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Eingeschränkter Zugang zu Asylprotokollen verletzt das Recht auf ein faires Verfahren

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verweigert Rechtsvertretungen von Asylsuchenden im erweiterten Verfahren den rechtzeitigen Zugang zu den Protokollen der Erstanhörung. Ein neues Gutachten zeigt: Diese Praxis verletzt das Recht auf ein faires Verfahren und untergräbt die Ziele der Asylreform.

Dieser Artikel ist eine von humanrights.ch erstellte Zusammenfassung eines zuvor in der Zeitschrift ASYL publizierten Abhandlung (siehe Hinweis unten).

Eine Praxis, die Fairness gefährdet

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verweigert den Rechtsvertretungen von Asylsuchenden im erweiterten Verfahren seit Jahren den vollständigen und rechtzeitigen Zugang zu den Protokollen der Erstanhörungen im Asylverfahren. Diese Praxis stützt sich auf Artikel 27 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVG) und wird mit dem Ziel begründet, Missbrauch zu verhindern und die Glaubwürdigkeitsprüfung der Gesuchsteller*innen zu sichern.
Menschenrechtsorganisationen und Fachjurist*innen halten diese Argumentation für unhaltbar. Der eingeschränkte Zugang behindere eine wirksame Rechtsvertretung und verletze zentrale verfassungs- und menschenrechtliche Garantien.

Widerspruch zum Ziel der Asylreform

Mit der Asylgesetzrevision von 2019 wurde eine kostenlose und qualifizierte Rechtsvertretung für alle Asylsuchenden eingeführt. Sie sollte sicherstellen, dass Verfahren nicht nur effizient, sondern auch fair verlaufen.
Tatsächlich führt die aktuelle Praxis zu einem strukturellen Ungleichgewicht: Die Rechtsvertreter*innen im erweiterten Verfahren erhalten häufig erst kurz vor der zweiten Anhörung Einblick in das Protokoll der Erstbefragung – teilweise nur wenige Stunden vorher. Eine seriöse Vorbereitung auf die Anhörung ist so kaum möglich. Das untergräbt das Prinzip der Waffengleichheit und konterkariert die Ziele der Asylreform.

Fragwürdige Rechtsgrundlage

Das SEM stützt seine Praxis auf Art. 27 Abs. 1 lit. c VwVG, wonach Akteneinsicht verweigert werden kann, wenn das Interesse einer laufenden Untersuchung dies erfordert. Diese Bestimmung stammt jedoch aus den 1960er Jahren und wurde nie an die heutigen Anforderungen des Asylverfahrens angepasst.
Nach Art. 29 BV haben alle Personen Anspruch auf rechtliches Gehör; Einschränkungen sind nur unter den Bedingungen von Art. 36 BV zulässig: Sie müssen auf einer klaren gesetzlichen Grundlage beruhen, einem öffentlichen Interesse dienen und verhältnismässig sein.
Das von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) in Auftrag gegebene Rechtsgutachten von Prof. Peter Uebersax (Universität Basel) kommt zu einem klaren Schluss:

  • Art. 27 VwVG bietet keine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine pauschale Verweigerung des Protokollzugangs.
  • Das vom SEM geltend gemachte öffentliche Interesse an der Missbrauchsbekämpfung beruht auf hypothetischen Annahmen und ist nicht belegt.
  • Die Massnahme ist unverhältnismässig, da mildere und zugleich wirksamere Alternativen bestehen.

Darüber hinaus verstösst die Praxis gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere gegen die Artikel 6 und 13, welche die Verfahrensgarantien und das Recht auf wirksame Beschwerde schützen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrfach betont, dass Eingriffe in Verfahrensrechte nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig sind und einer strengen Verhältnismässigkeitsprüfung standhalten müssen.

Folgen für Fairness und Rechtsstaatlichkeit

Die verweigerte Akteneinsicht erschwert die sorgfältige Sachverhaltsaufklärung und führt in der Praxis zu Fehlentscheiden, die erst im Beschwerdeverfahren korrigiert werden können. Damit entstehen zusätzliche Belastungen für Asylsuchende wie auch für die Justiz.
Nach Auffassung der Autorinnen des Zeitschriftenartikels behindert die Praxis des SEM die sorgfältige Mandatsausübung der Rechtsvertretung und verletzt das Recht der Asylsuchenden auf Anhörung im Sinne von Art. 29 BV. Das Vorgehen stehe im Widerspruch zu den Zielen der Asylreform und zu einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren.

Forderung nach transparenter Akteneinsicht

Für ein faires Verfahren fordern die Autorinnen, dass das SEM den Rechtsvertretungen spätestens zehn Tage vor der ergänzenden Anhörung Zugang zu den vollständigen Protokollen gewährt – wie es das Gutachten von Prof. Uebersax empfiehlt.
Nur durch rechtzeitige Einsicht können Anwält*innen ihre Mandant*innen wirksam vertreten und ihrer Mitverantwortung für die Klärung des Sachverhalts gerecht werden.
Ein transparenter, gleichberechtigter Zugang zu den Asylakten ist keine Detailfrage, sondern ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats.

Originalartikel:
Marie Dustin Khammas, Caroline Jankech, Gabriella Tau (Bureau de consultation juridique Romandie (BCJ) de Caritas Suisse). La restriction d’accès au procès-verbal comme entrave à une procédure efficace et équitable, ASYL 2/2025

Mit freundlicher Genehmigung der ASYL-Redaktion, Hrsg. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH). Die fachjuristische Zeitschrift ASYL kann auf www.asyl.recht.ch abonniert werden.