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Argumentarium

01.06.2023

In der Schweiz gibt es auf nationaler Ebene aktuell keine Rechtsgrundlage für einen Elternurlaub. Demgegenüber häufen sich die Initiativen für die Einführung einer solchen Maßnahme auf kantonaler Ebene. Auch wenn sich die Vorschläge jeweils unterscheiden und in verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsprozesses befinden, fordern alle die Einführung eines Elternurlaubs als Ergänzung oder Ersatz für den bestehenden Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub. Ziel ist die Gleichstellung von Männern und Frauen.

humanrights.ch bietet im Folgenden einen chronologischen Überblick über die wichtigsten Ereignisse und Daten auf dem Weg zur Einführung eines Elternurlaubs. Die wichtigsten Fakten und Hintergründe zum Verständnis dieser Initiative sind im Kapitel «Das Wichtigste in Kürze» zusammengefasst. Die wichtigsten Ereignisse und Daten in der langen Geschichte der Initiative werden in einer regelmäßig aktualisierten Chronologie aufgelistet.

JA zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der Familie

In der Schweiz leisten Frauen 50% mehr Haus- und Familienarbeit als Männer. Fast drei von fünf erwerbstätigen Frauen arbeiten Teilzeit. Dies begründen 30% mit der Kinderbetreuung. Darüber hinaus befördert die Geburt des ersten Kindes laut einer aktuellen Studie der Universität Lausanne die Ungleichheit der Geschlechter in der Familienorganisation. Für die Mütter handelt es sich um eine Unterbrechung ihrer beruflichen Laufbahn. Diese ist von Schwangerschaft und Mutterschaftsurlaub bestimmt. Darauf folgt häufig eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit in Teilzeit, um so Familie und Beruf verbinden zu können. Das derzeitige Urlaubssystem zementiert die geschlechtsspezifische Rollen- und Aufgabenverteilung in der Partnerschaft. Während Mütter über 14 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub verfügen, reicht der 2021 eingeführte zweiwöchige Vaterschaftsurlaub längst nicht aus, um Vätern die Möglichkeit zu geben, sich aktiv an der Kinderbetreuung zu beteiligen und sich dauerhaft darin zu engagieren.

Die Schweiz hat das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau CEDAW ratifiziert; die Präambel hält fest, dass «die Fortpflanzung kein Grund zur Diskriminierung sein darf» und dass sich die «traditionelle Rolle des Mannes in Familie und Gesellschaft ebenso wie die der Frau» weiterentwickeln muss, damit eine Gleichberechtigung möglich wird. Die Behörden müssen daher Maßnahmen ergreifen, um «die gemeinsame Verantwortung von Männern und Frauen für die Erziehung ihrer Kinder anzuerkennen» (Art. 5). Darüber hinaus muss das Schweizer Gesetz gemäss Bundesverfassung für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern sorgen, insbesondere im Bereich der Familie (BV Art. 8).

Der Elternurlaub soll also dazu beitragen, dass die Ungleichheiten in der Familie beseitigt werden. Die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen kommt zum Schluss, dass ein bezahlter Elternurlaub das Engagement der Väter für die Familienarbeit stärkt und zwar umso mehr, desto länger der Urlaub dauert. In Schweden, Island und Norwegen, drei Länder, die seit langem über ein Elternurlaub-Modell verfügen, wird den Vätern ein individuelles Recht auf Urlaub gewährt; über 80 % der Väter nehmen den Elternurlaub in Anspruch. Damit Väter den Urlaub tatsächlich in Anspruch nehmen und er nicht nur von Frauen genutzt wird - was die Ungleichheiten verstärkt - ,sollte ein Teil des Urlaubs als nicht übertragbares Recht organisiert werden, d. h. mit einem Mindestanteil für jeden Elternteil.

JA zur Förderung des Familienlebens

Der Rückstand der Schweiz in der Familienpolitik ist im internationalen Vergleich
augenfällig. In einer Studie von UNICEF zum Elternurlaub in den OECD- und EU-Ländern (2021) belegt die Schweiz in einem Ländervergleich den vorletzten Platz, nämlich den 40. von 41. Denn die EU-Richtlinie 2019/1158 verpflichtet alle Mitgliedsländer auf eine Mindestdauer des Elternurlaubs von vier Monaten.

Auch die Schweizer Bundesverfassung würde den Bund verpflichten, Familien zu fördern und zu schützen (BV Art. 41 c) und auf ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen (BV Art. 116 Abs. 1). Trotzdem spricht sich der Bundesrat noch immer konsequent gegen die Einführung einer solchen Rechtsgrundlage auf nationaler Ebene aus. Gleichzeitig mehren sich die Initiativen zur Einführung von Elternurlaub auf kantonaler Ebene.

Die derzeitige Situation ist alles andere als zufriedenstellend. Der kürzlich eingeführte bezahlte Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen wird von mehreren parlamentarischen Kommissionen (EKFF, EKF) als ungenügend bewertet, zu kurz um den Vätern die Möglichkeit zu geben, sich wirklich auf die familiären Aufgaben, die sich aus der Geburt eines Kindes ergeben, einzulassen. Die Schweiz befindet sich heute auf dem Niveau der Mindestnorm für den Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen, die im Übereinkommen Nr. 183 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) festgelegt ist. Dieses Übereinkommen zielt aber lediglich auf den Schutz der Mutter nach der Entbindung. Darüber hinaus ist das derzeitige System besonders ungleich und uneinheitlich für nicht-traditionelle Familien (Adoptiv-, Ein-Eltern-, Regenbogenfamilien usw.). Allen Familien müssen die gleichen Rechte garantiert werden, unabhängig von ihrer Zusammensetzung oder der Art des Zugangs zur Elternschaft. Um beiden Elternteilen die Möglichkeit zu geben, die durch die Elternschaft erfolgten sozialen und organisatorischen Veränderungen im Familienleben auf lange Zeit zu bewältigen, ist ein langfristiger, inklusiver und flexibler Elternurlaub erforderlich.

Es geht hier nämlich um das Recht auf Achtung des Familienlebens. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist zwar der Ansicht, dass dieses in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 EMRK) verankerte Recht keine Verpflichtung beinhaltet, ein Elternurlaubsgeld vorzusehen; er sagt jedoch, dass der Staat mit dieser Maßnahme seine Achtung vor dem Familienleben zum Ausdruck bringen kann.

Darüber hinaus bemängelt der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinem Bericht, dass die Schweiz keine Fortschritte bei der Einführung eines gemeinsamen Elternurlaubs macht. Der Ausschuss schrieb dahingehend bereits im Jahr 2019 eine Empfehlung an die Schweizer Behörden. Schließlich empfiehlt auch das Ministerkomiteé des Europarats den Mitgliedstaaten einen Elternurlaub zu verankern.
Ein einheitlicher Rechtsrahmen würde es der Schweiz ermöglichen, allen Eltern die gleichen Rechte zu gewähren und so den Rückstand bei der Förderung des Familienlebens aufzuholen.

JA für eine Gleichstellung im Beruf

Derzeit verzichten Schweizer Frauen nach wie vor häufig auf eine berufliche Karriere oder setzen diese als Folge von Mutterschaft, Familien- und Erziehungsarbeit aus. Im Jahr 2020 verbrachten Mütter, die mit ihrem Partner und Kindern unter 15 Jahren zusammenlebten, nur 16,1 Stunden pro Woche mit Erwerbsarbeit. Gleichzeitig entfielen 52,3 Stunden auf Haus- und Familienarbeit, davon 22,3 Stunden auf die Kinderbetreuung. Väter hingegen widmeten 35,4 Stunden der Erwerbsarbeit und 31,7 Stunden der Haus- und Familienarbeit, wovon 14,7 Stunden auf die Kinderbetreuung entfielen. Eltern können zwar frei entscheiden, welches Familien- und Wirtschaftsmodell für sie am besten geeignet ist, doch die derzeitigen gesetzlichen und sozialen Rahmenbedingungen schränken diese Wahlfreiheit massiv ein. In der Schweiz ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen immer noch sehr kompliziert, insbesondere aufgrund der fehlenden Infrastruktur für die Kinderbetreuung, ihrer hohen Kosten - vorwiegend für Säuglinge -, der Besteuerung von verheirateten Paaren und des Fehlens eines Elternurlaubs. Diese Faktoren führen zusammen mit den Lohnungleichheiten dazu, dass es mehrheitlich die Frauen sind, die nach der Geburt eines Kindes in Teilzeit arbeiten oder ihre bezahlte Tätigkeit gar vorübergehend oder sogar endgültig aufgeben.

Diese Situation, die die Erwerbsarbeit von Männern gegenüber derjenigen von Frauen begünstigt, verstösst gegen die nationalen und internationalen Verpflichtungen der Schweiz. Erstens muss auf nationaler Ebene die tatsächliche und rechtliche Gleichstellung im Bereich der Arbeit gewährleistet werden (BV Art. 8 Abs. 3). Zweitens verpflichtet das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) die Schweiz, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um Diskriminierungen von Frauen im Bereich der Beschäftigung zu beseitigen und ihnen auf der Grundlage der Gleichberechtigung von Frauen und Männern die gleichen Rechte zu gewährleisten (Art. 11). So muss der Staat den Frauen das Recht auf Arbeit auch im Falle der Mutterschaft garantieren und insbesondere Eltern die Möglichkeit geben, familiäre Verpflichtungen mit beruflichen zu verbinden (Art. 11, Abs. 2). Darüber hinaus fordert auch die Internationale Arbeitsorganisation IAO die Mitgliedstaaten (die Schweiz war eine ihrer Gründungsstaaten) in ihrer Empfehlung 165 auf, einen Elternurlaub einzurichten (Abs. 22).

Die komplizierte Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erschwert die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt. Daraus resultiert eine hohe Teilzeitquote, was sich wiederum auf die tatsächlichen Chancen für Frauen in der Arbeitswelt auswirkt und sie eingeschränkt: Frauen mit demselben Bildungsniveau wie Männer arbeiten in Positionen mit weniger Verantwortung. Sie sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, und schliesslich beträgt der Unterschied bei den Durchschnittslöhnen von Frauen und Männern fast 20%. Laut Bundesamt für Statistik BFS würden 18% der teilzeitbeschäftigten Mütter gerne mehr arbeiten. Frauen mit Kindern müssen also die Möglichkeit haben, mit gleichen Chancen einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Ein Elternurlaub kann die Beschäftigungsquote von Frauen erhöhen und die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit befördern. Der Elternurlaub muss folglich mit zusätzlichen Maßnahmen für die familienergänzende Betreuung einhergehen.

JA zur Förderung der Rechte des Kindes

Die Schweiz hat das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes ratifiziert. In der Präambel wird die Familie als grundlegende Einheit der Gesellschaft und natürliche Umgebung für das Wachstum und das Wohlergehen aller definiert; insbesondere das Wohlbefinden des Kindes, das Schutz und Beistand erhalten sollte. So muss der Staat die Entwicklung des Kindes vollumfänglich sicherstellen (Art. 6 Abs. 1). Er muss die Eltern bei ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Erziehung und Entwicklung des Kindes unterstützen (Art. 18).

UNICEF empfiehlt einen Elternurlaub von mindestens sechs Monaten. Denn Elternzeit wirkt sich positiv auf die körperliche Gesundheit von Kindern unter einem Jahr aus. Zudem profitieren sozioökonomisch benachteiligte Familien und Familien mit niedrigem Bildungsniveau stärker von einer Elternzeit. Die Auswirkungen auf die Schulbildung sind zwar schwer zu messen, doch ein Eltern-Urlaub würde die Chancengleichheit in Bezug auf das Recht des Kindes auf Bildung fördern (Art. 28), die Entwicklung seiner Begabungen sowie seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten im vollen Umfang seines Potenzials (Art. 29) stärken. Elternurlaub als eine Maßnahme, die die Entwicklung des Kindes im Familienkokons fördert, erhöht die Chancen aller Kinder auf eine gesunde Entwicklung.