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Probleme im Schweizer Strafvollzug aus menschenrechtlicher Perspektive

25.08.2010

Die Sicherung der Menschenrechte stellt im Strafvollzug eine besondere Herausforderung dar. Aufgrund der Beziehungsnähe inhaftierter Personen zum Staat entsteht ein erhöhtes Risiko von Menschenrechtsverletzungen. Im Schweizer Strafvollzug werden aus menschenrechtlicher Perspektive insbesondere folgende Punkte kritisiert:

Überbelegung

Die Belegungsrate in Schweizer Gefängnissen ist seit 2006 stetig angestiegen. Gemäss den Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BFS) waren am 2. September 2009 91 % sämtlicher Gefängnisbetten belegt. In der lateinischen Schweiz betrug die Belegungsrate gar 100,1 %. Seit Jahren brisant ist die Lage im Genfer Gefängnis Champ-Dollon. Im Mai 2010 hielten sich 607 Häftlinge in dieser Anstalt auf – ausgelegt ist sie lediglich für 270. Es belegten denn auch bis zu drei Personen eine Einzelzelle, in Dreierzellen hätten sich teilweise bis zu sechs Häftlinge aufgehalten, so Gefängnisdirektor Constantin Franziskakis gegenüber dem Bund.

Diese unannehmbare Situation ist auch dem UNO-Menschenrechtsausschuss aufgefallen. Anlässlich seiner Bemerkungen zum dritten Staatenbericht der Schweiz äusserte er seine Besorgnis über die chronische Überbelegung. Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT) wies in seinem Bericht ebenfalls auf die untragbaren Zustände im Westschweizer Gefängnis Champ-Dollon hin.

Fehlende Klagemöglichkeiten bei Misshandlungen

Im Schweizer Strafrecht findet sich keine Definition von Folter, wie sie in Artikel 1 der UNO-Antifolterkonvention zu finden ist. Dies erschwere es Sträflingen in der Schweiz, gegen das Gefängnispersonal zu klagen, so Abdoulaye Gaye, Berichterstatter zur Schweiz des UNO-Antifolterausschusses. Erfolgreiche Klagen seien daher selten oder würden nur eine milde Strafe nach sich ziehen. Der UNO-Antifolterausschuss forderte in seinem sechsten Bericht zur Situation in der Schweiz denn auch die Aufnahme der Definition von Folter (gemäss der Antifolterkonvention) ins Strafrecht.

Unabhängige Beratungs- und Beschwerdestellen zu rechtlichen Problemen im Strafvollzug sind in der Schweiz nur spärlich vorhanden. Eine Zusammentragung verschiedener Anlaufstellen finden Sie in der Adressliste für Beratung bei Menschenrechtsproblemen auf humanrights.ch.

Fehlende Therapieplätze

Art. 59 des Strafgesetzbuch sieht vor, dass ein/e psychisch gestörte/r Täter/in auf Anordnung des Gerichts in einer spezialisierten und streng gesicherten Therapieabteilung behandelt wird. Für die zunehmende Anzahl psychisch kranker Delinquenten mangelt es in der Schweiz aber an entsprechenden Anstalten. Laut Experten fehlen mindestens 200 adäquate Therapieplätze. Als Folge davon werden psychisch kranke Täter/innen meist in normalen Vollzugsanstalten oder Psychiatrien untergebracht. Beide Institutionen sind aber nicht geeignet, um die notwendige Betreuung anzubieten. In Psychiatrien fehlt es an Sicherheitsvorkehrungen, in Strafanstalten hingegen an therapeutischer Hilfe.

Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) fordert seit 1991 von den Schweizer Behörden Massnahmen zur Errichtung geeigneter Therapieplätze.

Medizinische Leitlinien

Gefängnisärzte/-innen sehen sich des Öfteren mit klinischen Extremsituationen konfrontiert, bei welchen die Loyalität gegenüber dem Patienten/der Patientin mit den Verpflichtungen gegenüber der Gefängnisführung in Konflikt steht. Eine einheitliche Regelung der Rechte und Pflichten von Gefängnisärzten/-innen gibt es in der Schweiz bisher nicht. Vereinzelt existieren zwar kantonale Bestimmungen, auf nationaler Ebene hingegen bestehen lediglich die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), welche rechtlich jedoch nicht bindend sind.

Diese uneinheitliche Regelung führte jüngst (Juli 2010) im Fall des Walliser Hanfbauers Rappaz zu einer Konfliktsituation zwischen Behörden und medizinischem Personal. Die Frage um die Anordnung von Zwangsernährung am im Hungerstreik befindenden Inhaftierten spaltete die Gemüter und fachte die Diskussionen über die fehlenden rechtlicher Richtlinien für die Gefängnismedizin neu an.

Lebenslange Verwahrung

Das am 1. August 2008 in Kraft getretene Schweizer Gesetz zur lebenslänglichen Verwahrung steht insbesondere in zwei Punkten in Konflikt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):
Aus Art. 5 Abs. 4 der EMRK lässt sich ableiten, dass die Verwahrung eines Häftlings regelmässiger gerichtlicher Überprüfung unterliegen soll. Im Schweizer Gesetz wird diese Bestimmung aber weitgehend umgangen. Eine Kontrolle der Notwendigkeit der lebenslänglichen Verwahrung wird lediglich nach einem mehrstufigen Verfahren durchgeführt. Voraussetzung hierfür ist das Vorhandensein neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse einer Therapie (Art. 64c StGB). Zusätzlich steht die Möglichkeit der Anordnung einer nachträglichen Verwahrung, welche Art. 65 b StGB festlegt, entgegen dem Rückwirkungsverbot der EMRK (Art. 7 Abs. 1 EMRK).

In Zusammenhang mit der Verwahrung bekannt wurde im April 2010 der Fall des im Kanton Waadt in Haft verstorbenen Skander Vogt. Seine ursprüngliche Haftzeit von 20 Monaten verwandelte das Gericht nachträglich in eine Verwahrung, da der Insasse im Gefängnis als gefährlich eingestuft wurde. Da Skander Vogt mit dieser Situation nicht zurecht kam, zündete er in seiner Zelle die Matratze an, wonach er aufgrund unterlassener Hilfe des Gefängnispersonals an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung starb.

Ausschaffungshaft

Als Rechtsgrundlage der Haftbedingungen für die Ausschaffungshaft gilt das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG). Die Inhaftierten befinden sich demnach in der Regel getrennt von Strafgefangenen in Gefängnissen. Die Bedingungen der Administrativhaft unterscheiden sich in der Praxis aber sehr stark nach Kanton.

Zum Beispiel das Regionalgefängnis Bern, wo die Ausschaffungshäftlinge ein dreistufiges Vollzugsregime durchlaufen: Die ersten Tage in Ausschaffungshaft verbringen sie in einer Mehrfachzelle, später wechseln sie in eine Wohngruppe im Regionalgefängnis. Hier haben sie Zugang zu einem Aufenthaltsraum und zum Telefon. Nach acht bis zehn Wochen dann werden sie in den Ausschaffungstrakt in der Strafanstalt Witzwil verlegt, wo sie mehr Freiheiten geniessen. Für Frauen gibt es im Kanton Bern keine vergleichbare Einrichtung. Sie verbrachten bisher die ganze Ausschaffungshaft in der Wohngruppe des Regionalgefängnisses Bern. Es fehlen Beschäftigungsmöglichkeiten und die Möglichkeit, Zeit draussen zu verbringen, beschränkt sich gemäss der Zeitung Bund auf «einen einstündigen Spaziergang in einem kleinen, von hohen Mauern umgebenen und mit Stacheldraht überdeckten Spazierhof auf dem Dach des Gebäudes.»

Das Verwaltungsgericht Bern hat in einem Urteil vom September 2010 die geschilderten Umstände der Ausschaffungshaft im Regionalgefängnis Bern kritisiert und festgehalten, dass sich das Vollzugsregime der Ausschaffungshaft von demjenigen von Untersuchungshäftlingen im selben Gefängnis «wesentlich unterscheiden» müsse. Ausserdem befand das Gericht, dass eine Ausschaffungshaft ein «schwerwiegender Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Person» darstelle. Mit Verweis auf einen Bundesgerichtsentscheid hielt das Verwaltungsgericht fest, dass deshalb «die wichtigsten mit dem Haftvollzug verbundenen Freiheitsbeschränkungen auf Gesetzes- oder mindestens Verordnungsstufe» zu regeln seien.

Auch der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT) wies in seinem Bericht zu seinem Besuch der Schweiz auf die stark differierenden Zustände in den Ausschaffungsgefängnissen hin. Er betonte, dass die beiden besuchten Anstalten, Granges (Wallis) und Frambois (Genf), über gravierende Unterschiede in der Ausbildung der Aufsichtspersonen und den Freiheiten der Insassen aufzeigten. Aufgrund seiner Erkenntnisse kritisierte der Ausschuss die teilweise mangelhafte Ausbildung des Personals und die schlechte Infrastruktur mancher Haftanstalten mit den damit verbundenen dürftigen Beschäftigungsmöglichkeiten für die Insassen.