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Ungerechtfertigte Polizeipraktiken: Die Schweiz von Strassburg verurteilt

07.03.2024

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, dass die Einkesselung und Inhaftierung von Demonstrant*innen durch die Zürcher Polizei gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Recht auf Freiheit und Sicherheit verstösst.

Im Urteil vom 19. Dezember 2023 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass die Schweiz gegen Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen hat. Denn die Polizei hat die Taktik der Einkesselung, auch «Polizeikessel» oder «Kettling» genannt, gegenüber nicht gewalttätigen Demonstrierenden eingesetzt. Zudem hat sie Demonstrierende in Gewahrsam genommen, um sie auf dem Polizeiposten festzuhalten.

Einkesselung und Inhaftierung während einer friedlichen Demonstration

Am 1. Mai 2011 nahmen Arnold L. und Marthaler F. anlässlich des Tags der Arbeit im Anschluss an die offizielle Parade in Zürich an einer unangemeldeten Demonstration teil. Während am Kanzleiareal zahlreiche Personen einen Demonstrationszug bildeten, beschloss die Polizei, einen Kordon um das betroffene Gebiet zu ziehen und zwei verschiedene Einkreisungen vorzunehmen - eine am Kanzleiareal und eine am Helvetiapatz. Die Polizei nahm die Personalien von Arnold L. und Marthaler F., die im «Polizeikessel» am Helvetiaplatz eingekreist waren, auf. Sie übermittelte die Personalien für eine gründliche Überprüfung per Funk, bevor sie die beiden Demonstranten zur Polizeiwache brachte. Da keine Anzeigen und Straftaten vorlagen, wurden diese noch am selben Abend mit einem 24-stündigen Rayonverbot für die Umgebung des Demonstrationsortes freigelassen. Insgesamt wurden 542 Personen unter denselben Umständen in Massenzellen für eine Sicherheitsüberprüfung festgehalten. Laut der Strategie, die der Sprecher der Kantonspolizei erläuterte, zielte diese Massnahme darauf ab, alle Passant*innen von der Demonstration fernzuhalten.

Arnold L. und Marthaler F. beantragten bei der Kantonspolizei die Aufhebung des Rayonverbots und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Umzingelung, der Inhaftierung und des Wegbringens. Nachdem dieser Antrag von den ersten Instanzen der Schweizer Justiz abgelehnt worden war, legten die beiden beim Bundesgericht Beschwerde ein. Sie machten geltend, dass ihnen die Bewegungsfreiheit entzogen worden sei und dass das Recht auf freie Meinungsäusserung und das Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt worden seien.

Das Bundesgericht beurteilt die Massnahmen als gerechtfertigt…

Im Urteil vom 22. Januar 2014 hält das Bundesgericht fest, dass die Inhaftierung der Beschwerdeführer zur Überprüfung ihrer Identitäten notwendig war, da eine Identitätskontrolle nicht ohne weiteres auf einer öffentlichen Strasse durchgeführt werden könne. Da die Menschenmenge als Ganzes eine Gefahr darstellte, ist das Bundesgericht der Ansicht, dass der Einsatz der Einkesselungstaktik gerechtfertigt war. Dies auch wenn es die Festnahme von Personen bedeutete, die nicht aktiv an der Demonstration teilnahmen.

Die Richter*innen in Mon Repos sind der Ansicht, dass die Inhaftierung aufgrund der gewalttätigen Demonstrationen der vergangenen Jahre und zum Zweck der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht gegen Art. 5 der EMRK, dem Recht auf Freiheit und Sicherheit, verstösst. Das Bundesgericht stellt fest, dass der Einsatz des Polizeikordons keinen Freiheitsentzug darstellte und dass die Massnahmen zur Entfernung der beiden Demonstranten aus der Menschenmenge gerechtfertigt waren. Es begründete seinen Entscheid mit der Dauer der Einkesselung, der Schwierigkeit, die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufgrund der grossen Anzahl anwesender Personen zu gewährleisten und dem begründeten Verdacht auf begangene Straftaten.

...aber der EGMR weist die Schweiz zurecht.

Der EGMR ist zwar der Ansicht, dass die von den Beschwerdeführern erlittene Haft auf «legalem Wege» erfolgte. Doch er ist der Meinung, dass Art. 3 des Zürcher Polizeigesetzes allein nicht ausreicht, um eine Haft im Sinne von Art. 5 der EMRK zu begründen. Das Gericht ist der Ansicht, dass die Schweiz nicht belegen konnte, dass eine Festnahme notwendig war, um die Identitätskontrolle durchzuführen. Sie hätte auf der Strasse stattfinden können; im Zweifelsfall hätte die Polizei eine Überprüfung per Funk vornehmen können. So ist laut EGMR «nicht ausgeschlossen, dass die Inhaftierung einem schikanösen Zweck gedient hat». Das Gericht ist der Ansicht, dass die Aufstellung des Kordons bereits die Begehung einer Straftat verhinderte. Somit hatte die anschliessende Inhaftierung einen unverhältnismässigen, ja sogar willkürlichen Charakter, da für sie keinen Grund mehr bestand. Der EGMR ist daher der Ansicht, dass das Bundesgericht die Inhaftierung der Beschwerdeführer zu Unrecht mit der Verhinderung einer Straftat begründet hat.

Die Strassburger Richter*innen erinnern sogar daran, dass die Einrichtung eines Polizeikordons zur Verhinderung von Ausschreitungen bei einer Demonstration voraussetzt, dass zuvor ein Auflösungsbefehl erteilt wurde. Das war beim Demonstrationszug am 1. Mai 2011 in Zürich nicht der Fall. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann nämlich nur eine ausdrückliche oder stillschweigende Weigerung, einem gegebenen Befehl Folge zu leisten, als Begründung für eine Inhaftierung gemäß Art. 5 Abs. 1 b) EMRK dienen. Die Richter*innen sind der Meinung, dass nur die Weigerung der Beschwerdeführer, sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen, eine Inhaftierung gerechtfertigt hätte. Die Beschwerdeführer befolgten jedoch den Befehl der Polizei. Im Übrigen befanden sich die beiden Beschwerdeführenden auf dem Helvetiaplatz und nicht auf dem Kanzleiareal, wo die Anzeichen für Unruhen am stärksten ausgeprägt waren. Die Grundsätze der Verhältnismässigkeit und der Notwendigkeit der Inhaftierung wurden laut EGMR nicht eingehalten.

Im vorliegenden Fall stellen die Gewalttätigkeiten der vergangenen Jahre und die Notwendigkeit, Straftaten zu verhindern, keine zulässigen Rechtfertigungen für die Einkesselung und die anschliessende Inhaftierung dar. Diese Massnahmen müssen auf individuellen und konkreten Elementen basieren, die mit dem Verhalten der betreffenden Demonstrierenden zusammenhängen. Sie dürfen nicht auf allgemeinen Elementen basieren. Es verstösst daher gegen die EMRK, die Gesamtheit der demonstrierenden Personen als eine einzige Einheit zu betrachten, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Die Einkesselungstaktik sollte daher nur eingesetzt werden, wenn dies unbedingt notwendig ist, um gewalttätige oder gesetzeswidrige Demonstranten zu isolieren. Und nur dann, wenn sie nicht zu einer unverhältnismässigen Einschränkung der Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung der anderen Demonstrierenden führt.

Einkesselung: eine Praxis, die die Menschenrechte bedroht

Die Einkesselungstaktik steht im Konflikt mit mehreren Menschenrechten, insbesondere der Versammlungsfreiheit und der Meinungsfreiheit, die in der Verfassung (Art. 16 und 22 BV) und in den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz (Art. 10 und 11 EMRK; Art. 19 und 21 UNO Pakt II) verankert sind. Diese Rechte können eingeschränkt werden, wenn eine gesetzliche Grundlage dies vorsieht, wenn ein öffentliches Interesse bedroht ist und wenn der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt ist.

Der EGMR hat das Risiko hervorgehoben, dass die Praxis der Einkesselung eine abschreckende Wirkung auf die Teilnahme an künftigen Versammlungen und damit auf die Ausübung des Demonstrationsrechts haben könnte. Er betonte, dass «die nationalen Behörden sich davor hüten müssen, Massnahmen zur Kontrolle von Menschenmengen zu ergreifen, um direkt oder indirekt Protestbewegungen zu ersticken oder zu entmutigen» (Austin v. Vereinigtes Königreich, Abs. 68).

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über die Rechte auf Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung meinte bereits 2013, dass die «Praxis der Eindämmung [...] unbestreitbar eine starke abschreckende Wirkung auf die Ausübung der Freiheit, sich friedlich zu versammeln» hat. Die französische Sektion der Menschenrechtsliga warnt vor der Verwendung dieser Taktik als Mittel zur Unterdrückung von Protesten.

Die Leitlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) betonen seit 2010, dass «jeder absolut hermetische Kordon potenziell das Recht des Einzelnen auf Freiheit und Bewegungsfreiheit verletzt».

Ein Urteil gegen Frankreich, das Auswirkungen auf die Schweiz haben könnte

Am 8. Februar 2024 fällte der EGMR ein Urteil im Fall Auray gegen Frankreich. Darin erinnerte er daran, dass Massnahmen wie die Einkesselung durch die Polizei, die die Grundrechte friedlicher Demonstrierenden einschränken, «hinreichend konkret bestimmt» sein müssen, um zu verhindern, dass das Vorgehen der Polizei willkürlich ist. Der EGMR stellte fest, dass die mehrstündige Einkesselung einer Gruppe von Demonstrierenden durch die Polizei während einer Demonstration gegen einen Gesetzesentwurf zur Rentenreform im Oktober 2010 eine Verletzung von Art. 2 des Protokolls Nr. 4 (Bewegungsfreiheit) und Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) im Lichte von Art. 10 (Meinungsfreiheit) darstellte. Eine Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) wurde nicht festgestellt, da sich der Ansatz des Gerichtshofs zum französischen Fall auf das Demonstrationsrecht konzentrierte.

In einer Pressemitteilung erklären Vertreter*innen des Zürcher Polizeidepartements, dass das Urteil des EGMR im Fall Arnold und Marthaler gegen die Schweiz die Taktik der Einkesselung nicht grundsätzlich in Frage stelle. Sie argumentieren, dass sich die Kritik des EGMR mehr auf die Dauer der Polizeikontrolle und die Anhaltung auf dem Polizeiposten beziehe. In der Pressemitteilung heisst es ausserdem, dass die Stadtpolizei Zürich ihr Verfahren bei grossen Einkesselungen und Personenkontrollen angepasst habe. Sie wollen die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Betroffenen «so weit wie möglich» einschränken, weiterhin Identitätskontrollen vor Ort durchführen und nur Personen, die einer Straftat oder eines anderen Grundes für Polizeigewahrsam verdächtigt werden, auf die Polizeiwache bringen.

Die Kantonspolizei Basel-Stadt prüft derzeit dieses EGMR-Urteil, das Auswirkungen auf die Polizeipraxis des Kantons haben dürfte. Denn im Jahr 2023 war ein Teil des 1. Mai-Umzugs eingekesselt worden. Dabei wurden laut der Basler Polizei 70 Personen «aufgrund der Anwesenheit von vermummten und mit Schutzausrüstung ausgestatteten Gruppen» über zwei Stunden lang in einem Polizeikordon festgehalten. Während des Umzugs in Zürich im selben Jahr ging die Polizei gegen zwei unbewilligte Demonstrationen vor, ordnete 400 Rayonverbote an und brachte 19 Personen auf die Polizeiwache. Diese Praktiken werden von der Schweizer Zivilgesellschaft weiterhin angeprangert.