29.07.2025
Seit über 30 Jahren lebt T.O. in der Schweiz – integriert, engagiert, in der Gemeinde verwurzelt. Dennoch wurde ihm die Einbürgerung verwehrt. Der Grund: ein einmaliger Selbstunfall. Nun hat das Bundesgericht in einem Grundsatzurteil klargestellt: Die Integrationsleistung eines Menschen darf nicht durch starre Regeln entwertet werden. Behörden müssen individuelle Umstände umfassend würdigen.

Ein Autoselbstunfall mit einschneidenden Folgen
T.O. kam 1994 in die Schweiz und betreibt seither als selbstständiger Unternehmer die Pizzeria «La Piazza» in Arth-Goldau (SZ). Sein Lokal ist weit mehr als ein Restaurant – es ist Treffpunkt, Vereinslokal und Sponsor für lokale Sportvereine. T.O. engagiert sich im Skiclub, unterstützt soziale Projekte und ist gut in die Gemeinde eingebunden.
Im Juni 2020 verursachte er auf der Rückfahrt aus dem Berner Oberland im Kanton Uri einen Selbstunfall mit seinem Auto. Wegen eines Sekundenschlafs kollidierte er mit einer Strassenlaterne. Seine Frau und er blieben unverletzt, das Auto erlitt Totalschaden. Die Folge: Eine Verurteilung wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand – eingetragen im Strafregister.
Dieser Strafregistereintrag hatte drastische Folgen: Das laufende Einbürgerungsverfahren von T.O. wurde sistiert. Trotz langjährigem Aufenthalt und wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher Integration verweigerte der Kanton Schwyz ihm die Einbürgerung. Begründung: T.O. erfülle die Anforderungen an einen «tadellosen Leumund» gemäss kantonalem Bürgerrechtsgesetz (§ 4 Abs. 2 lit. c KBüG) nicht.
Tatsächlich verlangt das Bundesrecht für die Einbürgerungsbewilligung unter anderem eine erfolgreiche Integration (Art. 11 BüG) und das Beachten der öffentlichen Ordnung (Art. 12 lit. a BüG). Ergänzend sieht das Schwyzer Gesetz vor, dass laufende Strafverfahren oder Strafregistereinträge automatisch zur Ablehnung führen können (§ 7 Abs. 2 lit. b KBüG). Doch diese Praxis wirft Fragen auf.
Integration bedeutet mehr als Fehlerfreiheit
Darf ein einzelner fahrlässiger Verstoss gegen das Verkehrsreglement bei ansonsten geordneter Lebensführung pauschal als Zeichen mangelnder Integration gewertet werden? Insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass T.O. zahlreiche Integrationskriterien wie stabile finanzielle Verhältnisse, beruflicher Erfolg, gesellschaftliches Engagement, und enge soziale Vernetzung erfüllt?
Die Anforderungen an die Einbürgerung, insbesondere im Hinblick auf die Integrationsleistung, sind nach Massgabe der Fairness und Verhältnismässigkeit zu gestalten. Sie dürfen keine diskriminierende Wirkung entfalten und sind in ihrer Strenge angemessen zu begrenzen. Eine umfassende und sorgfältige Einzelfallprüfung ist dabei unerlässlich, wobei sämtliche relevanten Umstände des Einzelfalles ausgewogen zu berücksichtigen sind. Einzelne Kriterien dürfen nur dann isoliert bewertet werden, wenn ihnen ein besonderes Gewicht zukommt – etwa im Falle schwerwiegender Straftaten. Geringfügige Defizite können durch besondere Stärken in anderen Bereichen kompensiert werden (§ 10 Abs. 2 KBüV).
Verwaltungs- und Bundesgericht stärken Rechtsstaatlichkeit
Im März 2022 entschied das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz zugunsten von T.O. Es anerkannte, dass der einmalige Verkehrsfehler keine objektive Gefährdung darstellt und nicht geeignet ist, eine sonst erfolgreiche Integration infrage zu stellen. Trotzdem wurde T.O. eine zweijährige Wartefrist bis zur Weiterführung des Einbürgerungsverfahrens auferlegt – ohne nachvollziehbare Begründung.
Am 21. Mai 2025 korrigierte das Bundesgericht diesen Entscheid in einem wegweisenden Urteil. Es hob die Sistierung auf und stellte klar: Strafrechtliche Verurteilungen dürfen nicht automatisch zur Ablehnung eines Einbürgerungsgesuchs führen. Vielmehr sei unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK und Art. 12 BüG eine umfassende Einzelfallprüfung erforderlich. Das Bundesgericht wies die Sache an das SEM zurück, da sich dieses in seinem Entscheid nicht zu den weiteren Integrationskriterien geäussert hatte.
Das Bundesgericht betonte: Behörden haben kein Ermessen, formelhafte Kriterien schematisch anzuwenden. Stattdessen müssen sie den gesamten Integrationsverlauf und die Lebensumstände berücksichtigen.
Symbolkraft über den Einzelfall hinaus
Der Fall T.O. ist mehr als ein Einzelschicksal. Er wirft ein Schlaglicht auf eine fragwürdige Praxis, die Einbürgerung anhand von «Killerkriterien» verweigert – ungeachtet persönlicher Entwicklung, sozialer Verwurzelung und jahrelanger Mitgestaltung des Gemeinwesens.
Der Verein «Einbürgerungsgeschichten.ch» spricht von einem Paradigmenwechsel. Durch konsequente Rechtsdurchsetzung sei nicht nur ein individuelles Recht durchgesetzt, sondern eine notwendige Kurskorrektur angestossen worden. Künftig müssen Behörden das Gesamtbild betrachten – nicht nur das Strafregister.
Einbürgerung als Anerkennung von Zugehörigkeit
Der Weg von T.O. zeigt: Einbürgerung ist kein Belohnungssystem für Fehlerfreiheit, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Integration ist mehr als Regelkonformität – sie bedeutet aktives Teilnehmen, Verstehen, Mitgestalten. Wer über Jahrzehnte Teil der Gesellschaft ist, verdient eine differenzierte Beurteilung – nicht die kalte Ablehnung durch schematische Auslegung.
Das Bundesgericht hat daran erinnert, dass Menschen keine Formulare sind. Sie verdienen Würdigung – nicht wegen, sondern trotz gelegentlicher Fehler.
Quellen
- einbürgerungsgeschichten.ch
- Ein Türke wird nicht eingebürgert, weil er am Steuer eingeschlafen ist. Zu Recht?, Tamedia Schweiz, 21.05 2025