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Überwälzung von Polizeikosten auf Veranstalter/innen und Teilnehmer/innen von Demonstrationen

06.10.2017

Im folgenden Gastbeitrag von Markus Husmann, Demokratische JuristInnen Luzern, wird die neuartige Bestrebung, die Kosten für Polizeieinsätze bei «unfriedlichen» Ordnungsdiensten auf die Teilnehmenden und Veranstalter/innen von Demonstrationen zu überwälzen, aus grundrechtlicher Sicht untersucht, und zwar am Beispiel einer entsprechenden gesetzlichen Regelung im Kanton Luzern und des Bundesgerichtsurteils, welches diese Regelung zum Gegenstand hatte. Der Beitrag basiert auf folgendem ausführlichem Fachartikel:

Grundrechtliche Ausgangslage

Polizeiliche Grundversorgung als staatliche Aufgabe

Die polizeiliche Grundversorgung ist eine staatliche Aufgabe und wird wie alle behördlichen Massnahmen zugunsten der Allgemeinheit grundsätzlich gebührenfrei aus allgemeinen Steuermitteln erbracht. Demgegenüber sind mehrere Kantone in jüngerer Zeit bestrebt, die Polizeikosten bei Demonstrationen und Kundgebungen auf Veranstalter/innen und Teilnehmende zu überwälzen, wenn es in deren Verlauf zu Gewalt an Personen oder Sachen kommt.

Grenzen des grundrechtlichen Schutzes bei Gewalttätigkeiten

Eine solche Kostenüberwälzung tangiert die Grund- und Menschenrechte auf Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 16 BV, Art. 22 BV; Art. 10 und 11 EMRK; Art. 21 UNO-Pakt II). Zwar geniessen grundsätzlich nur friedliche Versammlungen grund- und menschenrechtlichen Schutz. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung macht jedoch der Umstand, dass es im Verlauf einer friedlichen Kundgebung zu Gewaltausübung kommt, den Grundrechtsschutz nicht hinfällig. Randalieren beispielsweise kleinere Gruppen am Rand einer Versammlung, wird der Grundrechtsschutz nicht für die Versammlung als Ganzes beseitigt. Erst wo die meinungsbildende Komponente völlig in den Hintergrund tritt, kann der Schutz des Grundrechts entfallen (BGE 143 I 147, E. 3.2).

Abschreckungswirkung und Einschüchterungseffet («chilling effect»)

Neben unmittelbaren Beeinträchtigungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit (z.B. Verbote, polizeiliche Massnahmen) kann die Grundrechtsausübung auch in Form von mittelbaren Eingriffen durch negative Begleiterscheinungen beeinträchtigt werden. Die drohende Erhebung von Polizeikosten stellt einen solchen Eingriff dar. Werden Veranstalter/innen oder Teilnehmende von Demonstrationen durch drohende Polizeigebühren derart abgeschreckt, dass sie zum Vornherein auf die Grundrechtsausübung verzichten (Verzicht auf Kundgebung, provokative Slogans etc.), liegt eine grundrechtswidrige Abschreckungswirkung bzw. ein Einschüchterungseffekt («chilling effect») vor.

Polizeigesetz des Kantons Luzern

Als erster Kanton hat Luzern eine Regelung zur Abwälzung von Polizeikosten realisiert. Der Rechtsetzungsprozess zeigt, wie problematisch eine entsprechende gesetzliche Verankerung ist:
Vorerst wurde das Vorhaben durch eine Revision der Polizeikostenverordnung umgesetzt, wobei eine nur rudimentär bestimmte Kostenüberwälzung auf Veranstalter/innen sowie Störer/innen vorgesehen war. Diese Lösung hielt einer abstrakten Normkontrolle vor dem damaligen Luzerner Verwaltungsgericht (heute: Kantonsgericht) nicht stand. Das Gericht bejahte einen grundrechtswidrigen Einschüchterungseffekt: Unbestimmte, unter Umständen sehr hohe Gebühren können die Grundrechtausübung vereiteln. Ausserdem äusserte das Gericht erhebliche Bedenken an der Ausweitung des Störerbegriffs auf die Veranstalter/innen.

Trotz des Urteils wurde in der Folge das Vorhaben in den Grundzügen unverändert auf Gesetzesstufe realisiert. Allerdings wurde eine Gebührenobergrenze von CHF 30'000 definiert, die Haftung der Veranstalter/innen an einen Verstoss gegen Bewilligungspflichten bzw. -auflagen geknüpft und eine Kostenverteilung unter den Störern/-innen zu gleichen Teilen statuiert.

Grundsatzurteil des Bundesgerichts

Eine dagegen erhobene Beschwerde zahlreicher Organisationen, Gewerkschaften und Einzelpersonen hat das Bundesgericht teilweise gutgeheissen.

Bundesgerichtliche Erwägungen

Das Bundesgericht bejaht in seinem Leitentscheid ausdrücklich eine unzulässige Abschreckungswirkung bzw. einen Einschüchterungseffekt («chilling effect»), wenn für die Ausübung eines ideellen Grundrechts Polizeikosten verrechnet werden, welche die Grundrechtsberechtigten von der Grundrechtswahrnehmung abhalten (E. 3). Allerdings entziehe sich die neue Luzerner Gesetzesbestimmung nicht gesamthaft einer verfassungskonformen Auslegung.

Veranstalter/innen könnten nur haftbar gemacht werden, wenn ihr Verhalten «schlechterdings unverständlich» sei. Spontane Kundgebungen seien von der Kostenpflicht ausgenommen, und Bewilligungsauflagen müssten verhältnismässig ausgegestaltet werden (E. 5.3). Der Gebührenhöchstbetrag von CHF 30'000 komme unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten nur ausnahmsweise – genannt wird eine Grosskundgebung mit massiven Gewaltausschreitungen – in Betracht, wenn mehrere Veranstalter/innen beteiligt seien, wobei diese nicht solidarisch, sondern anteilsmässig haften (E. 6.3, 7.3).

Hinsichtlich einzelner Teilnehmer/innen hält das Gericht fest, dass derart hohe Kosten ein beträchtliches finanzielles Risiko darstellten und die Kostenbeteiligung nicht vorhersehbar sei, weshalb die Bestimmung grundsätzlich geeignet sei, einen Abschreckungseffekt zu bewirken (E. 11). Es lässt die grundrechtliche Frage aber letztlich offen, indem es die Bestimmung in ihrer Undifferenziertheit als Verletzung des Rechtsgleichheits- und des Äquivalenzprinzips taxiert und aufhebt (E. 12).

Würdigung des Bundesgerichtsurteils

Aus grundrechtlicher Sicht ist das Urteil des Bundesgerichts zu begrüssen, soweit es eine Gebührenpflicht der Teilnehmer/innen aufhebt und diejenige der Veranstaltenden einschränkt. Erhebliche Bedenken bleiben in folgenden Bereichen:

chilling effect

Die Abschreckung und Vereitelung der Grundrechtsausübung wirkt im Voraus. Daher vermögen die bundesgerichtlichen Erwägungen zur verfassungskonformen Anwendung der Regelung – die immer erst im Nachhinein erfolgen kann – einen «chilling effect» nur bedingt auszuräumen. Kommt es zu Ausschreitungen, müssen Veranstalter/innen nachweisen, dass sie sich korrekt verhalten haben. Dies kann sich allerdings als schwierig erweisen, zumal Bewilligungsauflagen typischerweise äusserst schwammig formuliert sind (z.B. «[…] einen eigenen, ausreichenden Ordnungsdienst organisieren, der einen geordneten Ablauf des Demonstrationszuges gewährleistet»). Dass dieselbe Behörde, die einen Polizeieinsatz führt und ggf. den Veranstalterinnen einen Verstoss gegen Bewilligungsauflagen vorwirft, auch über die Kostenauflage entscheidet, erweckt zumindest den Anschein fehlender Unabhängigkeit und kann den Einschüchterungseffekt verstärken.

Das Beispiel der seit Jahren im bewilligten Rahmen durchgeführten Luzerner Mai-Demonstration zeigt, dass drohende Kosten Veranstalter/innen effektiv abschrecken. Im Jahr 2015 fand ein grossangelegter Polizeieinsatz gegen die bewilligte Demonstration statt, der sich nachträglich als weitestgehend ungerechtfertigt erwies. Trotzdem wurde den Veranstaltenden nachträglich vorgeworfen, die Teilnehmer/innen nicht davon abgehalten zu haben, gegen Bewilligungsauflagen verstossen zu haben. Im darauffolgenden Jahr trat die Regelung zur Kostenüberwälzung in Kraft. Seither lassen sich keine Veranstalter/innen mehr finden, die Demonstration findet nicht mehr statt. Auch andere Bewilligungsgesuche scheiterten an den drohenden Kostenfolgen.

Eignung

Die von der Regierung behauptete präventive Wirkung gegenüber gewaltausübender Personen konnte in Luzern nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil werden Demonstrationen offenbar vermehrt klandestin organisiert, was die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht verbessert.

Spontane Demonstrationen

VeranstalterInnen, die nicht über «die erforderliche Bewilligung» verfügen, werden nach Luzerner Gesetzgebung unmittelbar haftbar. Gemäss Bundesgericht gilt die Norm zwar nicht für spontane Demonstrationen. Allerdings erhebt die Staatsanwaltschaft Luzern immer wieder Anklage gegen Teilnehmer/innen von spontanen Demonstrationen wegen fehlender Bewilligung. Das Gericht muss dann entscheiden, ob die Demonstrationen «spontan genug» war. Wenngleich regelmässig Freisprüche resultieren, fehlt es an Rechtssicherheit, sodass spontane Kundgebungen zu heiklen Thema ausbleiben.

Unbewilligte Demonstrationen

Bei einem Verstoss gegen die Bewilligungspflicht drohte bislang eine geringfügige Busse wegen einer Ordnungswidrigkeit (Verstoss gegen die Bewilligungspflicht). Mit der Überwälzung von Polizeikosten hängt ein Kostenrisiko bis zu CHF 30'000 wie ein Damoklesschwert über den Veranstalter/innen. Unbewilligte Demonstrationen werden so de facto verunmöglicht, was problematisch ist: So wurde zuletzt im Rahmen der OSZE-Selbstevaluation der Schweiz eingehend postuliert, die Schweizer Behörden sollten auch friedlichen, aber unbewilligte Demonstrationen zulassen und deren Veranstalter/innen und Teilnehmende nicht abstrafen.

Strafcharakter der Norm

Bemängelt wurde von den Beschwerdeführenden ausserdem, die Norm habe letztlich einen Strafcharakter, die strafrechtlichen Garantien (Art. 6 EMRK) würden jedoch nicht eingehalten. Das Bundesgericht verneint «in der Regel» einen strafenden Charakter der Gebühr und somit die Anwendbarkeit der strafrechtlichen Garantien der EMRK. Dabei hält das Gericht zwar zutreffend fest, dass im Rahmen der EMRK (Engel-Kriterien) die abstrakte Strafdrohung massgebend ist (mithin CHF 30'000) und nicht die im Einzelfall tatsächlich drohende Sanktion, stellt dann aber selber auf eine konkretisierte Strafdrohung ab. Obwohl es die Funktion der Norm als Sanktion beschreibt, verneint es deren repressiven Charakter (E. 7).

Laufende Gesetzgebungsprojekte

Infolge des Urteils des Bundesgerichts hat der Kanton Luzern eine neue Gesetzesvorlage beschlossen. Dabei werden die Kosten unter Berücksichtigung des individuellen Tatbeitrags und der individuellen Verursachung des Polizeieinsatzes unter den Teilnehmenden aufgeteilt. Ausserdem gilt die Gebührenobergrenze von CHF 30’000 für Teilnehmende nur noch in sog. «schweren Fällen», während im Grundsatz eine reduzierte Grenze von CHF 10’000 pro Person gilt.

Auch im Kanton Bern wird im Rahmen der Revision des kantonalen Polizeigesetzes die Möglichkeit der Kostenüberwälzung bei Demonstrationen diskutiert. Nach dem Urteil des Bundesgerichts wurde auch hier die Vorlage angepasst.