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Polizei - Dossier

Friedensaktivist*innen werden in der Schweiz zunehmend kriminalisiert

19.10.2023

Prozesse gegen Klimaaktivist*innen sowie gegen Personen, die sich in antirassistischen und feministischen Bewegungen engagieren, häufen sich. Friedliche Aktivist*innen stehen sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene der Justiz gegenüber und riskieren zuweilen sogar Gefängnisstrafen. Die zahlreichen Verurteilungen, die Verschärfung von Repressionen, aber auch deren präventiver Charakter schränken das Recht auf friedliche Demonstrationen ein und führen zu einer abschreckenden Wirkung. Das Resultat bedroht das Recht auf freie Meinungsäusserung.

Verurteilungen nach der Parodie eines Tennisspiels oder einem Sitzstreik in einem Bankgebäude, die symbolische Blockade des Eingangs eines Einkaufszentrums am Black Friday oder die Teilnahme an einer Demonstration gegen die Räumung einer «zu verteidigenden Zone» (ZAD); Einschränkungen und Unterdrückung gewaltfreier Demonstrationen, Kriminalisierung der Hilfe für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus: Repressionen gegen Bürger*inneninitiativen sind in der Schweiz nach wie vor stark ausgeprägt. Dies als Folge der Genehmigungspflicht für friedliche Demonstrationen, der Ausweitung von Überwachungs- und Präventivmassnahmen oder der unverhältnismässigen Bestrafung von friedlichen Aktivist*innen. Das Völkerrecht und die verfassungsrechtlichen Garantien schützen indessen das Recht auf friedliche Demonstrationen, mehr noch, sie verkörpern einen zentralen Wert in einer demokratischen Gesellschaft.

Drei UN-Sonderberichterstatter*innen für das Recht auf friedliche Versammlung, Meinungsfreiheit und eine gesunde Umwelt formulierten im November 2021 Bedenken gegenüber den Schweizer Behörden und die Menschenrechtskommissarin des Europarats forderte ihre Mitglieder im Juni 2023 mit Nachdruck auf, die Unterdrückung friedlicher Umweltdemonstrationen zu unterlassen.

Ziviler Ungehorsam wird kriminalisiert…

Ziviler Ungehorsam ist eine öffentliche, gewaltfreie Handlung, bei der man absichtlich gegen ein nationales Gesetz verstösst, um die Menschenrechte zu verteidigen. Er ist durch die Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung geschützt; sie sind im UN-Pakt II und in den Artikeln 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert. Als Ausdruck einer Überzeugung kann sie auch durch die Gewissens- und Glaubensfreiheit (Art. 9 EMRK) geschützt sein.

In der Schweiz gibt es keinen eigenständigen Rechtsbegriff für zivilen Ungehorsam; wenn die Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt sind, besteht die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung. So können militante Aktionen je nach Kreativität der Strafverfolgungsbehörden Straftaten darstellen: Zum Beispiel Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB), Verhinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB), Behinderung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Art. 239 StGB), Ungehorsam gegen eine behördliche Verfügung (Art. 292 StGB) und Übertretung des Strassenverkehrsgesetzes, der Gesetzgebung über den öffentlichen Grund oder der Polizeigesetze und -reglemente.

... obwohl das Recht auf Demonstration geschützt ist

Eine Demonstration kann als gewaltfreie Versammlung von Personen verstanden werden, deren Ziel es ist, Meinungen zu äussern. Sie findet statt, sobald zwei Personen eine Handlung vornehmen entweder vor Ort, aus der Ferne oder online, statisch oder mobil, und sie kann organisiert oder spontan sein. Die Durchführung einer Demonstration ist durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt (Art. 10 und 11 EMRK). Die Annahme, dass jede Demonstration friedlich ist, bedeutet, dass die Teilnehmenden auch dann geschützt werden müssen, wenn es zu vereinzelten Gewaltakten kommt. Nach internationalem Recht kann eine Demonstration nicht von einer vorgängigen Genehmigung der Behörden abhängig gemacht werden, da dies das Recht auf Protest aushöhlen würde. Das Völkerrecht kennt den Begriff einer «illegalen Demonstration» nicht; eine Demonstration sollte stattfinden können, ohne dass eine Genehmigung erforderlich ist. Darüber hinaus kann die Teilnahme an einer Demonstration, selbst wenn sie nicht vorher genehmigt wurde, keine strafrechtlichen Sanktionen rechtfertigen (Allgemeine Bemerkung Nr. 37; Leitlinien des BDIMR/OSZE und der Venedig-Kommission). Inhaltlich ist jede Botschaft geschützt, solange sie nicht zu Hass, Gewalt oder Intoleranz aufruft. Auch Gegendemonstrationen sind geschützt.

Das Versammlungs- und Demonstrationsrecht leitet sich aus der friedlichen Versammlungs- und Meinungsfreiheit ab und wird in der Bundesverfassung (Art. 16 und 22) sowie in den grundlegenden Instrumenten zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 19 und 21 Pakt II) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 10 und 11 EMRK), aber auch in den Kantonsverfassungen garantiert. Die Verpflichtungen der Staaten werden in internationalen Instrumenten wie der UN-Deklaration zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen näher erläutert. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 37 zum Recht auf friedliche Versammlung (Art. 21) verdeutlicht der UN-Menschenrechtsausschuss die Verpflichtungen der Staaten so: Sie müssen die Durchführung von Demonstrationen erleichtern und alle erforderlichen Massnahmen ergreifen, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Weiter sind sie verpflichtet, jede Meinung zuzulassen; die Wahl von Zeit, Ort und Art und Weise der Demonstration darf nicht unrechtmässig eingeschränkt werden; es dürfen keine Verbote oder Auflösungen ohne zwingenden Grund ausgesprochen und keine Sanktionen ohne triftigen Anlass verhängt werden. Die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration ist nicht strafbar. Mehr noch: Die UN-Deklaration zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen sieht vor, dass diese unterstützt und geschützt werden müssen, insbesondere mit Bezug auf das Recht, sich friedlich zu versammeln.

Zahlreiche Verhaftungen, Einschränkungen und Verurteilungen auf kantonaler Ebene...

Friedliche Aktivist*innen werden von der Justiz je nach Kanton und Instanz unterschiedlich behandelt. Zwar kommt es in einigen Fällen zu Strafmilderungen, doch die Gerichte berücksichtigen oft weder den Schutz der Grundrechte noch den Vorrang des Völkerrechts; das Strafgesetzbuch steht immer wieder an erster Stelle. So wird oft nicht geprüft, ob die Voraussetzungen für eine Einschränkung der Grundrechte erfüllt sind. Darüber hinaus werden «ehrenhafte Motive» von den Gerichten häufig nicht gewürdigt.

Die Waadtländer Justiz zum Beispiel sprach in den letzten Jahren zahlreiche Verurteilungen aus. Im Jahr 2021 wurden rund 40 Aktivist*innen wegen Hausfriedensbruchs angeklagt: Sie wehrten sich gegen die Erweiterung des Zementsteinbruchs von Holcim und besetzten friedlich das Gebiet von Le Mormont, um gegen dessen Räumung zu protestieren. Etliche Aktivist*innen wurden gar per Strafbefehl zu Gefängnisstrafen verurteilt. Dabei achteten diese Sanktionen weder die Grundrechte noch die Tatsache, dass die Handlungen keine bleibenden Schäden oder gar grössere Störungen zur Folge hatten. Den Le-Mormont-Aktivist*innen gelang es in einem Verfahren bis zum Bundesgericht, ihr Grundrecht auf Zugang zu einem Richter oder einer Richterin zur Anfechtung dieser Strafbefehle durchzusetzen. So erhielten einige der vom Bezirksgericht Nyon verurteilten Angeklagten bedingte Tagessätze, obwohl der Generalstaatsanwalt des Kantons Waadt unbedingte Gefängnisstrafen gefordert hatte. Diese Verurteilungen wurden vom Kantonsgericht bestätigt. Andere Aktivist*innen wurden jedoch vom Bezirksgericht Nyon ganz oder teilweise freigesprochen. Das Waadtländer Kantonsgericht erkannte zwar an, dass manche Aktivist*innen aus ehrenhaften Motiven handelten, doch die Richter*innen waren der Ansicht, dass der Schutz der Umwelt nicht zwangsläufig mit einer Straftat einhergehen müsse.

Zwischen 2019 und 2023 wurden mehr als hundert Demonstrant*innen von der Waadtländer Justiz vorgeladen. Sie mussten sich dafür verantworten, dass sie am 20. und 27. September sowie am 14. Dezember 2019 an nicht bewilligten Demonstrationen auf öffentlichem Grund teilgenommen hatten. Mit einer Serie von Einzelverfahren, die als «Prozess der 200, der nicht stattfinden wird» bezeichnet wird, verzichteten die Behörden auf ein Sammelverfahren, womit die Aktion als solche hätte beurteilt werden können. Zwei Ärzte, die an der Aktion teilnahmen, kritisierten die Behörden so: Sie seien «taub für die Warnmeldungen» von Wissenschaftler*innen; die Aktivist*innen würden mit einem gemeinnützigen Ziel handeln und stiessen dennoch auf Repressionen durch die Behörden.

Sechs Frauen, die wegen einer «Oben-ohne-Demonstration» in Lausanne anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März 2021 verhaftet wurden, erhielten einen Strafbefehl. Darin wurden sie zu einer Geldstrafe über 300 Franken, 60 Franken Verwaltungskosten und 200 Franken Einsatzkosten verurteilt; sie sollen gegen das vom Bundesrat im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Covid-19 angeordnete Demonstrationsverbot verstossen, die «öffentliche Ruhe» gestört und «Kleidung, die gegen den Anstand oder die öffentliche Moral verstösst» getragen haben.

Während die Genfer Justiz in einem Berufungsverfahren die strafrechtlichen Verurteilungen und Strafzettel eines Klimaaktivisten im Jahr 2020 aufhob, bestätigte jüngst die gleiche Justiz die Untersuchungshaft eines anderen Aktivisten.

Verhaftungen erfolgten auch in Kantonen der Deutschschweiz: 54 der 83 Klimaaktivist*innen, die Eingänge zu den Hauptsitzen der Credit Suisse in Zürich und der UBS in Basel blockierten, wurden per Strafbefehl wegen Nötigung oder Hausfriedensbruch verurteilt.

... es gibt auch positive Entscheide über Beschwerden

Das Bundesgericht widersprach mehrfach Urteilen von kantonalen Instanzen, nachdem Aktivist*innen dagegen Beschwerde einlegten. Im Juli 2022 hob das Oberste Gericht die Verurteilung von zwei Klimaaktivist*innen durch das Waadtländer Kantonsgericht zu bedingten Geldstrafen auf: Sie hatten 2019 an einer Demonstration in Lausanne teilgenommen und so offenbar gegen Verfahrensbestimmungen verstossen.

Die Richter*innen in Mon Repos bestätigten im Dezember 2022 einen Freispruch von elf Klimaaktivist*innen, weil sie am Rande einer Demonstration in Genf Mitte März 2019 an einem Sit-in teilnahmen.

Ein anderer Klimaaktivist legte gegen ein Urteil des Waadtländer Kantonsgerichts Berufung ein, weil es seine Berufung im schriftlichen Verfahren behandelt hatte. Auch er erhielt vor Bundesgericht Recht; das Gericht war in seinem Urteil vom 16. August 2022 der Meinung, Berufungsverfahren von Klimaaktivist*innen müssten öffentlich sein. Zudem rügte das Bundesgericht die Waadtländer Staatsanwaltschaft, weil sie einem Zadisten den Zugang zu einem*r Richter*in verwehren wollte. Der Aktivist hatte sich geweigert, seine Identität gegenüber den Strafverfolgungsbehörden offenzulegen. In mehreren Urteilen vom Oktober 2023 bestätigte das Bundesgericht sein erstes Urteil, wonach das Waadtländer Urteil gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstossen hatte.

Schliesslich ordnete das Bundesgericht die Vernichtung der dann-Profile und Fingerabdrücke von Klimaaktivist*innen an, die hinter der symbolischen Blockade einer Basler Bank im Jahr 2019 standen. Die Instanz befand, diese Massnahme sei unverhältnismässig und nicht gerechtfertigt, denn die besagten Personen hätten lediglich an einer friedlichen Demonstration teilgenommen bei der es zu keinerlei Gewalttätigkeiten gekommen sei.

Demgegenüber bestätigte das Bundesgericht andere Verurteilungen durch kantonale Gerichte. Es wies insbesondere die Beschwerde von Klimaaktivist*innen ab, die von der Waadtländer Justiz bedingte Geldstrafen und hohe Gerichtskosten kassiert hatten, weil sie im November 2018 eine Filiale der Credit Suisse besetzten. Ausserdem bestätigte das Bundesgericht die Verurteilung einer Menschenrechtsverteidigerin. Sie hatte einem Ausländer geholfen, in die Schweiz einzureisen. Hierbei erkannte das Gericht ein «ehrenhaftes Motiv» nicht an.

Einige friedliche Aktivist*innen erhielten hingegen auf kantonaler Ebene Recht, nachdem sie Berufung eingelegt hatten. Im Fall des «Renens-Prozesses» bekamen nur fünf Personen einen Freispruch, was der Hälfte der bereits verurteilten Personen entspricht. Bei den feministischen Aktivistinnen, die oben ohne demonstriert hatten, liess die Waadtländer Justiz die Begriffe «Anstand und Ruhestörung» weg, verurteilte sie dennoch zu einer Geldstrafe, weil sie an einer verbotenen Demonstration von mehr als 15 Personen im öffentlichen Raum teilgenommen hatten.

Immer strengere Regeln für Demonstrationen

Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit wird auch durch restriktive Gesetze bedroht. Da das Demonstrationsrecht in die Zuständigkeit der Kantone fällt, sind die Bedingungen, die die kantonalen Gesetzgebungen dem Demonstrationsrecht auferlegen, von Kanton zu Kanton verschieden. Gleichwohl ist eine allgemeine Tendenz zu einer Verschärfung für die Durchführung von Demonstrationen zu beobachten.

Das Bewilligungssystem stellt eine sehr hohe Belastung für Veranstalter*innen dar und verstösst gegen die internationalen Verpflichtungen der Schweiz. So müssen oft zahlreiche Kriterien erfüllt werden, damit eine Genehmigung für die Organisation einer Veranstaltung erteilt wird. Im Jahr 2012 führte der Kanton Genf zum Beispiel eine Genehmigungspflicht ein und verlangte von den Organisatoren gar die Einsetzung eines Ordnungsdienstes; solche Regelungen werden mittlerweile auch in anderen Kantonen (Waadt, Freiburg, Zürich, Jura) verfügt. Im Jahr 2021 machte der Kanton Waadt eine Bewilligung für eine Demonstration des Kollektiv «Feministischer Streik» davon abhängig, dass ein Ordnungsdienst von rund 100 Personen garantiert, der Inhalt der Plakate kontrolliert wird oder die Organisatorinnen für jede nicht vorgesehene Aktion haften. Auch den Organisator*innen der Demonstration gegen das Bundesgesetz über die polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (BMPT) in Lausanne wurden ähnliche Auflagen gemacht; solche Vorhaben wirken abschreckend. Dieses repressive Klima und die unrealistischen Forderungen der Behörden werden unter anderem vom Waadtländer Kollektiv «Prenons la rue!» scharf kritisiert. So verlangt auch die Zürcher Initiative «Für Recht und Ordnung » die Überwälzung der Kosten für allfällige Sachschäden oder Polizeieinsätze auf die Organisator*innen der Demonstrationen

Auch haben Bussgelder, die bei Nichteinhaltung von verlangten Bedingungen ausgesprochen werden, eine abschreckende Wirkung. 2019 schrieb der Kanton Bern in seinem Polizeireglement die Abwälzung der Kosten auf die Veranstalter*innen für Gewalttaten von Drittpersonen bei Demonstrationen fest und stellte damit die Veranstalter*innen vor hohe finanzielle Belastungen. In einem Urteil, das auf eine Beschwerde gegen die Revision des bernischen Polizeigesetzes folgte, stellte das Bundesgericht jedoch fest, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch diese neue Bestimmung nicht beeinträchtigt sei und dass sie keinen «chilling effect» verursache.

Das vom Bundesrat wegen der Pandemie erlassene allgemeine Demonstrationsverbot wurde im März 2022 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) als unverhältnismässig eingestuft; es verstosse gegen die Freiheit, sich friedlich zu versammeln (Art. 11 EMRK). Der EMRK monierte, eine friedliche Demonstration dürfe nicht Gegenstand einer drohenden strafrechtlichen Sanktion sein.

Überwachung im öffentlichen Raum stellt eine Gefahr dar

Im März 2023 schoss die Basler Polizei am Internationalen Tag der Frauenrechte mit Gummigeschossen auf friedliche Demonstrant*innen mit der Begründung, die Aktion sei nicht bewilligt.

Aktivist*innen sind auch von der Fichierung durch die Strafverfolgungsbehörden bedroht; diese ordnen die Erhebung von erkennungsdienstlichen Daten oder DNA-Proben oder gar die Erstellung eines DNA-Profils. Solche Zwangsmassnahmen wurden insbesondere im Zusammenhang mit der Räumung der ZAD Mormont sowie der symbolischen Blockade einer Basler Bank im Jahr 2019 umgesetzt. Im letzteren Fall ordnete das Bundesgericht jedoch später auf Beschwerde hin die Vernichtung des von der Kantonspolizei erhobenen DNA-Profils und der Fingerabdrücke der Klimaaktivist*innen an; das Gericht war der Meinung, es handelte sich um eine friedliche Demonstration. Und weiter: Solche Zwangsmassnahmen seien nicht verhältnismässig, wenn keine ernsthaften und konkreten Hinweise auf eine frühere oder künftige Begehung einer Straftat durch die beschuldigte Person vorliege.

Die Überwachung im öffentlichen Raum verletzt die Privatsphäre und bedroht das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. In Genf sollen Klimastreikende aufgrund von Videos erkannt worden sein, die während der Demonstration gedreht und von Beamten der Brigade de recherche et d'îlotage analysiert wurden. In der Schweiz gibt es keine speziellen Vorschriften für Gesichtserkennungssysteme; Untersuchungen zeigen, dass die Schweizer Polizei bereits heute einige umstrittene Programme einsetzt. Es ist zu befürchten, dass die Angst vor Fichierung die Menschen an der Ausübung ihrer Grundrechte hindert. Das Bundesgericht hob jene Bestimmungen des Berner Polizeigesetzes auf, die sich auf Überwachungsinstrumente bezogen, mit denen der Kanton Bern die Polizei ohne richterliche Genehmigung ausstatten wollte.

Schwieriger Zugang zur Justiz für Aktivist*innen

Festgenommene Personen müssen sich mit den Schwierigkeiten des Strafverfahrens auseinandersetzen, wie zum Beispiel Strafbefehle oder Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Um gegen die oft unverhältnismässigen Strafen vorzugehen, müssen die Betroffenen immer öfter Rechtsmittel einlegen.

In der Schweiz ist der Strafprozess die Ausnahme: 90 Prozent der Strafen werden nicht mehr von einem Gericht, sondern direkt von der Staatsanwaltschaft mit einem Strafbefehl verhängt. Die damit verbundene Oberflächlichkeit und Kürze des Verfahrens stellen eine Verletzung der grundlegenden Prinzipien des Strafverfahrens dar. Aktivist*innen werden dadurch in ihrer Möglichkeit, Einspruch zu erheben stark eingeschränkt, ganz zu schweigen von den Gerichtskosten und die Kosten, die für ihre Verteidigung anfallen.

Die Zadisten von Mormont, die sich weigerten, Ausweispapiere vorzulegen, hatten beispielsweise keine Möglichkeit, sich zu ihrer Verurteilung zu äussern. Die von der Polizei gesammelten DNA-Proben der Angeklagten wurden für den Strafbefehl als gültig erachtet, nicht aber für den Einspruch dagegen. Dies stellt einen Verstoss gegen das Grundprinzip des Rechts auf ein faires Verfahren dar. Die unbekannt gebliebenen Zadist*innen bekamen später vor Bundesgericht dennoch Recht. Das Gericht monierte den «übermässigen Formalismus» seitens der unteren Instanzen und schützte das Recht der Zadist*innen, ihren Fall von einem/einer Richter*in beurteilen zu lassen. Die Richter*innen des Obersten Gerichts erklärten jedoch die Klagen der beiden Aktivist*innen für unzulässig, bei der sie eine Entschädigung für die Entnahme von DNA-Proben zu ihrer Identifizierung forderten.

Darüber hinaus belasten die Gerichte Aktivist*innen selbst dann mit hunderten oder gar tausenden Franken Gerichtskosten, wenn sie aufgrund ihres Einspruchs Recht bekommen und ihre Strafen vom Gericht reduziert werden müssen. Diese zusätzlichen Kosten übersteigen oft oder gar immer die tatsächlich erreichte Strafminderung, wodurch eine Berufung nicht mehr interessant ist.

Mehr vorbeugende Massnahmen

Die Verabschiedung des Gesetzes über die polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (PMT) stellt eine zusätzliche Bedrohung für Aktivist*innen dar. Dieses neue Bundesgesetz stärkt die Kompetenzen des Bundesamtes für die Polizei massiv. Es ermöglicht «Handlungen, die auf die Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung gerichtet sind und die durch schwere Straftaten, die Androhung solcher Straftaten oder die Verbreitung von Angst durchgeführt oder begünstigt werden können» als terroristisch einzustufen. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats lehnte einen Antrag ab, der eine Präzisierung dieses Begriffs vorschlug; der Antrag wollte, dass politische Aktivist*innen von der Formulierung ausgeschlossen werden, um so Repressionen gegen soziale Bewegungen zu verhindern. Das Gesetz sieht gar die Anwendung von Massnahmen für Kinder ab 12 Jahren vor. Diese Altersgrenze steht im Widerspruch zum Jugendstrafrecht und den internationalen Verpflichtungen der Schweiz im Zusammenhang mit der Konvention für die Rechte des Kindes. Bewegungen, die hauptsächlich aus Jugendlichen bestehen, wie zum Beispiel Swiss Youth for Climate, könnten in Zukunft vom PMT besonders betroffen sein.

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) interessiert sich auch für Klimaaktivismus: In seinem Bericht «Sicherheit Schweiz 2023» wird festgehalten (S. 50), dass Fälle von Klimaaktivist*innen «mit Gewaltbezug» vom NDB verfolgt werden.

Schliesslich hat auch die am 7. März 2021 angenommene Initiative zum Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum Auswirkungen auf die Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit von Aktivist*innen. Das Gesetz will, dass die zuständige Behörde eine Verhüllung des Gesichts genehmigen kann, «sofern die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigt wird», eine Formulierung, die viel Raum für Interpretationen lässt.

Internationale Menschenrechtsorgane sind besorgt

Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen erinnerte im Juli 2020 daran, dass gewaltloser ziviler Ungehorsam durch das Recht auf friedliche Versammlung geschützt ist. Sein Berichterstatter Christof Heyns kritisierte allgemeine Einschränkungen bei der Teilnahme an friedlichen Versammlungen und stellte klar, dass jede Einschränkung einer Teilnahme an friedlichen Versammlungen auf einer differenzierten und individualisierten Bewertung des Verhaltens der Teilnehmer*innen beruhen muss. Er ersuchte die Regierungen,
den Teilnehmer*innen an Versammlungen zu erlauben, dass sie eine Maske oder Kapuze tragen, um ihr Gesicht zu verhüllen; und es dürften keine persönlichen Daten gesammelt werden, um Demonstrierende zu belästigen oder einzuschüchtern.

In den Debatten des Menschenrechtsausschusses wiesen die Redner*innen darauf hin, dass der Begriff «friedlich» aus rechtlicher Sicht mehrdeutig sei und von Staaten, die den Geltungsbereich dieses Rechts einschränken wollen, oft zu eng ausgelegt wird.

Nach Ansicht des Ausschusses stellen die in Europa vermehrt eingesetzten Technologien zur Massenüberwachung im öffentlichen Raum eine Bedrohung für Friedensaktivist*innen sowie für alle Personen dar, die an einer Demonstration teilnehmen möchten.

Die Ausschuss-Mitglieder äusserten sich auch besorgt über die Auswirkungen auf das Recht auf friedliche Versammlung beim Einsatz von Technologien: Der Einsatz zum Beispiel von Kameras zur Gesichtserkennung, des IMSI-System zur Personenortung oder die Sammlung von Informationen in sozialen Medien. Ebenso moniert der Ausschuss die abschreckende Wirkung und fehlende Regulierung, die zu einer Überwachung ohne Schutzmassnahmen führen.

Der Menschenrechtskommissar des Europarats formulierte im Juni 2023 ebenfalls seine Bedenken und erinnerte daran, dass sich die Mitgliedstaaten vor der Versuchung hüten müssten, Gesetze zu verabschieden, die zu weiteren Einschränkungen der genannten Rechte führen können. Demnach dürfe insbesondere Gewalt gegen friedliche Teilnehmer*innen an Umweltdemonstrationen nicht toleriert werden. Gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, den Leitlinien der Venedig-Kommission und der OSZE/ODIHR über die friedliche Versammlungsfreiheit und ihren früheren Empfehlungen muss die Aufrechterhaltung der Ordnung an öffentlichen Versammlungen im Einklang mit den Menschenrechten stehen.

Schliesslich mahnte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in einer gemeinsamen Erklärung, die Staaten müssten friedliche Versammlungen auch in Notsituationen schützen. Die Schweiz muss Ihren Verpflichtungen nachkommen, wie es auch die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz in ihrem Beitrag im Hinblick auf den UPR der Schweiz gefordert hat.

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