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Hinterlassenenrente: Die Schweiz diskriminiert Witwer

20.01.2021

In der Schweiz verliert ein Witwer seine Rente, sobald sein jüngstes Kind volljährig wird. Demgegenüber erhält eine Witwe ihre Rente ein Leben lang. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in dieser Ungleichbehandlung der Männer eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

Das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) beendet den Anspruch auf die Witwerrente, wenn das letzte Kind des Witwers das 18. Altersjahr vollendet hat (Art. 24 Abs. 2 AHVG). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt im Fall B. gegen die Schweiz vom 20. Oktober 2020 zum Schluss, dass diese Bestimmung – angesichts der Tatsache, dass der Rentenanspruch der Witwe in derselben Situation nicht erlischt – das Diskriminierungsverbot in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK) verletzt.

Verlust der Witwerrente

Im Fall B. gegen die Schweiz sorgt der Beschwerdeführer seit dem Tod seiner Gattin allein und in Vollzeit für seine beiden Kinder. Aufgrund von Artikel 23 AHVG erhielt er eine Witwerrente zugesprochen. Am 9. September 2010 teilte ihm die Ausgleichskasse seines Wohnkantons Appenzell Ausserrhoden mit, dass die Auszahlung der Witwerrente wegen der Volljährigkeit seiner jüngsten Tochter beenden würde.

Der Betroffene legte gegen diese Verfügung Beschwerde ein: Die Beendigung der Witwerrente respektiere nicht den in der Bundesverfassung festgelegte Grundsatz der Gleichbehandlung von Frau und Mann (Art. 8 Abs. 3 BV). Nachdem die Ausgleichskasse wie auch durch das Obergericht sein Anliegen abgelehnt hatten, zog der Beschwerdeführer vor das Bundesgericht und brachte vor, dass er durch den Entzug seiner Rente aufgrund seines Geschlechts in der Ausübung seines Rechts auf Familienleben diskriminiert werde (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK).

Bundesgericht: Ungleichbehandlung im Sinne des Gesetzgebers

Die Bundesverfassung geht von der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter aus. Laut Bundesgericht ist eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts nur gerechtfertigt, wenn sich diese aufgrund biologischer oder funktionaler Verschiedenheiten zwischen Mann und Frau aufdrängt.

Bei der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) im Jahr 1948 sah das Bundesgesetz nur eine Rente für verwitwete Frauen vor. Demgegenüber wurde die Witwerrente erst 1997 bei der zehnten Revision der AHV eingeführt und beschränkte sich auf Witwer mit minderjährigen Kindern. Die Einführung der Witwerrente entsprach der Tatsache, dass auch Frauen immer häufiger einer gut entlohnten Arbeit nachgingen und Männer nicht mehr alleine für den Lebensunterhalt der Familie aufkamen. Jedoch wurde der Ehemann vom Gesetz primär immer noch als Versorger und die Eherfrau mit ihren Kindern als Versorgte vorausgesetzt. Gemäss der Botschaft des Bundesrates zur Revision (S. 37 ff.) rechtfertigte sich eine Unterscheidung zwischen Witwen und Witwern insbesondere im Hinblick auf die faktische Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Rückkehr in den Arbeitsmarkt und die Tatsache, dass Hausmänner nach wie vor eine Seltenheit seien.

Gemäss Bundesgericht widerspricht der Unterschied zwischen Witwen und Witwern tatsächlich dem Grundsatz der Rechtsgleichheit von Mann und Frau in der Bundesverfassung. Jedoch sei der Gesetzgeber sich dieser Ungleichbehandlung bewusst gewesen und habe sie auch im Rahmen der elften Revision der AHV – welche in der Volksabstimmung abgelehnt wurde – nicht behoben. Das Bundesgericht und alle anderen rechtsanwendenden Behörden müssten zudem die Bundesgesetze in Übereinstimmung mit der Verfassung interpretieren. Da der Wortlaut von Artikel 24 Absatz 2 AHVG jedoch eindeutig ist, sei eine Auslegung nicht zulässig. Das Bundesgericht müsse demnach gemäss Artikel 190 der Bundesverfassung die Bestimmung im Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung anwenden, auch wenn sie der Bundesverfassung widerspricht.

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens berührt

Damit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) prüfen kann, muss der in Frage stehende Sachverhalt in den Anwendungsbereich mindestens eines der durch die Konvention garantierten Menschenrechte fallen (Art. 1-13 EMRK).

Gemäss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte umfasst der Begriff des Familienlebens in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtkonvention nicht nur die sozialen, moralischen oder kulturellen Verhältnisse, sondern ebenfalls die materiellen Interessen. In den Anwendungsbereich des Artikels fallen jegliche Massnahmen, die das Familienleben fördern und die Organisation des Familienlebens beeinflussen. Eine solche Massnahme bildet die Rente für eine Witwe oder einen Witwer, welche es einem Elternteil ermöglicht, zu Hause zu bleiben und sich vollumfänglich um die Kinder zu kümmern. So musste der Beschwerdeführende B. dank der ihm zugesprochenen Witwerrente nach dem tödlichen Unfall seiner Ehefrau nicht mehr erwerbstätig sein. Nach der Aberkennung seiner Rente im Alter von 57 Jahren wäre eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt für ihn zudem mit grossen Schwierigkeiten verbunden gewesen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt aus diesem Grund zum Schluss, dass die Beschwerde von B. in den Anwendungsbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens der Europäischen Menschenrechtskonvention fällt.

Eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts

Eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes liegt dann vor, wenn Personen in ähnlichen oder vergleichbaren Situationen ungleich behandelt werden und dies weder objektiv noch sachlich gerechtfertigt werden kann.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, dass Witwen im Gegensatz zu Witwern auch nach der Volljährigkeit ihres jüngsten Kindes das Recht auf eine Rente behalten. Dem Beschwerdeführer wurde die Rente damit einzig aufgrund der Tatsache abgesprochen, dass er ein Mann ist. Es sei davon auszugehen, dass die Schweizer Behörden dementsprechend in ähnlichen Fällen betroffene Witwer ebenso aufgrund ihres Geschlechts ungleich behandeln. Der Gerichtshof gesteht den Schweizer Behörden zu, dass ihr Ziel, den Witwen einen grösseren Schutz zuzusprechen, objektiv begründet werden kann. Hingegen lässt sich eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts sachlich nur aus schwerwiegenden Gründen rechtfertigen.

Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Europäische Menschenrechtskonvention ein lebendiges Instrument ist, welches im Lichte der aktuellen Lebensbedingungen und der in den demokratischen Gesellschaften vorherrschenden Auffassungen ausgelegt werden muss. So lassen sich bestimmte Ungleichbehandlungen im Laufe der Zeit nicht mehr rechtfertigen. So vermag die Annahme, der Ehemann sei für den Unterhalt der Ehefrau zuständig, eine Ungleichbehandlung der Witwer heutzutage nicht mehr zu begründen.

Schliesslich weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Gesetzgebenden in der Schweiz mehrere Anläufe getätigt hatten, um die Bedingungen für die Renten von Witwen und Witwern zu vereinheitlichen. Zudem habe das Bundesgericht seinerseits eingestanden, dass die aktuelle Rechtslage dem verfassungsmässigen Grundsatz der Gleichbehandlung von Frau und Mann widerspreche. Für die Richter*innen in Strassburg ist das Argument des Bundesgerichts, es habe aufgrund von Artikel 190 der Bundesverfassung auch verfassungswidrige Bundesgesetze anzuwenden, keine ausreichende Begründung, um die Ungleichbehandlung der Witwer gemäss Artikel 24 Absatz 2 AHVG zu rechtfertigen. Der Gerichtshof kommt aus diesen Gründen zum Schluss, dass der Beschwerdeführer durch die Beendigung seiner Witwerrente in der Ausübung seines Rechts auf Familienleben diskriminiert worden war und eine Verletzung von Artikel 14 und Verbindung mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt.

Die Schweiz reichte am 19. Januar 2021 ein Gesuch um Neubeurtei­lung des konkreten Falles durch die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein. Ein Ausschuss des Gerichtes muss nun entscheiden, ob der Fall genügend grundsätzlich und schwerwiegend ist, um von der grossen Kammer neu beurteilt werden zu müssen. Die Chancen dafür stehen eher schlecht. Sollte das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte letztendlich rechtskräftig werden, muss der betroffene Witwer zur Erlangung seiner Rente beim Bundesgericht die Revision des Schweizer Urteils beantragen.

Eine Reform ist notwendig

In Anbetracht des Urteils aus Strassburg ist kaum zu rechtfertigen, dass in der aktuellen Reformvorlage der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV 21), welche vom Bundesrat 2019 verabschiedet wurde, eine Anpassung der Regelung für die Witwerrente nicht vorgesehen ist. Ob eine Änderung noch Eingang in die Vorlage findet, bleibt offen. Unklar ist zudem, ob der Anspruch auf Witwerrente verlängert oder jener auf Witwenrente verkürzt würde. In jedem Fall hätte es eine Entlastung der Versicherung zur Folge, wenn auch verwitwete Frauen nur bis zur Volljährigkeit ihres jüngsten Kindes eine Rente erhielten. In Anbetracht der deutlich tieferen Pensionskassenrenten, welche Frauen aufgrund von Erwerbsunterbrüchen oder Teilzeitarbeit wegen der Kinder erhalten, hätte eine Kürzung der Hinterlassenenrente für verwitwete Mütter jedoch schwerwiegende Konsequenzen. In jedem Fall hat sich die Politik mit der diskriminierenden Gesetzeslage auseinanderzusetzen und  unter Berücksichtigung der beruflichen Vorsorge – eine gerechte und menschenrechtskonforme Lösung zu finden.