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Das Wichtigste in Kürze

13.07.2023

In der Schweiz gibt es auf nationaler Ebene aktuell keine Rechtsgrundlage für einen Elternurlaub. Demgegenüber häufen sich die Initiativen für die Einführung einer solchen Maßnahme auf kantonaler Ebene. Auch wenn sich die Vorschläge jeweils unterscheiden und in verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsprozesses befinden, fordern alle die Einführung eines Elternurlaubs als Ergänzung oder Ersatz für den bestehenden Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub. Ziel ist die Gleichstellung von Männern und Frauen.

humanrights.ch fasst einerseits den politischen Kontext zusammen, in dem die Initiativen eingebettet sind. Andererseits werden die Elemente, die sie enthalten sowie die betroffenen Rechte und Freiheiten zusammengetragen. Die wichtigsten Ereignisse und Daten zu diesen Initiativen werden in einer Chronologie aufgelistet. Warum sich humanrights.ch für Elternurlaub einsetzt, erfahren Sie im Argumentarium.

Fehlende Rechtsgrundlage für einen Elternurlaub in der Schweiz

Obwohl in der Schweiz 2005 ein bezahlter Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen eingeführt wurde und 2021 ein Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen in Kraft trat, ist heute im Schweizer Bundesrecht kein Elternurlaub vorgesehen. Einige Branchen und Unternehmen gewähren großzügigere Urlaube, doch die Dauer des jeweiligen Urlaubs und die Höhe der Vergütungen variieren von Branche zu Branche und von Unternehmen zu Unternehmen.

Bisher haben sich sowohl der National- als auch der Ständerat systematisch gegen die zahlreichen parlamentarischen Vorstösse für die Einführung eines Elternurlaubs ausgesprochen. Auch der Bundesrat hat sich stets dagegengestellt und es vorgezogen, den Ausbau der familien- und schulergänzenden Tagesbetreuungsangebote zu fördern. Versuche, bei den Beratungen über die Umsetzung der Volksinitiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub - zugunsten der ganzen Familie» den geplanten Vaterschaftsurlaub durch einen Elternurlaub zu ersetzen, scheiterten ebenso.

Da die Kantone nicht befugt sind, in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen einen Urlaub vorzuschreiben, sind sie heute mit einer Rechtsunsicherheit konfrontiert; Kantone also, die in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig geworden sind, müssen damit rechnen, dass Arbeitgeber vor Gericht gegen sie klagen könnten. Außerdem können Angestellte nur mit Zustimmung ihres Arbeitgebers oder ihrer Arbeitgeberin einen solchen Urlaub in Anspruch nehmen, was ein hohes Risiko für Ungleichheiten unter Eltern birgt.

Die Zivilgesellschaft und die Kantone mobilisieren sich

Weil sie nicht überzeugt sind vom zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub, der im September 2020 von der Stimmbevölkerung weitgehend angenommen wurde, schlossen sich betroffene Kreise, Vertreterinnen und Vertreter verschiedener politischer Parteien sowie die ausserparlamentarischen Kommissionen für Frauen- und Familienfragen EKF und EKFF zusammen; sie wollen dem Elternurlaub in der Schweiz zum Durchbruch verhelfen. Es bildete sich das Initiativkomitee «Elternzeit jetzt!», mit dem Ziel, eine eidgenössische Initiative für eine Elternzeit von mindestens 14 Wochen zu lancieren.

Das Projekt für eine eidgenössische Initiative kam aber nicht zustande, weil man sich nicht auf ein gemeinsames Modell einigen konnte. Dies, obwohl der Wille zur Einführung eines Elternurlaubs in der ganzen Schweiz vorhanden ist und in verschiedenen Kantonen zahlreiche Initiativen entstanden sind. Derzeit ist der Kanton Tessin der einzige Kanton, dessen Stimmvolk im Januar 2021 einem (zweiwöchigen) Elternurlaub zugestimmt hat. Eine Standesinitiative aus dem Jura, die den Bundesrat aufforderte, die kantonalen Behörden zu ermächtigen, einen Elternurlaub zu legiferieren, wurde von der Bundesversammlung 2021 abgelehnt.

Verschiedene Modelle liegen auf dem Tisch

Es wurden mehrere Entwürfe für einen Urlaub mit jeweils unterschiedlichen Modalitäten ausgearbeitet. Die Varianten unterscheiden sich sowohl in der Dauer als auch in der Flexibilität der Verteilung, im expliziten oder nicht expliziten Einbezug von nicht-traditionellen Familien oder Adoptivfamilien in den Initiativtext und in der Frage, ob sie bestehende Maßnahmen für Vaterschafts- und Mutterschaftsurlaub ersetzen oder ergänzen sollten.

Ein Vorschlag für einen Urlaub von 32 Wochen, davon 16 Wochen für jeden Elternteil, wurde von der Vereinigung, die das Projekt der eidgenössischen Volksinitiative lanciert hatte, vorgelegt. Dieser Vorschlag beinhaltet zusätzlich ein weniger ehrgeiziges Modell mit 14 Wochen; so soll die Schaffung eines parteiunabhängigen Bündnisses erleichtert und eine breite Unterstützung möglich werden.

Die Eidgenössische Kommission für Familienfragen schlug 2018 ein Modell mit 38 Wochen zu 80% bezahltem Urlaub vor; es beinhaltet einen Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen, insgesamt 8 Wochen, die dem Vater vorbehalten sein sollen (von denen nur 2 zur gleichen Zeit wie die Mutter genommen werden können) sowie 16 Wochen, die unter den Elternteilen aufgeteilt und nicht gleichzeitig genommen werden können. Dieses Modell sieht eine Teilzeitarbeitsmöglichkeit für beide Elternteile vor, für die Mutter ab der neunten Woche nach der Geburt.

Die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen plädiert für einen Elternurlaub von mindestens 24 Wochen innerhalb von 12 Monaten mit der Möglichkeit von Teilzeitarbeit und einem Mindestanteil für jeden Elternteil. Ein wesentliches Merkmal dieses Entwurfs ist, dass der Anspruch auf Elternurlaub erst nach dem 14-wöchigen Mutterschaftsurlaub der Mütter und für Väter erst nach einem eventuellen Vaterschaftsurlaub unmittelbar nach der Geburt beginnt.

Auch bei den kantonalen Initiativen gibt es Unterschiede: Im Tessin können die zehn Tage Elternurlaub zusätzlich zu den 14 Wochen des Mutterschaftsurlaubs oder den zwei Wochen des Vaterschaftsurlaubs, die auf nationaler Ebene gelten, bezogen werden. Die Berner Initiative sieht insgesamt 24 Wochen vor, von denen jedem Elternteil 6 Wochen vorbehalten sind und die bis zum Eintritt des Kindes in den Kindergarten genommen werden können. In Genf will eine Initiative ein Minimum von 24 Wochen einführen, d. h. 16 Wochen bei Mutterschaft oder Adoption und 8 Wochen für den anderen Elternteil, wovon 2 Wochen flexibel übertragbar sind. Die ehrgeizigeren Gesetzesentwürfe der Kantone Neuenburg und Waadt sehen 34 Wochen kantonalen Elternurlaub vor, wodurch sich der Urlaub für die Mutter von 14 auf 16 Wochen und für den anderen Elternteil von 2 auf 14 Wochen erhöht. Dabei können die verbleibenden 4 Wochen frei aufgeteilt werden. Die 2022 abgelehnte Zürcher Initiative verlangte hingegen 18 Wochen für jeden Elternteil.

Elternurlaub in den meisten europäischen Ländern bereits heute Realität

Die Schweiz ist das einzige europäische Land, das keinen Elternurlaub hat. In einer Studie von UNICEF zum Elternurlaub in den OECD- und EU-Ländern (2021) belegt die Schweiz in einem Ländervergleich den vorletzten Platz, den 40. von 41. Ihre Nachbarn haben den Elternurlaub zum Teil schon lange eingeführt. Norwegen zum Beispiel führte ihn 1978 als Maßnahme zur Unterstützung von Frauenkarrieren ein. Seit 2010 verpflichtet eine EU-Richtlinie über die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben der Eltern alle Mitgliedsländer, eine Mindestdauer des Elternurlaubs von vier Monaten zu gewährleisten (Art. 21).

Der Elternurlaub steht an der Schnittstelle mehrerer Rechtsnormen des internationalen Menschenrechts und der Schweizer Bundesverfassung:

  • Mann und Frau sind gleichberechtigt; Bundesverfassung (BV Art. 8)
  • Recht auf Familienleben; (BV Art. 41; Art. 116).
  • UN-Übereinkommmen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung CEDAW
  • UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention Art. 6 Abs. 2; Art. 18; Art. 28; Art. 29)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist der Ansicht, dass der Elternurlaub in den Anwendungsbereich von Artikel 8 EMRK fällt. Dieser Artikel garantiert das Recht auf Achtung des Familienlebens, obwohl er keine Verpflichtung festhält für ein Elternurlaubsgeld. Auf Ebene des Europarats ermutigen zwei Empfehlungen des Ministerkomitees (R (96) 5; Rec (2007) 17) und eine Resolution (1939 (2013)) der Parlamentarischen Versammlung die Einführung eines Elternurlaubs. Darüber hinaus verpflichtet die revidierte Europäische Sozialcharta von 1966, die Vertragsparteien dazu, jedem Elternteil die Möglichkeit zu geben, Elternurlaub zu beziehen, auch wenn die Modalitäten des Elternurlaubs nicht festgelegt sind. Diese Charta wurde von der Schweiz jedoch nicht ratifiziert.

Wann kommt der Elternurlaub auch in der Schweiz?

Die im Familienbereich tätigen Organisationen der Zivilgesellschaft befürworten zwar grundsätzlich die Einführung eines Elternurlaubs, ihre Motivationen und Forderungen aber unterscheiden sich entsprechend ihres jeweiligen Tätigkeitsbereiches.

Die Väterverbände möchten einen Urlaub, der eine echte Einbindung ihrer Vaterrolle in die Familie ermöglicht, und zwar über den kürzlich beschlossenen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub hinaus. Mütterverbände wollen unter anderem den Mutterschaftsurlaub schützen; sie möchten, dass der Elternurlaub zusätzlich zum Mutterschaftsurlaub gewährt wird. Eine solche Maßnahme soll dem Schutz der Gesundheit von Müttern dienen; sie möchten verhindern, dass der Elternurlaub den Mutterschaftsurlaub ersetzt. Die Verbände der Regenbogen- und Adoptivfamilien setzen sich dafür ein, dass ein Gesetz die Vielfalt der Familienmodelle gleichberechtigt abbildet. Organisationen aus dem Bereich der Kinderbetreuung betrachten den Elternurlaub als einen Schritt nach vorne für die Einbeziehung beider Elternteile und die Entwicklung des Kindes. Feministische Organisationen schließlich betonen, dass die geschlechtsspezifische Dimension von Ungleichheiten in einem Gesetz berücksichtigt werden muss. Sie sind der Ansicht, die rechtliche Gleichstellung reiche nicht aus, wenn sie nicht mit Maßnahmen zur Herstellung der faktischen Gleichstellung begleitet wird.

Es gibt mehrere Signale, die auf ein wachsendes Interesse an einem Elternurlaub hindeuten. Im September 2021 wurde auf Bundesebene ein Postulat der Kommission für soziale Sicherheit́ und öffentliche Gesundheit angenommen. Es beauftragt den Bundesrat, eine umfassende wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse vorzulegen. Schließlich zeigt die Annahme eines zweiwöchigen bezahlten Adoptionsurlaubs durch die Bundesversammlung im Jahr 2021, den sich beide Eltern teilen können, dass sich der Wind in der Familienpolitik zu drehen beginnt.

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