeignet ist, eine angemessene Versorgung von Menschen mit psychischen Krankheiten zu gewährleisten. Eine Therapie, die der gestellten Diagnose entspricht, und eine angemessene medizinische Überwachung müssen durchgeführt werden (Murray v. Vereinigtes Königreich). Gemäss den Strassburger Richter*innen stellt das Fehlen eines umfassenden Therapieplanes für die Behandlung einer inhaftierten Person mit psychischen Krankheiten eine „therapeutische Vernachlässigung“ dar (Strazimiri v. Albanien), die gegen das Verbot der Folter verstösst (Art. 3 EMRK; Art. 10 Abs. 3 BV; Art. 7 UNO-Pakt II).
Im vorliegenden Fall wurde Mehenni (Adda) zwischen 2017 und 2019 in der Strafanstalt 'La Croisée', ab März 2019 in den Straf- und Massnahmenvollzugsanstalten der 'Plaine de l'Orbe' und seit 2022 in der 'Colonie fermée' untergebracht. Während seiner Inhaftierung in der Straf- und Massnahmenvollzugsanstalt Plaine de l'Orbe, wurde die therapeutische Betreuung des Beschwerdeführers für etwa 5 Monate unterbrochen. Wegen der Unregelmässigkeit der therapeutischen Betreuung ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Einrichtung nicht geeignet war und dass die Inhaftierung des Beschwerdeführers gegen Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK verstösst.

Die Haftbedingungen von Personen, die in der Schweiz zu einer Verwahrung verurteilt sind, wurden bereits vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter des Europarates (CPT) kritisiert, insbesondere in den Berichten 2016 und 2022 des CPT.

Die Schweiz hat erneut gegen den Grundsatz der Doppelbestrafung verstossen

In Bezug auf den Fall W.A. gegen die Schweiz erinnerten die Strassburger Richter daran, dass Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK die Wiederaufnahme eines Verfahrens unter aussergewöhnlichen Umständen erlaubt: wenn neue Tatsachen vorliegen oder wenn es sich um einen Fall von grundlegendem Mangel handelt.
Im vorliegenden Fall waren die Schweizer Behörden der Ansicht, dass das Gutachten, das zur Diagnose einer psychischen Erkrankung führte, eine neu aufgedeckte Tatsache darstellte, was das Bundesgericht in seinem Urteil vom 11. März 2019 bestätigte. Der EGMR ist jedoch der Ansicht, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht auf Elementen beruhte, die die Art der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten oder das Ausmass seiner Schuld beeinflussen könnten. Somit können diese auch nicht zu einer neuen Prüfung der strafrechtlichen Anklage führen.