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Wie überprüft der Europarat die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte?

13.06.2022

Jahr für Jahr erlässt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weit über 1‘000 Urteile zu Gunsten von beschwerdeführenden Personen, welche in einem der 46 Mitgliedstaaten des Europarats Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Diese Staaten haben sich mit dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vertraglich verpflichtet, die Menschenrechte zu wahren,die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu befolgen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu entschädigen oder die nationale Rechtsprechung so anzupassen, dass zukünftige Verletzungen abgewendet werden können.

Doch wie überprüft der Europarat die Einhaltung dieser Verpflichtung? Welche Schwierigkeiten stellen sich bei der Umsetzung von EGMR-Entscheiden in den Mitgliedstaaten?

Zuständigkeit

Die Überwachung des Vollzugs der Urteile ist dem Ministerkomitee des Europarates übertragen. Das Ministerkomitee ist das höchste Organ des Europarates und setzt sich formell aus den Aussenministern*innen aller 46 Mitgliedstaaten des Europarats zusammen. In dieser Zusammensetzung tritt es jedoch nur einmal jährlich an der sogenannten Ministerkonferenz zusammen.

Das für die Überwachung der Umsetzung von EGMR-Urteilen zuständige Gremium (auch «Ministerkomitee» genannt) besteht aus delegierten Experten*innen der ständigen Vertretungen beim Europarat in Strassburg und trifft sich mindestens viermal im Jahr, um der gemeinsamen Verantwortung der Mitgliedstaaten zur Aufsicht über die Umsetzung der EGMR-Urteile nachzukommen.

Was beinhaltet die Umsetzung eines EGMR-Urteils?

Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem rechtskräftigen Urteil eine Menschenrechtsverletzung festgestellt hat, so werden dem betroffenen Staat bestimmte Massnahmen auferlegt, zu deren Umsetzung er vertraglich verpflichtet ist.

Dabei handelt es sich zum einen um die Pflicht des betroffenen Staates, die beschwerdeführende Partei entsprechend den Weisungen des EGMR angemessen zu entschädigen, um den durch die Menschenrechtsverletzung entstandenen Schaden inklusive der damit einhergehenden Kosten auszugleichen. Weiter kann das EGMR-Urteil den Auftrag enthalten, das zuvor auf nationaler Ebene ergangene Urteil zu annullieren und das Verfahren neu aufzurollen, oder andere Massnahmen zur Beseitigung der Folgen der erlittenen Menschenrechtsverletzung zu ergreifen. In der Schweiz war die Revision eines Bundesgerichtsurteils aufgrund einer Beschwerde in Strassburg lange Zeit nur dann möglich, wenn effektiv eine Verurteilung stattgefunden hat. Mit der Änderung des Bundesgerichtsgesetzes im Jahr 2022 kann eine Revision nun aber auch dann verlangt werden, wenn die Schweiz die Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt hat und es zu einer gütlichen Einigung mit der Streitpartei gekommen ist.

Neben der Wiedergutmachung für die beschwerdeführende Partei verlangt der EGMR in manchen Fällen allgemeinere Massnahmen, welche der Verhütung von zukünftigen und vergleichbaren Menschenrechtsverletzungen dienen sollen. Dazu gehören nebst der Publikation des Urteils etwa auch Gesetzesänderungen oder eine Anpassung der Rechtsprechung auf nationaler Ebene, aber auch administrative Massnahmen wie etwa die Verbesserung von Haftbedingungen.

Monitoring-Verfahren zur Umsetzung der EGMR Urteile

Stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Menschenrechtsverletzung fest, kann der betroffene Mitgliedstaat das Urteil innerhalb von drei Monaten  an die Grosse Kammer weiterziehen; nach dieser Frist erwächst das Urteil in Rechtskraft. In diesem Fall wird das Urteil für die nächste Sitzung des zuständigen Ministerkomitees des Europarates traktandiert. Gleichzeitig ist der betreffende Staat verpflichtet, die von ihm konkret vorgesehenen Massnahmen zur Umsetzung des Urteils spätestens sechs Monate nach Rechtskraft des Urteils in Form eines «Aktionsplans» («action plan») dem Ministerkomitee mitzuteilen. Sind die angegebenen Massnahmen umgesetzt, so übermittelt der Vertragsstaat dem Ministerkomitee zudem einen «Aktionsbericht» («action report»). Ist das Komitee mit dem Bericht zufrieden, schliesst es den Fall mit einem formellen Entscheid («final resolution») ab. Ist die Umsetzung unzulänglich, wird der Aktionsplan mittels einer «interim-resolution» verworfen und Massnahmen mit Fristen zu deren Umsetzung sowie Entschädigungen verabschiedet.

Falls kein Aktionsplan eingereicht wird oder die Umsetzung weiterhin unzureichend erscheint, kann das Ministerkomitee gemäss Artikel 46, Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention mit einer Zweidrittelmehrheit entscheiden, ob der Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurückgewiesen wird. Ist dies der Fall, so muss der Gerichtshof entscheiden, ob der Vertragsstaat sein Urteil umgesetzt hat oder nicht. Wenn nicht, muss das Ministerkomitee weitere Schritte unternehmen, um den Vertragsstaat zur Umsetzung zu animieren. Wenn sich der betreffende Staat weiterhin widersetzt, kann ihm letztlich mit dem Ausschluss aus dem Europarat gedroht werden. Die Informationen des Ministerkomitees sind grundsätzlich öffentlich zugänglich. Soweit nicht besondere Interessen dagegensprechen, können Anwält*innen, Interessengruppen oder nationale Parlamente die Kooperation der Staaten bei der Umsetzung der EGMR-Urteile somit nachverfolgen. Während der Umsetzungsphase haben die beschwerdeführenden Organisationen der Zivilgesellschaft sowie nationale Menschenrechtsinstitutionen zudem die Möglichkeit, dem Ministerkomitee kritische Stellungnahmen zur Art und Weise der Umsetzung des Urteils zu unterbreiten.

Hängige und abgeschlossene Urteile

Im Jahre 2010 wurde mit der Interlaken-Konferenz ein langfristiger Reformprozess eingeleitet, welcher den Zweck hat, die Überlastung des EGMR abzubauen und den Kooperationswillen der Mitgliedstaaten des Europarats bei der Umsetzung der EGMR-Urteile zu stärken. Im Jahr 2011 zählte der EGMR 160'000 hängige Fälle, deren Anzahl im Rahmen des Reformprozesses bis ins Jahr 2021 auf 65'000 reduziert werden konnte. Im Jahr 2012 existierten zudem rund 11‘100 Fälle, bei welchen ein gesprochenes Urteil vom verurteilten Mitgliedsstaat noch nicht abschliessend umgesetzt war. Die strukturellen und politischen Gründe dafür, dass die Staaten ihren Pflichten zur Umsetzung von EGMR Urteilen nicht nachkommen, sind vielfältig und werden vom Ministerkomitee in seinen Jahresberichten laufend analysiert.

Verstärktes und normales Verfahren

Um die Überwachung der Umsetzung der EGMR-Urteile besser handhaben zu können, musste das Ministerkomitee Prioritäten setzen.  Aus diesem Grund kategorisiert es die Urteile des Gerichtshofes im sogenannten «twin-track-Verfahren»: In die Kategorie «standard procedure» gelangen Fälle, bei welchen erwartet wird, dass der verurteilte Staat eine Entschädigung bezahlt und/oder die erforderlichen allgemeinen Massnahmen zur Verhinderung künftiger Menschenrechtsverletzungen trifft. In die Rubrik «enhanced procedure» Fallen hingegen die Urteile, bei welchen dringende individuelle Massnahmen erforderlich sind, hohe Entschädigungen gesprochen wurden oder bei welchen gravierende systemische Probleme betroffen sind.

Leiturteile und wiederkehrende Fälle

Um seine Arbeitslast zu verringern, unterscheidet der Gerichtshof zwischen wiederkehrenden Fällen und Leiturteilen. Wenn aus einem Staat eine ganze Anzahl immer ähnlich gelagerter Beschwerden an den EGMR gelangen, welche offensichtlich mit einem strukturellen Problem zusammenhängen («clone-cases»), so wählt der EGMR typische Beschwerden aus, um anhand von sogenannten «Piloturteilen» eine grössere Anzahl dergleichartigen Fälle abzudecken. Die Umsetzung dieser Leiturteile (leading cases) hat für das Ministerkomitee bei der Überwachung der Umsetzung vor den ähnlich gelagerten Fällen (repetitive cases) Vorrang. Während der Behandlung des Pilotfalles stellt der Gerichtshof die Behandlung der bereits hängigen Klonfälle in der Regel zurück. Obwohl für die Überwachung der Umsetzung von EGMR-Urteilen primär das Ministerkomitee zuständig ist, setzt immer mehr auch der Gerichtshof selbst die konkreten Massnahmen in seinen Urteilen fest, welche die Staaten umzusetzen haben.

«Impact»-Fälle

Schliesslich priorisiert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit März 2021 sogenannte «Impact-cases»; Fälle, die für die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes von besonderer Bedeutung sind und neue Fragen zur Auslegung und Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention aufwerfen. Die Ermittlung dieser Fälle erfolgt auf der Grundlage flexibler Leitkriterien sowie einer Liste von Beispielen. Die Kriterien wurden wie folgt definiert: Die Entscheidung des Falles könnte zu einer Änderung oder Klärung internationaler oder nationaler Praktiken oder Rechtsvorschriften führen; der Fall berührt moralische oder soziale Fragen; der Fall befasst sich mit einer neu aufkommenden oder anderweitig bedeutenden Menschenrechtsfrage. Ist eines dieser Kriterien erfüllt, kann der EGMR zudem berücksichtigen, ob der Fall in den inländischen Medien ein grosses Echo gefunden hat und/oder politisch sensibel ist.

Appelle der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Obschon die parlamentarische Versammlung des Europarats bei der Überwachung der Umsetzung von EGMR-Urteilen ursprünglich keine Rolle spielte, ist ihre Beteiligung hierbei in den letzten Jahren gestiegen und inzwischen vom Ministerkomitee anerkannt. Die Parlamentarische Versammlung zeigt sich seit 2006 in diversen Resolutionen besorgt über die anhaltend vielfältigen Schwierigkeiten bei der Umsetzung von sehr vielen EGMR-Urteilen, so zuletzt anhand einer Resolution im Jahr 2017.

In einem Bericht vom Juli 2020 kommt die parlamentarische Versammlung des Europarates zum Schluss, dass bei der Umsetzung der EGMR-Urteile durch bestimmte Staaten seit Beginn der «Interlaken reform» entscheidende Fortschritte verzeichnet werden konnten. Doch obwohl die Zahl der hängigen Fälle in den letzten Jahren zehn um die Hälfte zurückgegangen ist – das Ministerkomitee überwachte im Juni 2010 die Umsetzung von rund 10'000 Fällen; Ende 2019 waren es noch 5'231 – warten viele Urteile, welche strukturelle Probleme betreffen, seit mehr als zehn Jahren auf ihre Umsetzung. Die Parlamentarische Versammlung äussert sich auch im Jahr 2020 zutiefst besorgt über dies Zahl und die zugrundeliegenden strukturellen Probleme in den entsprechenden Ländern: so etwa anhaltende Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen in der Gesellschaft, unzureichende Verwaltung auf nationaler Ebene, Mangel an notwendigen Ressourcen oder politischem Willen oder gar offene Ablehnung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Die meisten nicht umgesetzten EGMR-Urteile weisen die Russische Föderation (am 16. März 2022 aus dem Europarat ausgeschlossen), die Türkei, die Ukraine, Rumänien, Ungarn, Italien, Griechenland, die Republik Moldau, Aserbaidschan und Bulgarien auf. Diese Staaten wurden bereits in mehreren Resolutionen der parlamentarischen Versammlung namentlich wegen ihrer Passivität in der Umsetzung von EGMR-Urteilen gerügt. Daneben gibt es thematische Problemfelder, im Rahmen welcher sich bestimmte Staaten gegen die Umsetzung von Urteilen sperren. So etwa die langjährige Weigerung Grossbritanniens, den Strafgefangenen politische Rechte zuzugestehen (vgl. Factsheet Prisoners right to vote).

Strukturelle und ideologische Gründe für die mangelnde Umsetzung

In vielen Ländern führen strukturelle Schwachstellen im nationalen Rechtssystem und in gewissen institutionellen Bereichen wie den Justizverfahren oder dem Strafvollzug zu einer blockierten oder mangelhaften Umsetzung von EGMR-Entscheiden. Auch inländische Gerichte spielen in diesem Zusammenhang immer mehr eine tragende Rolle, indem sie die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verweigern, oder diese gar für verfassungswidrig erklären.

Neben diesen strukturell bedingten Schwierigkeiten fällt zunehmend ein ideologischer Faktor ins Gewicht: In diversen Ländern tendieren nationalistische politische Führungsschichten dazu, mit der staatlichen Souveränität gegen die Rechtskraft von EGMR-Urteilen zu argumentieren. So schüren populistische Politiker*innen bewusst Abwehrreflexe und damit einen Widerwillen, die Strassburger Rechtsprechung zu anerkennen. Mit dieser Politik steht  die Zukunft der Menschenrechte in Europa auf dem Spiel.

So wurde in Russland im Jahr 2015 ein neues Gesetz verabschiedet, welches dem russischen Verfassungsgericht ermöglicht, Entscheide von internationalen Gerichten als «unumsetzbar» einzustufen, falls diese mit der russischen Verfassung in Konflikt geraten. Diese Unterordnung der EMRK unter die Verfassung wurde im Jahre 2016 gegenüber dem EGMR-Entscheid Anchugov und Gladkov v. Russland vom russischen Verfassungsgericht angewandt. Sodann erklärte das polnische Verfassungsgericht im Jahr 2021, dass es kein Gericht im Sinne von Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention sei und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte damit keine Befugnis habe, die Unabhängigkeit der polnischen Verfassungsrichter*innen zu überprüfen. Grundlage der Unabhängigkeit würden die polnische Verfassung und polnische Gesetze bilden.

In Grossbritannien spiegelt sich ein nationalistisch motivierter Widerwille gegen die Rechtsprechung aus Strassburg in seit 2010 wiederholten Äusserungen von konservativen Politiker*innen, den Human Rights Act 1998 und damit die Verankerung der EMRK im nationalen Recht durch die «British Bill of Rights» zu ersetzen. Die Conservative Party hat die Aktualisierung der Menschenrechte in ihrem Wahlprogramm von 2019 verankert und besonders der Justizminister Dominic Raab setzt sich für die «British Bill of Rights» ein, wofür er von der Zivilgesellschaft stark kritisiert wird. Seit vielen Jahren weigert sich Grossbritannien ausserdem beharrlich, wiederholte Urteile des EGMR zum Stimmrecht für Strafgefangene umzusetzen.

Auch die Schweizerische Volkspartei (SVP) unterstützt den politischen Trend, sich gegen die Autorität des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und somit gegen die international gültigen Menschenrechte aufzulehnen. So verlangte sie etwa mit der Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» («Selbstbestimmungsinitiative») den Vorrang des schweizerischen Verfassungsrechts gegenüber dem Völkerrecht und zudem die Kündigung von Völkerrechtsverträgen, welche nicht im Einklang mit nationalem Recht stehen. Dieser Angriff auf die Geltung der Urteile aus Strassburg war für den Europarat deshalb besonders gefährlich, weil die Schweiz die EGMR-Urteile – im Vergleich zu anderen Staaten – in der Regel vorbildlich umsetzt. Ein Abwendung davon würde ein gefährliches Signal an die anderen Mitgliedsstaaten senden und den Menschenrechtsschutz in Europa nachhaltig gefährden.

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