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20 Jahre Beratungsnetz für Rassismusopfer

07.08.2025

Kaum jemand hätte vor 20 Jahren für wahrscheinlich gehalten, dass aus einer engagierten kleinen Gruppe ein Netzwerk entsteht, in dem jeder Kanton mit mindestens einer Beratungsstelle vertreten ist und sich die Kantone an der Finanzierung einer Koordination dieser Vernetzung beteiligen. Zum 20. Geburtstag des Beratungsnetzes für Rassismusopfer kann nur eins gesagt werden – ein absolutes Erfolgsprojekt!

Es war Sommer 2004, in dem sich Alexandra Caplazi, ehemalige Mitarbeiterin von humanrights.ch, und Tarek Naguib, damals Praktikant bei der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR und Mitglied im Vorstand von humanrights.ch, bei einem Kaffee darüber ausgetauscht hatten, ein Netzwerk von Beratungsstellen zu gründen. Die Idee war, die schweizweit schwach aufgestellten Beratungsstellen zu unterstützen, ihre Beratungsarbeit zu professionalisieren und einen jährlichen Bericht mit Fällen und Analysen zu erstellen. Nachdem das Präsidium der EKR und der humanrights.ch-Vorstand grünes Licht gegeben hatten und auch die Fachstelle für Rassismusbekämpfung FRB ins Bild gesetzt worden war, wurde das Projekt noch im selben Jahr in den Räumlichkeiten der Universität Bern gut 15 Beratungsstellen aus der ganzen Schweiz vorgestellt. Der Vorschlag, ein Beratungsnetz zu gründen, stiess zwar bei allen auf offene Ohren, allerdings brach auch ein lange schwelender Konflikt aus. Wie heute waren auch damals die Beratungsstellen ungenügend finanziert. Einige der erfahrenden unter ihnen nutzten das Treffen und stellten die Forderung, dass es sich um ein politisches Netzwerk handeln sollte, mit dem die Bundestellen unter Druck gesetzt werden, die Beratungsstellen besser zu finanzieren. Im Bewusstsein um die Brisanz dieser politischen Differenzen beschränkte sich der Vorschlag der EKR und humanrights.ch darauf, ein rein fachliches Netzwerk zu gründen. Dafür sprach damals auch der grosse Unterschied zwischen versierten Beratungsstellen und den vielen Organisationen, die noch in den Kinderschuhen steckten. Ziel war es, für alle Seiten ein attraktives Angebot zu schaffen.

Das Beratungsnetz wird gegründet

An einer zweiten Sitzung waren wesentlich weniger Beratungsstellen anwesend, namentlich die «BaBeRas –Basler Beratungsstelle gegen Rassismus», das «gggfon – gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus», das «TikK – Kompetenzzentrum für interkulturelle Konflikte» aus Zürich, das Schweizerische Arbeiterhilfswerk SAH Schaffhausen sowie die EKR und humanrights.ch. An dieser Sitzung wurde der Entscheid getroffen, eine Arbeitsgruppe zu gründen, die ein Konzept für ein Dokumentationssystem für Beratungsfälle entwickeln sowie einen Weiterbildungstag für interessierte Beratungsstellen organisieren soll. Infolge dieser positiven Dynamik gründeten die EKR und humanrights.ch ein strategisches Joint Venture, mit dem humanrights.ch die operative Leitung des Projekts übertragen wurde.

Während im Jahr 2008 fünf Beratungsstellen insgesamt 87 Fälle erfassten, waren es 2011 zehn Beratungsstellen, 2014 bereits fünfzehn und 2017 ein bisheriges Maximum von 27 Stellen, die zum damaligen Zeitpunkt 301 Fälle dokumentiert hatten. Nach 2018 hat sich das Beratungsnetz bei 24 kantonalen und 2 nationalen Stellen stabilisiert, die jedoch immer mehr Fälle erheben: 2019 waren es 351, 2021 bereits 630, 2023 836 und im Jahr 2024 sogar 1211 Fälle. Grund für den Anstieg ist u.a. die auch der Bewegung «Black Lives Matter» zu verdankende zunehmende Sensibilisierung. Betroffene, wie auch Beobachter*innen einer rassistischen Diskriminierung sind heute schneller bereit, den Vorfall einer Beratungsstelle zu melden. Es kann heute festgehalten werden, dass das Beratungsnetz und seine Beratungsstellen zu einem der wichtigsten Player im Diskriminierungsschutz geworden ist.

Zugang zum Recht für Opfer rassistischer Diskriminierung

Der grösste Schub erhielt das Beratungsnetz durch die Einführung der kantonalen Integrationsprogramme (KIP) im Jahr 2014. Seither sind die Kantone verpflichtet ein Beratungsangebot für «Menschen, die aufgrund Herkunft oder Rasse diskriminiert werden» zur Verfügung zu stellen, wodurch heute in jedem Kanton ein entsprechendes Angebot besteht.

Bis heute haben sich 24 Beratungsstellen aus allen Kantonen und Sprachregionen dem Beratungsnetz angeschlossen. Die angeschlossenen regionalen Beratungsstellen decken die ganze Schweiz ab und mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund SIG und der Stiftung Zukunft Schweizer Fahrende sind auch die grössten nationalen Beratungsstellen für Betroffene von Antisemitismus und Antiziganismus im Beratungsnetz vertreten.

Die Arbeit der Beratungsstellen

Für die erfolgreiche Bekämpfung von Rassismus ist ein opferzentrierter Ansatz unerlässlich. Von Rassismus Betroffene brauchen Beratung und Begleitung, damit ihre Stimmen gehört werden und sie sich erfolgreich gegen rassistische Diskriminierung wehren können. Sei dies im öffentlichen Raum, in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Kontakt mit Behörden und Polizei. Die Beratungsstellen in den verschiedenen Regionen haben ein breites Angebot von juristischer bis zu psychosozialer Beratung sowie Mediation und Intervention, um gegen rassistische Diskriminierung vorzugehen.

Die Beratung von Opfern von rassistischer Diskriminierung ist für die Beratungsstellen äusserst herausfordernd. Einerseits sind Täter*innen von rassistischer Diskriminierung nur selten rechtsextreme Gewalttäter*innen, sondern häufig Personen die sich selbst nicht als rassistisch einschätzen würden und sich den Folgen des eigenen Handelns oft nicht bewusst sind. Genau das macht die Beratung von Betroffenen so schwierig. Täter*innen zu konfrontieren, die sich selbst keiner Schuld bewusst sind oder welche die Folgen ihrer Handlungen massiv unterschätzen, reagieren oft abwehrend und reden die eigenen Handlungen klein. Mit dieser Abwehrhaltung umzugehen, sie zu antizipieren und einschätzen zu können, ob sich nun eine Konfrontation lohnt und wie man mit dieser Abwehrhaltung umgehen kann, sind tägliche Fragestellungen für die Berater*innen von Opfern von rassistischer Diskriminierung. Eine weitere Herausforderung ist die Gesetzeslage in der Schweiz, welche keinen generellen Diskriminierungsschutz kennt, sondern nur einzelne fragmentierte Gesetzesartikel die oft nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar sind oder nicht den notwendigen Schutz bieten (vgl. auch Vorwort von Tarek Naguib).

Schliesslich ist auch die Vulnerabilität von Betroffenen von Rassismus oft eine grosse Herausforderung. Betroffene von Rassismus haben nicht selten Angst, sich zu wehren. Gerade wenn sie auch noch einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben oder durch andere Faktoren wie Geschlecht und Geschlechtsidentität oder Behinderung zusätzlich diskriminiert werden. Dies ist insbesondere der Fall bei Vorfällen rassistischer Diskriminierung im Kontext grosser Machtasymmetrien wie beispielsweise Schulen, Arbeitgeber*innen, Polizei oder staatlicher Verwaltung. Sich gegen den/die eigenen Arbeitgeber*in oder gegen eine*n Polizist*in zu wehren braucht Mut und Ressourcen. Leider sind negative Konsequenzen dabei nicht auszuschliessen, was verständlicherweise viele von einer Intervention abhält.

Das Beratungsnetz unterstützt die 24 angeschlossenen Beratungsstellen bei ihrer täglichen Arbeit durch regelmässige Weiterbildungen zu verschiedenen Themen, Unterstützung bei der Fallintervision untereinander sowie juristischer Rückberatung für komplexere Fälle. Gerade für kleinere Beratungsstellen, in denen teilweise nur eine Person angestellt ist, ist dieser Austausch unerlässlich, da die Beratung von Betroffenen oft sehr belastend ist und eine hohe Frustrationstoleranz erfordert.

Zahlen zu Rassismusvorfällen in der Schweiz seit 2008

Ein weiterer sehr wichtiger Beitrag des Beratungsnetzes ist der Jahresbericht über die Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit, der seit 2008 publiziert wird. Aufgrund der vielen Mitglieder des Beratungsnetzes ist die Datengrundlage sehr breit und die Auseinandersetzung mit Beratungsfällen im Rahmen des Netzwerks ermöglicht eine fall- und themenspezifische Vertiefung. Entsprechend können auf dieser Datengrundlage zu rassistischen Vorfällen in der Schweiz sehr fundierte Aussagen über über die Art der Diskriminierung, den Lebensbereich und die Situation der Betroffenen gemacht werden. Der Bericht ist in der Schweiz sowohl in seiner Tiefe als auch in seiner Breite einzigartig, dient für viele weitere Studien und Massnahmen als Grundlage und erhält jedes Jahr ein grosses Medienecho.

Eine grosse Herausforderung für das Beratungsnetz ist einerseits – wie bei fast allen nationalen Dachorganisationen – die sprachlichen Barrieren unter Beratungsstellen aus verschiedenen Sprachregionen, andererseits auch die Unterschiede in der Organisation auf kantonaler Ebene sowie auf der Ebene der einzelnen Beratungsstellen. Unter den Beratungsstellen gibt es solche, die der kantonalen Verwaltung angehören und der kantonalen Integrationsfachstelle angegliedert sind. Es existieren aber auch eigenständige Beratungsstellen oder solche, die einer lokalen NGO wie beispielsweise dem HEKS angehören. Genauso unterschiedlich wie die Struktur der Beratungsstellen sind deren Angebote und Ressourcen. Gewisse Stellen bieten neben der Beratung ein grosses Angebot an Weiterbildungen und Interventionen an, andere konzentrieren sich auf die Beratung. Es gibt Beratungsstellen, in denen nur eine Person mit teilweise kleinem Pensum für die Beratung des ganzen Kantons zuständig ist und auch solche mit einem grossen Team, welches sich die Beratung und Sensibilisierungsarbeit aufteilen kann. Die Planung von Massnahmen, Veranstaltungen, Weiterbildungen aber auch die externe Kommunikation des Beratungsnetzes muss diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Beratungsstellen immer mitdenken und mitplanen. Diese unterschiedlichen Hintergründe tragen hingegen immer wieder zu spannenden Diskussionen bei und ermöglichen eine breitere Wissensgrundlage im Netzwerk. Gerade weil gewisse Beratungsstellen bei anderen NGOs oder anderen Organisationen angegliedert sind, haben sie teilweise sehr wertvolle Kontakte oder wertvolles Wissen, dass für andere Stellen im Netzwerk interessant sein kann. In den grösseren Städten gibt es zudem Beratungsstellen, die teilweise schon sehr lange existieren und entsprechend über sehr viel Erfahrung und Wissen verfügen. Es ist eine der zentralen Aufgaben des Beratungsnetzes, den Austausch unter den Stellen zu fördern und so dieses Wissen für das gesamte Netzwerk nutzbar zu machen.

Das Beratungsnetz hat sich über die letzten 20 Jahre zu einem unverzichtbaren Player entwickelt, wenn es um die Bekämpfung von Rassismus in der Schweiz geht. Es leistet insbesondere mit der Sichtbarmachung der Fälle aus der Beratungsarbeit einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Im Jahr 2025 wird die gemeinsame Falldatenbank grundlegend erneuert. Geplant ist gleichzeitig auch, die Kategorien zur Fallerfassung anzupassen und damit die Vorfälle genauer beschreiben zu können. Ebenfalls geplant ist, die bestehende Weiterbildungsplattform zu evaluieren und neu zu konzipieren, sowie eine Strategie zur besseren Bekanntmachung des Beratungsangebots der angegliederten Stellen zu erarbeiten. Es gibt noch viel zu tun in der Bekämpfung von Rassismus in der Schweiz. Das Beratungsnetz wird auch in Zukunft einen wichtigen Teil dazu beitragen.

Diese beiden Artikel sind erstmals in Jahresbericht von humanrights.ch erschienen. Hier geht's zum ganzen Jahresbericht 2024!