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Die Debatte um ein strengeres Jugendstrafrecht im Kontext der Menschenrechte

22.07.2025

 

Das Schweizer Jugendstrafrecht hat sich historisch vom repressiven Strafrecht hin zu einem spezialisierten System entwickelt, das auf Erziehung und Integration ausgerichtet ist. Derzeit werden vermehrt Stimmen laut, die eine Verschärfung des Gesetzes fordern. Ab Juli 2025 sollen Jugendliche ab 16 Jahren, die wegen Mordes verurteilt wurden, verwahrt werden können; eine weitere Verschärfung ist im Parlament hängig. Offen bleibt jedoch, ob dieses Vorgehen die Sicherheit der Bevölkerung tatsächlich erhöht und mit den Menschenrechten vereinbar ist.

Ursprünglich wurden jugendliche Straftäter wie Erwachsene behandelt. Der Schwerpunkt lag dabei auf moralischer Erziehung, Disziplinierung und Arbeitspflicht. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Jugendliche strafrechtlich anders zu beurteilen sind als Erwachsene. In der Folge entstanden erste sogenannte Besserungsanstalten, die als Einrichtungen zur Disziplinierung und Umerziehung «verwahrloster» Jugendlicher dienten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Reformbewegungen, die ein eigenständiges Jugendstrafrecht forderten – mit dem Ziel, nicht primär zu bestrafen, sondern zu erziehen. 1916 begannen die Arbeiten an einem Jugendstrafgesetz, das innerhalb des Strafgesetzbuches einen eigenen Abschnitt erhalten sollte, aber erst 1942 in Kraft trat. Es erkannte die Beeinflussbarkeit Jugendlicher an und stellte erzieherische Massnahmen über Strafen: Schutz und Besserung statt Vergeltung. Im Vordergrund standen Erziehung, Förderung und Resozialisierung. Jugendstrafbehörden (z. B. Jugendanwält*innen, Jugendgerichte) mit spezieller Ausbildung wurden geschaffen. Der Fokus lag auf erzieherischen Massnahmen wie Betreuung, Heimeinweisung und Aufsicht; Freiheitsstrafen blieben die Ausnahme. Das Gesetz definierte die Altersgrenzen für das Jugendstrafrecht auf 7 bis 18 Jahre. Dieses Jugendstrafgesetz markierte einen Wendepunkt: Der Staat sah sich zunehmend als erzieherische Instanz, die straffällige Jugendliche fördern und reintegrieren wollte. Das Gesetz entwickelte sich nach Inkraftsetzung relativ stabil weiter. Der Fokus verlagerte sich zunehmend auf pädagogische und psychologische Erkenntnisse. Es kam der Ausbau von jugendpsychiatrischen Diensten, sozialpädagogischer Betreuung, Sozialarbeit im Strafvollzug. Immer häufiger wurden auf den einzelnen Jugendlichen zugeschnittene Erziehungsprogramme angewandt. Gleichzeitig entstanden Fachstellen für Jugendschutz und Jugendberatung, psychologische und soziale Betreuung gewannen an Bedeutung. Internationale Entwicklungen wie die Kinderrechtskonvention, die 1989 von der UNO-Generalversammlung angenommen wurde, beeinflussten schrittweise auch die Schweiz. 1993 wurde die Konvention auch von der Schweiz ratifiziert.

Am 20. Juni 2003 verabschiedete das Parlament ein neues, modernes Jugendstrafgesetz (JStG). Das Ziel war die Modernisierung und nationale Vereinheitlichung der kantonal teils unterschiedlich gehandhabten Jugendstrafpraxis. Seit 2007 ist also das Jugendstrafrecht in einem eigenen Gesetz – dem Jugendstrafgesetz (JStG) – geregelt. Es gilt für Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren und unterscheidet sich deutlich vom Erwachsenenstrafrecht. Im Mittelpunkt steht nicht die Strafe, sondern die Erziehung und Wiedereingliederung. Ziel ist es, mit delinquenten Jugendlichen zu arbeiten, um Rückfälle zu vermeiden. Die möglichen Sanktionen reichen von einem Verweis (offizielle Ermahnung) über persönliche Leistungen (z. B. gemeinnützige Arbeit) und Bussen (bis maximal CHF 2'000) bis hin zu Freiheitsentzug (maximal 1 Jahr, bei schweren Delikten bis zu 4 Jahre für 16- bis 18-Jährige). Anstelle oder zusätzlich zur Strafe können auch erzieherische oder therapeutische Massnahmen angeordnet werden – etwa Betreuung, Therapie oder Unterbringung in einem Heim bzw. in einem Massnahmenzentrum.

Mit den Menschenrechten vereinbar?

Im Grundsatz ist das Schweizer Jugendstrafrecht mit den Menschenrechten vereinbar – insbesondere mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der UNO-Kinderrechtskonvention (KRK). Dies deshalb, weil es auf Erziehung statt Bestrafung setzt, kindgerechte Verfahren garantiert, internationale Standards achtet sowie eine individuelle Fallprüfung und Verhältnismässigkeit verlangt. Auf dem Papier ist die Schweiz gut aufgestellt, in der Praxis jedoch bestehen beispielsweise bei der Umsetzung kindgerechter Verfahren noch Defizite.

Mehrere Studien und internationale Berichte zeigen, dass diese Rechte in der Praxis oft nur unvollständig umgesetzt werden: So verfügen beispielsweise nicht alle Kantone über konsequent spezialisiertes Fachpersonal, und Polizei sowie Justizpersonen sind teilweise nicht kindgerecht geschult. Zudem bestehen erhebliche Unterschiede bei der Dauer von Inhaftierungen, der Anwendung von Schutzmassnahmen und dem Zugang zur Verteidigung. Kinder werden mitunter nicht angemessen einbezogen, obwohl ihnen laut Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) ein Recht auf Anhörung zusteht.

Die Rufe nach Verschärfung

Auf der einen Seite nähren nicht abreissende Medienberichte den Eindruck, dass die Häufigkeit krimineller Handlungen von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren stark zugenommen habe. Gewalterfahrungen sollen mittlerweile ein normaler Bestandteil ihres Alltags sein. Auf der anderen Seite fördern Schlagzeilen über spektakuläre Kriminalfälle in der Öffentlichkeit die Vorstellung, dass nicht nur das Ausmass, sondern auch die Intensität von Jugendgewalt massiv gestiegen sei.

Trotz einer umstrittenen Faktenlage scheint bei vielen Menschen das Gefühl vorzuherrschen, Jugendliche in der Schweiz würden zunehmend krimineller und gewalttätiger – eine Wahrnehmung, die auch die Meinungen über den angemessenen Umgang mit diesem Problem beeinflusst. So wurde in einer kürzlich bei SRF ausgestrahlten Sendung zum Jugendstrafrecht mit dem Titel «Braucht es härtere Strafen für jugendliche Täter?» (SRF, 22.05.2025) eine – wenn auch nicht repräsentative – Publikumsumfrage durchgeführt. Diese zeigte, dass viele Anrufer*innen eine Verschärfung der Sanktionen für jugendliche Straftäter fordern. Es bleibt jedoch schwer abzuschätzen, inwieweit die mediale Aufbereitung des Themas – etwa im Kontext aktueller Motionen der SVP und FDP im Parlament, die ein härteres Vorgehen gegenüber jugendlichen Straftäter*innen verlangen – zu dieser öffentlichen Wahrnehmung beiträgt.

Reaktion auf die leicht erhöhten Zahlen unangemessen

Dabei muss man wissen, dass in der Schweiz etwa 98 % der Jugendlichen nie straffällig werden. Lediglich rund 2 % (SRF, 01.06.2023) geraten mit dem Strafgesetz in Konflikt. Obwohl die Jugendkriminalität seit 2015 tendenziell zugenommen hat und die Täter*innen teilweise jünger werden, bleibt sie insgesamt ein Randphänomen. Die meisten Jugendlichen, die straffällig werden, begehen einmalige und meist leichte Delikte wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Nur eine kleine Gruppe ist für einen grossen Teil der Straftaten verantwortlich.

«Aus Sicht der Jugendarbeit ist die Reaktion auf die leicht erhöhten Zahlen unangemessen», schreibt Marco Bezjak, Jugendarbeiter und Experte für Offene Jugendarbeit in fünf Kantonen, in «Unser Recht», der Schweizer Denkfabrik für Recht und Politik. Auch Prof. Dr. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW, ordnet die jüngsten Zahlen an einer Tagung anders ein als die Presse: Für seine Einschätzung zieht er die Verurteiltenzahlen herbei, die ein verlässlicheres Bild als die vielzitierten Beschuldigtenzahlen der Kriminalstatistik abgeben. Zwar hätten sich auch diese Zahlen leicht erhöht, sagt Baier. Die Erhöhung sei jedoch vor allem dann auffällig, wenn man als Referenzjahr 2015 wähle. 2010 seien die Zahlen jedoch doppelt so hoch gewesen. Betrachte man die Zahlen ausserdem im Kontext der Bevölkerungszunahme, müsse man von einer Stabilisierung sprechen.

Nichtsdestotrotz werden im Parlament Verschärfungen gefordert: So können ab Juli 2025 Personen, die zwischen ihrem 16. und 18. Lebensjahr einen Mord begangen haben, unter bestimmten Voraussetzungen verwahrt werden. Die Verwahrung erfolgt jedoch erst nach Erreichen der Volljährigkeit und nur bei ernsthafter Rückfallgefahr. Diese Massnahmen betreffen nur wenige Fälle, von 2010 bis 2024 wurden lediglich zwölf Jugendliche wegen Mordes verurteilt. Die bedingte Entlassung aus der Verwahrung wird nur noch alle drei Jahre von Amtes wegen überprüft.

Verwahrung ab 16: vereinbar mit den Menschenrechten?

Ob die geplante Gesetzesänderung, die eine Verwahrung von Jugendlichen ab 16 Jahren bei Mord ermöglicht, den Menschenrechten widerspricht, hängt von verschiedenen Faktoren ab – insbesondere davon, wie sie umgesetzt wird und ob sie verhältnismässig ist. 

Die relevante Menschenrechtsgrundlagen sind die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) – insbesondere:

  • Art. 3 EMRK: Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung.
  • Art. 5 EMRK: Recht auf Freiheit und Sicherheit.
  • Art. 6 EMRK: Recht auf ein faires Verfahren.
  • Art. 14 EMRK: Diskriminierungsverbot.

Und die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) – insbesondere:

  • Art. 37 KRK: Keine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe; Freiheitsentzug nur als letztes Mittel und so kurz wie möglich.
  • Art. 40 KRK: Berücksichtigung der Erziehung, Würde und Förderung der Resozialisierung.

Die Verwahrung ist eine sehr einschneidende Massnahme – bei Jugendlichen noch mehr als bei Erwachsenen. Vorab muss sie verhältnismässig sein. Menschenrechtlich problematisch wäre es, wenn eine Verwahrung nicht als letztes Mittel angewandt wird oder pauschal erfolgt. Ein menschenrechtskonformer Umgang erfordert, dass jeder Einzelfall individuell und auf Basis von Gutachten geprüft wird. Eine automatische Verwahrung ohne Prüfung wäre menschenrechtswidrig.

Die Gesetzesänderung widerspricht den Menschenrechten also nicht zwangsläufig, könnte aber dann problematisch sein, wenn sie ohne Rücksicht auf das Alter, die Entwicklung und die Resozialisierungsmöglichkeiten der Jugendlichen zu pauschal oder zu hart angewendet wird. Eine sorgfältige Einzelfallprüfung und der Fokus auf Erziehung sind entscheidend, um menschenrechtskonform zu bleiben.

Härtere Strafen um jeden Preis – ein Verstoss gegen die Menschenrechte?

Die Zürcher SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel hat im Parlament die Motion «Verschärfung des Jugendstrafrechtes» (Nr. 24.3115) eingereicht, mit der sie eine weitere Verschärfung des Jugendstrafrechts fordert. Ziel der Vorlage ist es, bei schweren Verbrechen zwingend unbedingte Strafen zu verhängen.

Konkret schlägt Fehr Düsel vor, dass Jugendliche, die sich während einer angeordneten Massnahme nicht kooperativ zeigen, ihre Strafe im regulären Strafvollzug – also im Gefängnis – verbüssen müssen. Zudem soll die maximale Dauer des Freiheitsentzugs für 16- bis 17-Jährige von derzeit vier auf sechs Jahre erhöht werden. Auch bei 15-jährigen Straftätern fordert die Motion eine Anpassung: Der maximale Freiheitsentzug soll von einem auf zwei Jahre verlängert werden.
Für besonders schwere Delikte plädiert die SVP-Politikerin zudem für eine Beurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht – ein klarer Bruch mit dem bisherigen Grundsatz des Jugendstrafrechts, das in erster Linie auf Erziehung und Reintegration ausgerichtet ist.

Die Motion enthält mehrere Elemente, die menschenrechtlich kritisch zu bewerten sind. Besonders problematisch sind:

  • die starre Anwendung unbedingter Strafen,
  • der Freiheitsentzug im regulären Gefängnis bei Jugendlichen
  • sowie die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts.

Damit droht die Motion in ihrer aktuellen Form gegen internationale Menschenrechtsverpflichtungen der Schweiz zu verstossen, insbesondere gegen die UNO-Kinderrechtskonvention. Eine Umsetzung müsste sehr sorgfältig ausgestaltet werden, um verfassungskonform und menschenrechtskonform zu bleiben.
Der Nationalrat hat diese Motion mit 95 zu 94 Stimmen angenommen. Sie wurde zur weiteren Beratung an die zuständige Kommission des Ständerats überwiesen.

Schockgetriebene Lösungen

Zahlreiche Fachleute aus den Disziplinen, die eng mit Jugendlichen arbeiten (offene Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Pädagog*innen, Strafrechtler*innen) sind einhellig der Meinung, dass Verschärfungen des Jugendstrafrechtes nicht zielführend sind: Sie erhöhen weder die öffentliche Sicherheit, noch senken sie die Kriminalstatistik.
 
Gian Ege beleuchtet das Thema vertieft. Er ist Assistenzprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich. «Schockgetriebene Gesetzgebung führt kaum zu lösungsorientierten Regelungen», schreibt er auf der Plattform «Unser Recht». Die geforderten Regelungen liessen sich nicht umsetzen, und es würden Normen vorgeschlagen, die das grundlegende Problem nicht beheben. Denn: «Auch wenn die Verwahrung jugendlicher Mörder eingeführt wurde, wird es weiterhin zu schweren Straftaten kommen – begangen von Personen, die aus jugendstrafrechtlichen Strafen oder Schutzmassnahmen entlassen wurden.»
Die gleiche Problematik sieht er bei der Motion Fehr Düsel (SVP/ZH): «Gerade für extreme Einzeldelikte wird auch das keine strafrechtliche Reaktion ermöglichen, die im Auge eines Teils der Bevölkerung der Tat gerecht wird», schreibt er weiter. Dies sei allerdings auch nicht das Ziel des Jugendstrafrechts. 

Welche Ansätze versprechen mehr Erfolg? 

Von 2011 bis 2015 führte der Bund ein nationales Programm gegen Jugendgewalt durch. Es sollte zur gesunden und positiven Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und ihrem Umfeld beitragen. Das Programm «Jugend und Gewalt» war erfolgreich: «Gewalttätiges Verhalten konnte reduziert werden», heisst es im Schlussbericht. Vielleicht wäre es an der Zeit, ein neues Programm aufzulegen – anstatt Gesetze zu verschärfen.

Für Marco Bezjak ist klar: «Jugendliche brauchen flächendeckend erwachsene Bezugspersonen, die sich konsequent und ernsthaft für sie als Individuen interessieren.» Es gehe darum, junge Menschen in einer prägenden Lebensphase ernst zu nehmen und ihnen zu zeigen, dass sie für die Gesellschaft von Bedeutung sind. Eine professionell geführte und personell gut ausgestattete Offene Jugendarbeit könne dazu beitragen, der zufälligen Dynamik entgegenzuwirken, die darüber entscheidet, ob und wo Jugendliche in radikale Strukturen abrutschen. An diesem Ansatz führt kein Weg vorbei.

Dieser Text wurde von Barbara Heuberger verfasst. Sie ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Kinderrechte und schreibt regelmässig Texte für humanrights.ch.