24.09.2025
Das Bundesgericht ändert seine Rechtsprechung zum Anspruch von Invalidenrente bei Adipositas. Eine Adipositas kann neu zu einer IV-Rente berechtigen, auch wenn sie grundsätzlich behandelbar ist und keine körperlichen oder geistigen Schäden verursacht.

In seinem Urteil vom 22. Oktober 2024 änderte das Bundesgericht seine Rechtsprechung zum Anspruch auf IV-Rente bei Adipositas. Früher galt schweres Übergewicht als überwindbar, weshalb der Antrag auf eine IV-Rente grundsätzlich abgelehnt wurde. Nun änderte das Bundesgericht seine Rechtsprechung dahingehend, dass Adipositas als Invalidität geltend gemacht werden kann, welche zu einer Rentenleistung berechtigt. Die Beschwerdeführerin hatte im Mai 2017 die Zusprache einer Invalidenrente beantragt, woraufhin die IV-Stelle auf die Anmeldung eintrat und zwei polydisziplinäre Gutachten in Auftrag gab. Die IV-Stelle verfügte im Mai 2023 die Ablehnung des Rentenanspruches mit der Begründung, dass es sich bei der Adipositas um kein invalidisierendes Leiden handeln würde. Diese Begründung stützte sich auf die damals geltende Rechtsprechung des Bundesgerichts.
Ab sofort berechtigt Adipositas zu einer IV-Rente
Das Bundesgericht setzt sich im vorliegenden Entscheid intensiv mit seiner früheren Rechtsprechung auseinander. Diese stützte sich auf die Annahme, dass eine Adipositas grundsätzlich nicht zu einer IV-Rente berechtigt, weil sie nicht körperliche Schäden verursacht und nicht die Folgen von solchen Schäden ist. Die Adipositas wurde hingegen unter Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalls als invalidisierend betrachtet, sofern die genannten Voraussetzungen nicht vorlagen. Dies war dann der Fall, wenn die Adipositas weder durch geeignete Behandlung noch durch zumutbare Gewichtsabnahme auf ein Mass reduziert werden konnte, bei welchem das Übergewicht und allfällige Folgeschäden keine voraussichtlich bleibende oder länger andauernde Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit zur Folge hatten.
Die Beschwerdeführerin machte denn auch geltend, dass die Adipositas bei ihr zur faktischen Immobilität geführt hätte. Genau wie bei den Abhängigkeitssyndrom änderte die Annahme der Vermeid- oder Überwindbarkeit oder der Hinweis auf das Selbstverschulden nichts an der Tatsache, dass sie seit Jahren erwerbsunfähig wäre. Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass die Adipositas als invalidisierend zu betrachten sei, weil sie durch keine zumutbaren Massnahmen in einem bedeutenden Mass verbessert werden könnte.
Das Bundesgericht änderte im vorliegenden Entscheid die Rechtsprechung dahingehend, als die grundsätzliche Behandelbarkeit einer Adipositaserkrankung einem Rentenanspruch nicht mehr per se entgegensteht, gestützt auf Art. 8 Abs. 1 BV, Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 6-8 ATSG und Art. 28 Abs. 1 IVG. Die IV-Stellen müssen die versicherte Person jedoch weiterhin auf ihre Schadenminderungspflicht nach Art. 7 IVG aufmerksam machen.
Orientierung an Sonderrechtsprechung zu Suchterkrankungen
Das Bundesgericht befasste sich im vorliegenden Entscheid zuerst mit den polydisziplinären Gutachten der IV-Stelle, welche feststellten, dass bei der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung aller Gesundheitsbeeinträchtigungen in der angestammten sowie in angepassten Tätigkeiten eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 80% bestünde. Die Gutachter erachteten eine Arbeitsfähigkeit von 70-80% jedoch als zumutbar, würde bei der Beurteilung die Adipositas und deren Begleiterscheinungen nicht beachtet werden. Die Vorinstanz bezog sich denn auch auf die alte Rechtsprechung, wonach weder Adipositas noch eine Dekonditionierung grundsätzlich zur Rentenleistung berechtigen würde. Damit folgte die Vorinstanz der Argumentation in den Gutachten, wonach weder eine rheumatologische noch eine psychiatrische Diagnose Ursache der Adipositas wäre.
Diese bisherige Rechtsprechung, dass Adipositas grundsätzlich keine IV-Rente begründet, geht auf ein Urteil von Oktober 1983 zurück. Das Bundesgericht entschied damals, dass Störungen in Bezug auf Alkoholismus, Medikamentenmissbrauch und Drogensucht für sich keine Invalidität begründeten. Diese Störungen würden aber relevant, wenn sie Folge eines geistigen Gesundheitsschadens mit Krankheitswert wären bzw. eine Krankheit oder einen Unfall bewirkten, deren körperlicher oder geistiger Folgeschäden die Erwerbstätigkeit beeinträchtigen. Diese Sonderrechtsprechung für Suchterkrankungen wurde nachfolgend auch auf die Adipositas angewendet.
Anpassung durch Aufgabe der Sonderrechtsprechung
Wendepunkt für die Beurteilung der Adipositas ist die Aufgabe Sonderrechtsprechung zu Suchterkrankungen, wonach Abhängigkeitssyndrome respektive Substanzkonsumstörungen von vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können und ihre Auswirkungen folglich keine nähere Abklärung bedürfen. Das Bundesgericht definierte in neueren Entscheiden, dass jeweils zu ermitteln sei, ob und gegebenenfalls, inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirken würde. Dabei müsse insbesondere der Schweregrad der Abhängigkeit beachtet werden. Eine Schadenminderungspflicht bestehe hingegen auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms. Eine Verweigerung der Leistungen der IV sei möglich, sofern die versicherte Person der ihr auferlegten Schadenminderungspflicht nicht nachkommen würde. Es gäbe keine Grundlage, aufgrund welcher ein versicherter Gesundheitsschaden von vorherein zu verneinen sei und der mit einer Selbstverschuldung der versicherten Person begründet werden könne.
Nachdem die Sonderrechtsprechung zu Suchterkrankungen aufgehoben wurde, war das Bundesgericht anlässlich des vorliegenden Enscheids der Ansicht, dass eine Sonderrechtsprechung betreffend Adipositas nicht mehr aufrechterhalten werden könnte. Ein allfälliges Selbstverschulden könnte nicht dazu führen, dass auf eine Prüfung der Einschränkungen der versicherten Person verzichtet würde. Eine grundsätzliche Ablehnung von IV-Leistungen bei Adiposits würde auch dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 8 Abs. 1 BV nicht standhalten. Das Bundesgericht hielt im vorliegenden Entscheid fest, dass es für die Invalidenversicherung nicht auf die Diagnose ankommen würde, sondern einzig darauf, welche Auswirkungen eine Erkrankung auf die Erwerbsfähigkeit hätte.
Zusammenfassend ändert das Bundesgericht die Rechtsprechung zur Adipositas dahingehend, dass die grundsätzliche Behandelbarkeit von Adipositas einem Rentenanspruch nicht entgegensteht.