13.05.2025
Beat Meier ist 79 Jahre alt und seit 32.5 Jahren ununterbrochen in Haft. Ursprünglich wurde er zu einer Strafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Weil er aber die ihm vorgeworfenen Taten bis heute bestreitet und damit nicht geständig war, wurde er verwahrt. Denn wer nicht gesteht, gilt als untherapierbar. Eine Einschätzung, die zu einer Verwahrung führen kann, die unbegrenzt verlängert werden darf. Seit drei Jahrzehnten schreibt Meier an seiner Lebensgeschichte, die als Trilogie erscheinen soll. Zwei Bände sind bereits veröffentlicht. Über den neuesten, der seine Kindheit thematisiert, führt humanrights.ch ein Interview mit ihm.

Herr Meier, herzlichen Dank, dass Sie uns erneut mit in Ihre Vergangenheit nehmen und Ihre Kindheit mit uns teilen. Wie würden Sie Ihre Kindheit in wenigen Sätzen für jene zusammenfassen, die Ihr Buch noch nicht gelesen haben?
Das Leben eines, vor allem in jungen Jahren, übermassig von Angst geprägten Kindes. Eines Kindes, das damit umgehen musste, dass es von jenen, welche für sein Wohlergehen verantwortlich waren, sei dies als Pflegeltern, an Verdingplätzen oder in Kinderheimen also von Menschen, die durch Behörden oder Institutionen für dessen Wohlbefinden verantwortlich beauftragt waren; dass diese Menschen nicht nur seine ihnen geschenkte Liebe verschmähten, sondern es mehrheitlich eher physisch und psychisch fürchterlich quälten. Das Leben eines Kindes, welches dagegen ihm fremde Menschen meistens als ihm gegenüber liebevoll und fürsorglich erlebte.
Das Leben eines Kindes, das, während seiner Jugend und fürwahr im weiteren Leben, gar nicht anders konnte, als fast allen «wildfremden» Menschen, denen es begegnete, nachgerade blindes Vertrauen, bis hin zu aus vollem Herzen seine Liebe schenken zu wollen.
Welche Erlebnisse haben Ihre Kindheit am stärksten geprägt?
Das Auftauchen meines leiblichen Vaters, als ich ca. 4 oder 5 Jahre war, an den ich damals keine Erinnerung hatte, von dem ich fortan wahrhaftige Vaterliebe erfuhr. Und dass ihm zunächst nur an einzelnen Wochenenden erlaubt war, mich zu besuchen und mit mir auf dem Kindersitz seines Velosolex Ausflüge in die Natur zu unternehmen. Und dass ihm während so vieler Jahre meiner weiteren Kindheit und Jugend das Zusammenleben mit mir durch das damalige Fürsorgeamt nicht erlaubt war.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen bestimmten Kindheitserfahrungen und dem späteren Verlauf Ihres Lebens?
Allerdings (siehe Antworten zu Frage 1 und mein erstes Buch «Zu Tode verwahrt»). Hinzukommt, dass mir mittels grausamer Prügel in Kinderheimen und teils als Verdingbube eingeschärft wurde, dass ich möglichst hart und ausdauernd zu arbeiten hätte, woraus ich lernte, dass ich nur so irgendwelchen Wert darstellte, was lange Zeit in meinem Leben mein Selbstwertgefühl ziemlich unterdrückte.
Was hat Sie dazu bewogen, bereits zu Beginn Ihrer Haftzeit (1994–1996) Ihre Kindheitserinnerungen aufzuschreiben?
Die Nachricht im Untersuchungsgefängnis «La Santé» in Paris über den Tod meines geliebten Vaters. Und dass er im Alter von nicht ganz 80 Jahren einsam in seiner kleinen Mansardenwohnung in Alpnachstadt OW an schwerer Lungenentzündung erkrankt, kurz nachdem er von Nachbarn aufgefunden wurde, im Spital am 14. Februar 1994 verstarb. Daraufhin schrieb ich auf mehr als 1'200 Seiten meine ganze Kindheit nieder. Die ich im Laufe der Zeit kürzte und zwecks Veröffentlichung in zwei Teile trennte. Ich leide heute noch darunter, dass es mir so lange unmöglich war, bei ihm zu sein. Früher, als er unter Altersbeschwerden zu leiden begann, konnte ich immer wieder an Wochenenden zu ihm schauen. Nachdem seine Haushälterin verstarb und bis ich meine künftige Frau kennen lernte, hatte ich lange Zeit bei und mit ihm zusammengelebt. Auch als Familie waren wir jeweils an Wochenenden zu ihm gefahren, um den Haushalt in Ordnung zu bringen, seine Wäsche zu waschen etc.
Gemeinsam mit Rechtsanwalt Bernard Rambert haben Sie sich gegen die Arbeitspflicht für Gefangene im Pensionsalter gewehrt und sind bis vor den EGMR gezogen. Woher kommt dieser Kampfgeist, der laut Ihrem Buch schon in Ihrer Kindheit erkennbar war?
Leider gibt es in der Schweiz kein Verfassungsgericht. Vor Gericht verloren wir, weil alle Verwahrten/ Gefangenen quasi «in eine Schublade gesteckt» werden. Es wurde von der Anstalt damit begründet, dass Gefangene ohne strikte Strukturen nicht sich überlassen werden könnten. Dies gilt aber bei Weitem nicht für alle. Sehr viele beschäftigen sich z.B. in allgemeinnützlicher Weise oder eben auch als Schriftsteller… Und: die Pflichtarbeit ist meist eintönig, langweilig und oft nicht besonders nützlich oder gar wertvoll.
Sie sind heute 79 Jahre alt. Wie unterscheidet sich das Älterwerden in Haft von dem Leben ausserhalb der Gefängnismauern?
Ich fürchte, die Antwort muss ich als Frage formulieren. Wie viele alte Menschen «draussen» leben 23 Stunden in Betonräumen und Fluren oder in einer Betonzelle und haben pro Tag eine Stunde «Ausgang» in einen nicht sehr grossen Aussenhof? Kurzantwort: Null.
Gibt es etwas, das Sie der Welt ausserhalb des Gefängnisses mitgeben möchten?
An längst nicht alle, aber vielleicht für zu Viele: Bitte mehr offene Augen für Nachbarn und Mitmenschen und weniger blindes Vertrauen in unsere Justiz, denn da werden, besonders bei den Vollzugsbehörden, systematisch eigene Gesetze missachtet.
Beat M. (2024). Eine (Schweizer) Kindheit … unter vielen ähnlichen. Autobiographischer Roman mit Skizzen und Zeichnungen des Autors. Fischer Verlag.
Beat M. (2023). Zu Tode verwahrt. Wer nicht gesteht, kommt nie mehr raus. Fischer Verlag.