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Neue EGMR-Verfahren

12.10.2011

Auf die in den letzten Jahren stark gestiegene Arbeitslast des Gerichtshofs wurde bereits hingewiesen. Neben den institutionellen Reformen durch die Zusatzprotokolle 11 und 14 versucht der Gerichtshof, durch eine Anpassung der Rechtsprechung der stetig ansteigenden Beschwerdeflut Herr zu werden. Diese Reaktion des Gerichtshofs ist verständlich. Eine Steigerung der Effizienz ist jedoch nur unter Abstrichen bei der Qualität der Urteile und der Einzelfallgerechtigkeit zu haben. Insbesondere drei Verfahrensarten lassen sich unterscheiden, die zum Teil bereits länger vorgesehen sind, zahlenmässig jedoch erst in jüngerer Zeit ins Gewicht fallen.

Piloturteil-Verfahren (Pilot Judgment procedure / Procédure de l’Arrêt Pilote)

Grundsatz der EMRK ist die Subsidiarität, also die Verpflichtung der Staaten, die EMRK auf ihrem Staatsgebiet zu verwirklichen. Nur in Ausnahmefällen, quasi bei einem Systemversagen im Einzelfall, soll der Gerichtshof in Strassburg korrigierend eingreifen. Dazu ist das Individualbeschwerdeverfahren vorgesehen. Nun kann es aber sein, dass durch einen Fehler in der Rechtsordnung eines Staates gleich hunderte oder sogar tausende «Individual»-Beschwerden beim Gerichtshof eingereicht werden, die alle das gleiche Problem zum Gegenstand haben. Für diese Fälle hat sich die Bezeichnung «clone cases» eingebürgert. Der Gerichtshof prüft in einer solchen Situation einen geeigneten Fall und verabschiedet ein «Piloturteil», welches dann schablonenartig der Lösung der übrigen pendenten Klonfälle zugrunde gelegt wird. In seinem Piloturteil legt der Gerichtshof zudem fest, welche generellen Massnahmen der Staat zur Verhinderung weiterer Klonfälle zu tätigen hat (obwohl er eigentlich nur Einzelfälle beurteilen darf), und in welchem Umfang sich die Entschädigungszahlungen zu bewegen haben. Während der Behandlung des Pilotfalles stellt der Gerichtshof die Behandlung der bereits hängigen Klonfälle i.d.R. zurück. Durch diesen proaktiven Ansatz will der Gerichtshof den Staaten aufzeigen, wie sie die EMRK-Rechte einhalten können, und dadurch gleichzeitig seine Arbeitslast verringern.

Ein anschauliches Beispiel liefert das erste Piloturteil überhaupt: der Fall Broniowski gegen Polen. Jerzy Broniowskys Grossmutter besass Land in dem Teil Polens, der nach dem 2. Weltkrieg im Zuge der Westverschiebung verloren ging. Die polnische Rechtsordnung sah einen Kompensationsanspruch an die Geschädigten und deren Nachkommen vor. Die gesetzliche Ausgestaltung dieser Kompensationen genügte aber den Anforderungen des Eigentumsschutzes von Protokoll Nr. 1 zur EMRK nicht. Dies hatte zur Folge, dass neben Jerzy Broniowsky schätzungsweise 80‘000 weiteren Personen der Beschwerdeweg nach Strassburg offenstand. Das Piloturteil ist formal zweigeteilt: in einem ersten Urteil vom 22. Juni 2004 rügte der Gerichtshof eine Verletzung des Eigentumsschutzes (Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls) und zeigte in generellen Worten auf, mit welchen Massnahmen diese Art von Verletzungen vermieden werden kann. In einem zweiten Urteil vom 28. September 2005 nahm er die vom polnischen Parlament getroffenen Regelungen in der «Akte vom Juli 2005» zur Kenntnis und genehmigte auf dieser Grundlage eine gütliche Einigung von Jerzy Broniowsky mit dem polnischen Staat. Beide Urteile befassen sich also inhaltlich nicht nur mit dem Einzelfall, sondern auch mit der Lösung der Problematik als solcher. Im Entscheid Wolkenberg und andere gegen Polen (Beschwerde-Nr. 50003/99) vom 4. Dezember 2007 hat der Gerichtshof entschieden, dass er keine Beschwerden in dieser Angelegenheit mehr entgegennehme, weil das Problem an sich ja gelöst sei. Inzwischen ist das Piloturteil-Verfahren in den «Rules of Court» (englisch, pdf 84 S.) als Rule 64 kodifiziert.

Gütliche Einigung (Friendly Settlement / Règlement Amiable)

Artikel 39 der EMKR besagt, dass die Streitparteien jederzeit während des Verfahrens eine gütliche Einigung schliessen können. Die staatliche Seite erklärt sich normalerweise zu einer Kompensationszahlung sowie (selten) zu einer formellen Entschuldigung bereit, während der Beschwerdeführer formell auf weitere Schritte in dieser Sache verzichtet. Unter dem alten Gerichtshof wurde bei einer gütlichen Einigung aus einem grossen Strauss an Möglichkeiten eine geeignete Massnahme zur Wiedergutmachung gesucht. Unter dem neuen Gerichtshof hat sich diese reichhaltige Praxis zusehends verschmälert und in ein Schnellverfahren verwandelt, in dem der Geschädigte eine katalogmässig vordefinierte Entschädigung zugesprochen bekommt, andere Möglichkeiten der Wiedergutmachung aber kaum mehr erwogen werden. Insbesondere bei Klonfällen werden die Beschwerdeführer durch die Kanzlei des Gerichthofs auf die Möglichkeit einer gütlichen Einigung hingewiesen. Das Urteil ist in solchen Fällen standardisiert und umfasst selten mehr als zwei bis drei Seiten. Weigert sich ein Beschwerdeführer, eine solche vorgefertigte gütliche «Einigung» zu akzeptieren, läuft er Gefahr, dass der Staat eine einseitige Erklärung abgibt.

Einseitige Erklärungen (Unilateral Declarations / Déclarations Unilatérales)

Die EMRK sieht in Artikel 37 vor, dass der Gerichtshof eine Beschwerde in seinem Register streichen kann, wenn ihre weitere Prüfung «nicht gerechtfertigt» ist. Auf Basis dieser Bestimmung akzeptiert der Gerichtshof seit 2001 «einseitige Erklärungen» der Staaten. In einer solchen Erklärung gibt der Staat eine Verletzung der EMRK zu und schlägt eine Entschädigungszahlung vor. Entspricht diese Zahlung dem Betrag, der in ähnlichen Fällen vom Gerichtshof festgesetzt worden ist, so akzeptiert der Gerichtshof diese Erklärung und streicht die Beschwerde aus seinem Register. Damit haben Gerichtshof und Staat ein Druckmittel, um renitenten Beschwerdeführern eine gütliche Einigung aufzuzwingen. Insbesondere in den letzten Jahren wurden einseitige Erklärungen immer wichtiger: Akzeptierte der Gerichtshof 2007 47 einseitige Erklärungen und 78 im Jahr 2008, verdoppelte sich diese Zahl auf 142 im Folgejahr und stieg weiter auf 193 im Jahr 2010.

Ausblick

Neben diesen neuen Verfahrensarten zur schnelleren Erledigung von Beschwerden werden zunehmend Klonfälle nicht mehr einzeln entschieden, sondern summarisch in einem Massen-Verfahren abgehandelt, in dem die einzelnen Beschwerdeführer nur mehr auf einer Liste der Entschädigungszahlungen genannt werden. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Bemühungen des Gerichtshofs zur Steigerung seiner Effizienz ausdrücklich. Der Gerichtshof seinerseits möchte sich vermehrt auf wichtige Entscheide konzentrieren und behandelt Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen prioritär.

Solange sich die Europaratsstaaten nicht entschliessen, die Ressourcen des Gerichtshofs massiv aufzustocken, bleibt jede institutionelle Reform Makulatur. Der EGMR wird mit wichtigen Leitentscheiden weiterhin der europäische Leuchtturm des Menschenrechtsschutzes bleiben. Die grosse Masse der Beschwerdeführer wird jedoch mit einer blossen finanziellen Entschädigung abgespeist, die ihre Erwartungen an «Gerechtigkeit aus Strassburg» enttäuscht. Damit wird ein effizienter Menschenrechtsschutz auf staatlicher Ebene wichtiger; eine Rückbesinnung auf das das Subsidiaritätskonzept der EMRK zeichnet sich ab.